Abenteuer Ostblock

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Abenteuer Ostblock

Abenteuer Ostblock

Claudia Carl

Verdammt kalt in der alten Hütte. Und hier soll ich mich ausziehen?

Ach nein, das war ja gar nicht der Plan. Mein Mann mag einfach alte Gemäuer. Er interessiert sich für Bauweisen und Verputz, Mauerwerk und Ziegel, elektrische Leitungen und eingezogene Zwischendecken. Auch das Alter von Bauwerken findet er spannend, vor allem wenn sie „schon 100 Jahre alt“ sind. Da wir inzwischen fast 20 Jahre zusammen sind, müssten diverse Häuser inzwischen mindestens 120 Jahre alt sein, sie sind aber bei ihm immer noch 100 Jahre alt. Dann sind darin die Türklinken bemerkenswert oder die Türen überhaupt, die Dicke der Wände, die Fenster, oftmals Doppelfenster, die Gauben, die Dachziegeln, die Fliesen in alten Bädern, Parkettböden, Lampen.

Auch Baustellen findet er generell interessant, er fragt sich, wer da wohl was baut und welchen Schmarrn die Stadt wieder genehmigt hat. Auch Parkplätze und Autos finden seine Aufmerksamkeit. Es sind auf jeden Fall all diese praktischen Dinge, mit denen man ihn überhaupt vor die Tür locken kann. Was ihn überhaupt nicht reizt ist das Nichts. Ich etwa liebe das Nichts, je weniger desto besser. Einsame Feldwege, leere Seen, menschenleere Landschaften. In diesen gehe ich einfach so spazieren, ohne mich wirklich für sie zu interessieren. Ich genieße einfach den Effekt der Leere auf mein Gehirn, es wird gereinigt, ausgepustet, geleert.

Nun aber sind wir gemeinsam im Ostblock, hier in Görlitz hat mein Mann ein Haus geerbt, nach der Wende. In diesem konnte und kann er sich austoben, bauen, streichen, mauern, abreißen, neu machen. Wenn wir einmal diese Dauerbaustelle verlassen, dann natürlich nur, um andere Baustellen zu besichtigen. In Görlitz gibt es viele davon. Und nicht nur Baustellen im regulären Sinne, aktive Orte, an denen etwas passiert, sondern verfallende, vermodernde, verschimmelnde alte Häuser in allen möglichen Varianten. Manchmal sind sie relativ gut erhalten und man sieht erst auf den zweiten Blick, dass sie leer stehen. Gerade in diesen Zeiten des Lockdowns ist ja kein Mensch irgendwo zu sehen, man fragt sich, wo sich all die Leute verstecken, die sonst das Leben ausmachen. Selbst an den Fenstern ist niemand zu sehen. Okay, es ist Weihnachten und kalt draußen. Das mag noch die harmloseste Erklärung sein.

Vielleicht aber sind die meisten auch der schrägen PR der Regierenden erlegen. Hier in Görlitz zeigt sie sich etwa in Schildern von zwei Maskierten mit der Überschrift: „Einen schönen Görlitzer kann nichts entstellen“, oder ein Foto der Dächer der Stadt mit dem Text „Görlitz ist auch mit Abstand schön“. Man muss unbedingt einige Exemplare dieser Werke aufbewahren für spätere Generationen, die sich über all das lustig machen werden. An den verlassenen Haltestellen auch hier diese grenzüberschreitenden Aufforderungen: „Mund und Nase bedecken“. Ich empfinde es jedes Mal als Eindringen in meine Intimsphäre, gerade so als stünde da „Muschi und Arschloch bedecken“. Die Eingriffe gehen ja auch immer weiter in die Intimsphäre, man beachte die Aufforderung an Flugpersonal, Windeln zu tragen. Auch das sollten Historiker unbedingt archivieren, es wird Satiresendungen der Zukunft viele Folgen lang ausfüllen. Bald wird auf Schildern im öffentlichen Raum oder aber in der angepassten Presse stehen: „Bitte das Klopapier nur einseitig verwenden“ oder „Bitte den Hintern von oben nach unten abwischen“. Und Hände waschen nach dem Wichsen nicht vergessen.

In diesen Zeiten kann ich mir plötzlich so viel vorstellen.

Ich kann mir vorstellen, wie es in der DDR Zeit war. Etwa beim Anblick der „Seniorenresidenz Volkssolidarität“, einer „Wohngemeinschaft für Demente“. Die Bewohner leben vermutlich auch im Geiste wieder in der schlechten (oder guten?) alten Zeit. Sollten einige von ihnen noch vor die Tür gehen können, werden sie spätestens dann glauben, zurück in der Vergangenheit zu sein. Leere Restaurants, Schlangen vor den Geschäften. Fehlt nur noch Honi im Radio, aber der heißt jetzt Frank Walter Steinmeier und kommt aus dem Volksempfänger in die Zellen der Gefangenen im Pflegeheim, bevor sie reihengeimpft werden. Ich fühle mich hier einfach wie im Ostblock. Ein Name, der passt.

Ich kann mir auch während der Lockdown Stimmung so gut vorstellen, wie es im Dritten Reich war. Wie die Angst immer tiefer in die Menschen kroch, wie sie durch das plötzliche Verschwinden von jüdischen Nachbarn weiter angeheizt wurde, wie jeder in sich selbst hineinschaute und sich fragte: Bin ich bedroht? Ist mein eigenes, kleines Leben in Gefahr? Oder kann ich einfach so tun, als wäre nicht? Kann ich einfach verdrängen, was ich ahne, dass etwas mit absolut gar nicht rechten Dingen zugeht? Kann ich mich einfach weiter aufs nächste Frühstück oder Mittagessen konzentrieren, darauf dass mein Kühlschrank voll ist und meine Kinder satt werden? Wozu brauche ich mich mit den absurden Reden der Politiker zu befassen, mit dem Gebrüll von Hitler aus dem Lautsprecher, mit den hysterischen Angstparolen seiner Gegner? Einfach ducken und weiter leben, so lange, bis aus dem Leben ein Vegetieren wird. Bis meine Kinder abgeholt werden von der Armee und in den Kriegstod geschickt werden. Bis ich einen blauen Brief erhalte: Ihr Sohn ist fürs Vaterland gefallen.

Erst dann wird es nicht mehr möglich sein, zu verdrängen, weil auch mein Kühlschrank nicht mehr voll ist. Weil die Demütigungen von oben immer deutlicher, immer unausweichlicher werden. Erst dann werde ich verstehen, warum manche das Land verlassen haben, als es noch ging.

Ich kann mir vorstellen, wie es war, damals in den leeren Straßen, so leer wie heute, die Menschen drinnen in ihren warmen Wohnungen. Ausgangssperre, dieses unschöne Wort, das an Krieg erinnert. Ach, vergessen, verdrängt, verschoben, solange noch Lebensmittelgeschäfte geöffnet haben, und man Feinkost an Weihnachten essen kann. Solange der Bäcker noch Brötchen backt, dann kann man doch einfach so tun, als wäre nichts. In meiner kleinen Welt, so haben sicher die Menschen auch im Dritten Reich gedacht, als die SS auf den Straßen marschierte und am Tag der Machtergreifung Fahnen aus den Fenstern gehisst wurden, in meiner kleinen Welt ist doch alles wie immer. Ich habe nichts gegen Juden und ich würde ihnen auch nichts tun.

Ich kann mir vorstellen, dass es ihnen genauso ging wie den meisten Menschen heute. Demonstrieren? Auf die Straße gehen? Sich der Polizei ausliefern? Einer Gefahr? Erstmal nicht. Und dann Sophie Scholl und die Nachricht von ihrer Hinrichtung. Ja, Mensch, nur gut, dass wir zu Hause geblieben sind. Vielleicht vielleicht können wir das alles überleben, wenn wir Glück haben.

Ja, und manche haben ja auch Glück gehabt. Haben den Krieg überlebt, haben Hitler überlebt, habe die Entnazifizierung überlebt. Und sich gesagt: Ich habe es gut gemacht.

Es gibt in Görlitz auch Gebäude, bei denen man sich fragt, wie sie überhaupt noch dastehen können, ob es nicht kostengünstiger wäre, einfach einen Bagger reinfahren zu lassen. Innen müssen die Wände längst feucht sein, etwaige Tapeten von den Wänden fasern, das Mauerwerk bröckeln und Wasser durch die Dachziegeln rinnen, wenn es regnet. Diese Häuser findet man überall in Görlitz, nicht etwa nur in entlegenen Wohngebieten oder fern der fein gemachten Innenstadt. Es gibt sogar ganze Straßenzüge mit einst vornehmen Mietshäusern, deren Eingangstüren und Fenster von ehemaligen Geschäften mit Holzbrettern zugenagelt sind.

An diesem unserem Spaziergang aber sind wir in richtigen Wohngebietsstraßen unterwegs, in denen nur freistehende Einfamilienhäuser stehen. Es ist gegen 15 Uhr und der Spaziergang ist eine Besichtigungstour entlang der Bauwerke. Manche sind für meinen Mann nicht erwähnenswert, zu modern, zu schlicht, zu langweilig. Andere aber, je näher den 100 Jahren, desto besser, werden ausführlich begutachtet. Und dann taucht da mitten in der recht manierlichen Straße diese verwunschene Villa auf.

Schon der Garten ist absolut verwildert, Sträucher, Äste, Bäume, wuchernde Wiese, sicher ein Paradies für Tiere aller Art. Das Haus steht weit hinten in diesem Riesengarten auf einem Grundstück, das so gar nicht in diese Straße passt. Aber genau so ist Görlitz. Mitten im renovierten Teil plötzlich Abbruchhäuser, für die sich offenbar kein Mensch interessiert.

Mein Mann ist sofort begeistert und sagt: „Komm, das schauen wir uns mal an.“ Wie immer habe ich Angst, ich habe ja meistens vor allem Angst, vor allem vor seiner Abenteuerlust und seinem Mut und seiner Risikobereitschaft. Ich denke an meine Strumpfhosen und meine Schuhe, die ich mir in diesem Garten versauen könnte, ich denke an Wände, die über uns zusammenfallen könnten, wenn wir das Haus betreten, und ich denke an Kriminelle, die seit Jahren in diesem Haus hausen, oder an Monster, die dort spuken.

Mein Mann nimmt meine Hand und hilft mir über den kaputten Zaun. Ich quieke und jammere, während ich hinter ihm her stapfe, es interessiert ihn nicht.

„Guck mal hier, die alte Tür, das Haus ist bestimmt 100 Jahre alt!“ sagt er, als wir die unheimliche Villa erreicht haben. Die Eingangstür ist mit einem Brett verrammelt, doch Sie kennen meinen Mann schlecht, wenn Sie glauben, dass ihn das aufhält. Er hat Bärenkräfte und zerrt einfach an einem abstehenden Rand eines Bretts, mit Krachen fällt alles in sich zusammen. Eine modrige Öffnung ersteht vor uns.

Mein Mann steigt über die noch unten hängenden Bretterreste, ich folge ihm. Mir wird so unheimlich, dass es mich erregt. Ja, das sehe ich jetzt, das hier ist die richtige Kulisse für eine richtig geile Geschichte, die er mir ins Ohr flüstern kann, während ich mich höher und höher schaukele bis zum Yeaahhhh. Meine besondere Spezialität. Seinen Finger in meiner Muschi und seine Horrorgeschichten im Ohr, deren Opfer ich bin, und was alles mit mir passieren wird, wo ich jetzt hier in dieser verlassenen Villa gefangen gehalten werde. Die alte morsche Treppe kann ich schon kaum noch hochlaufen vor Kribbeln zwischen meinen Beinen. Ich fasse gierig die Hand meines Mannes, der vor mir hergeht und immer noch von baulichen Gegebenheiten dieser Villa referiert. Von elektrischen Leitungen, die nicht unter Putz gelegt wurden, und von Fenstern mindestens von der Jahrhundertwende und ich sehe, als wir ganz oben angekommen sind, eine dicke, alte, vergammelte Matratze.
Und dann sind da auch noch die Gitterverschläge, in denen vermutlich vor 100 Jahren alles mögliche aufbewahrt wurde. Oder wurden da schon damals unartige Mädchen und Frauen eingesperrt? Ich lasse meinen Mann noch einen ganzen Sermon über Dachziegeln und Dachbalken, die Art des Treppenbaus und vieles mehr von sich geben, während wir auf diesem uralten Dachboden sind und es draußen langsam dämmriger wird und die Monster und Geister jetzt aus dem Wildwuchs im Garten kriechen. Dann nähere ich mich meinem Mann langsam in eindeutiger Weise und dirigiere ihn zu der ekligen Matratze, die genau zu meiner Geilheit passt, und während er noch von der Elektrizität von vor 100 Jahren redet, lasse ich mich auf die Matratze fallen und ziehe ihn mit hinunter, ich bin inzwischen so richtig drauf, und er soll seinen Redefluss ja auch gar nicht unterbrechen, er soll weiterreden, nur das Thema ein wenig wechseln, variieren, ich ziehe meine Strumpfhose selbst herunter, nehme seine rechte Hand und seinen rechten Mittelfinger und stecke ihn mir rein, dann sage ich als kleine Einleitung unserer Kür: „Und wenn jetzt der Geist des alten Bewohners auftaucht, der früher seine Frau hier oben eingesperrt hat….“ Und dann kommt er auch drauf, und seine Brutalität in der Fantasie ist noch viel besser als meine und einfach nicht zu toppen. Und es geschehen schlimme, geile Dinge und ich helfe in bisschen mit meinem rechten Mittelfinger, es wird immer enger und heißer und unheimlicher und beängstigender und je mehr Angst ich habe, desto schneller bin ich am Höhepunkt.

Und dann falle ich zurück auf die alte Matratze und mein Gehirn kommt wieder in Gegenwartsmodus und mir ist kalt an der Muschi und überhaupt. Aber ich weiß ja, was sich gehört, er darf auch noch, er braucht keine Geschichten von mir in seinem Ohr, er spritzt einfach ab.

Wir kriechen dann wieder durch das Gartengestrüpp, es ist inzwischen ganz dunkel, die Lichter in den anderen Häusern gehen an.

In der DDR sollen die Menschen extrem viel Sex gehabt haben.

Im Dritten Reich haben sie sich damit sicher auch von dem Wahnsinn draußen abgelenkt.

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