Am späten Nachmittag kamen sie in Lüttich an. Er war erstaunt über den modernen Bahnhof. Er hatte gedacht, dass es irgendein dreckiger, rußiger Bau aus dem vorvorigen Jahrhundert sein würde. Vor Jahren hatte er einmal gehört, dass es der Stadt Lüttich und der ganzen Region gar nicht gut ging, weil der Bergbau und die Industrie darbten. Um so mehr war er von diesem leichten, luftigen Meisterwerk beeindruckt, in dem sie nun standen. Auch Nancy schaute sich interessiert um, ansonsten hatte sie während der ganzen Fahrt einen leicht abwesenden Eindruck gemacht und kaum ein Wort gesagt, von wegen das Glück der Zweisamkeit. Aber dieses Verhalten war ja fast normal, sie redete nur dann wie ein Wasserfall, wenn sie mit ihren Schwestern herumquatschte, mit ihm schwieg sie meistens. Aber weil sie bisher noch nie zusammen ausgegangen waren, war er sich auch jetzt nicht ganz sicher, ob ihr Schweigen normal war oder ob sie einen Grund dafür hatte. Jedenfalls hier in Lüttich war sie noch abwesender als sonst. Sie überließ es ihm völlig, ein Hotel zu suchen. Der Bahnhof war zwar neu, aber das Viertel war alt und sie fanden auch rasch ein Hotel mit drei Sternen, das nicht zu protzig und nicht zu schäbig aussah und in dem sie ein Doppelzimmer zu einem akzeptablen Preis bekamen. Nachdem sie das Zimmer bezogen hatten, bummelten sie durch die Stadt und als es begann dunkel zu werden, nötigte er Nancy, die erst nicht wollte, in ein schickes Restaurant. Sie habe versprochen, alles zu tun, was er wolle, erinnerte er sie. Es war das erste Mal, dass er mit Nancy in einem Restaurant war, sieht man von dem Café am Markt und dem Ikeaimbiß ab. Sie bestellte Spagetti mit Tomatensoße, ihr Lieblingsgericht, während er ein opulentes Dreigangmenü wählte: Austern als Vorspeise, eine gegrillte Lammkeule und Tiramisu als Nachtisch, dazu eine Flasche Bordeaux, einen sehr guten und sehr teuren Bordeaux. Nancy wollte unbedingt wissen, was das Essen gekostet habe. Er zeigte ihr die Rechnung, und als sie die Endsumme sah, war sie ziemlich böse und meinte, er hätte lieber auch Spagetti nehmen und das restliche Geld ihr geben sollen. Er lachte und sagte nur, dass sie wohl auf dieser Reise nicht schlecht wegkäme, mit ihm als Freund und zeitweisem Ehemann und da müsse sie schon zulassen, dass er auch sein volles Vergnügen habe, dabei zwinkerte er sie an, aber sie blieb beleidigt. Dann kehrten sie in das Hotel zurück und er freute sich darauf, endlich wie ein Ehemann, wie ein richtiger Geliebter, behandelt zu werden, mit allen Konsequenzen, die sie ihm versprochen hatte. Aber kaum im Hotel angekommen, sagte Nancy, dass sie noch einmal kurz weg müsse. Es sei dringend, sie müsse noch etwas Wichtiges erledigen, aber er solle sich keine Sorgen machen. Dann gurrte sie, wenn sie wieder da sei, dann bekäme er alles, was sie ihm versprochen habe, ganz sicher. Er schaute sie konsterniert und ungläubig an. Was sie jetzt, am späten Abend und in der fremden Stadt um Himmels willen machen wolle. Er könne doch mitkommen. Aber das wollte sie auf keinen Fall, nein, sie müsse allein kurz weg. Sie empfahl ihm, solange fernzusehen, denn spätestens in einer Stunde, allerspätestens in zwei, sei sie ganz sicher wieder zurück. Was sollte er tun? Nancy ging und er wartete zähneknirschend und das war nicht einfach, weil er sich ärgerte und krampfhaft überlegte, was sie denn so Dringendes in einer fremden Stadt zu erledigen habe und warum er sie nicht begleiten durfte. Nach fernsehen war ihm absolut nicht zumute. Schließlich legte er einen Zettel auf das Bett, „I am in the bar, come an see me“. In der Bar trank er ein Bier und dann noch eins und schaute alle paar Minuten auf die Uhr. Die eine Stunde war schon vorbei. Noch ein Bier, auch die zweite Stunde war vorbei. Er ging hoch in das Zimmer, in ihr Zimmer, es war leer, wie befürchtet. Der Zettel lag unberührt auf dem Bett. Wütend überlegte er, was er nun tun sollte. Sie suchen gehen? Aber wo? Sie anrufen? Er hatte inzwischen ihre Handynummer bekommen, obwohl sie diese nur ungern herausgerückt hatte, aber sein Hinweis, sie könnten vielleicht getrennt werden oder es könnte Probleme geben, hatte sie überzeugt. Nun gab es ein Problem und er würde anrufen, jetzt gleich. Doch als er sein Handy in der Hand hielt, änderte er seine Meinung. Nein, soll sie doch zum Teufel bleiben, wo sie ist. Schon im nächsten Moment machte er sich wieder Sorgen. Vielleicht war etwas passiert? Vielleicht ein Überfall oder ein Unfall? Ob er nicht lieber die Polizei anrufen sollte? Wer ist verschwunden? Ihre Geliebte? Wie heißt sie denn? Nancy und weiter? Wie lange, sagen sie, ist sie verschwunden? Seit drei Stunden? Warten Sie ab, guter Mann, wenn sie morgen nicht wieder da ist, können Sie sich wieder melden, bis dahin können wir gar nichts machen. Auf dieses Gespräch oder so ein ähnliches, konnte er gut verzichten, außerdem hätte er gar nicht gewusst, in welcher Sprache er mit der Polizei reden sollte, Deutsch konnten die bestimmt nicht. Er holte sich einen Whisky aus der Minibar und dann noch ein Bier. Schließlich ging er ins Bett, wälzte sich aber endlos herum, schlief nur kurz ein, denn die Wut und die immer noch vorhandene Sorge, hielten ihn wach. Als es an der Zeit war, ging er zum Frühstück und aß lustlos. Er sollte einfach abreisen, dachte er, dann könnte sie sehen, wo sie bliebe? Schließlich wählte er ihre Nummer.
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