Ahrweiler – Teil I

oder: das Buch des Lebens

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Ahrweiler – Teil I

Ahrweiler – Teil I

Gero Hard

Ich versorgte ihn mit den wichtigsten Informationen: Wie viele Männer und Frauen ich mitgebracht hatte, ob es Spezialisten in meinem Team gab und vor allem, wie lange wir bleiben konnten. Meine beteiligten Feuerwehren waren für die nächsten zwei Wochen bei unserer zuständigen Leitstelle abgemeldet. „Gott sei Dank,“, meinte er „nicht wieder welche, die nur übers Wochenende helfen können. Bitte nicht falsch verstehen, wir können jede Hand gebrauchen und sind dankbar dafür. Doch jedes schwere Gerät immer wieder neu einzuweisen, neue Bereiche zu übergeben und zu prüfen, das kostet enorme Kraft.“, fügte er schnell hinzu.

„Nein, schon gut, ich verstehe das. Ich schlage vor, wir teilen meine Leute auf bestehende Trupps auf und lösen so ein paar von den erschöpften Helfern ab. Dann können wir im Rotationsprinzip arbeiten und ruhen. Damit können wir rund um die Uhr arbeiten.“

„Das ist eine gute Idee! Dann treffen wir uns alle in 30 Minuten hier und ich verteile deine Leute. Vorher könnt ihr euch ein wenig häuslich einrichten. Ich zeige dir wo genau.“

Er fuhr mit seinem BMW vor uns her. Es war mühsam den Trümmern und Schlaglöcher in den Straßen auszuweichen.

Manche Löcher waren so tief, dass man sich dort ohne Weiteres schwere Schäden an den Rädern und Achsen der Fahrzeuge einfangen konnte.

Bei mir im Fahrzeug war eine bedrückende Stille. Schon seit wir in Ahrweiler eingefahren waren. Wenn wir sonst zu Einsätzen unterwegs waren, war es deutlich lauter. Aber heute war es mucksmäuschenstill und ich dachte mir, in den anderen Einsatzwagen war die Stimmung sicher ähnlich bedrückt.

Die Eindrücke überwältigten uns. Überall arbeiteten Menschen zusammen, die sich vorher noch nie gesehen hatten. Nachbarn unterstützten sich beim Wasserschaufeln oder bauten notdürftige Wassersperren. Durchnässte und aufgequollene Möbel wurden aus den Häusern getragen. Die Bewohner hier würden alle wieder bei Null anfangen müssen, soviel war sicher.

Ich machte Fotos mit dem Handy. Nicht aus Schadenfreude oder weil ich mich an den schrecklichen Bildern ergötzen wollte, sondern weil ich sie später zu einem umfassenden Bericht zusammenfügen musste.

Es fällt mir oft schwer, mich im Nachhinein an jede Kleinigkeit zu erinnern. Aber das Ganze hier, würde für immer in meinem Gehirn eingebrannt bleiben.

Wir durften unsere Wagenburg auf einem alten Schulhof bilden. Dort gab es zumindest frisches Wasser und ein Generator lieferte Strom. Es war nicht viel und unser Lager war mit ein paar Zelten und einigen Feldbetten in der Turnhalle sicher nicht das Hilton. Aber allemal besser, als es vielen Bürgern zurzeit in dieser zerstörten Stadt ging.

Nicht wenige der Helfer, stellten ihr Bett in der Halle denjenigen zur Verfügung, die durch das Hochwasser ihr Dach über dem Kopf vollständig verloren hatten.

Ich hätte nie gedacht, was Nachbarschaftshilfe zu leisten vermag. Alle zogen an einem Strang und teilten das Wenige, was ihnen geblieben war.

Wir waren uns alle einig, dass keine Zeit zu verlieren war. Die lange Fahrt und der unruhige Schlaf, steckte allen in den Knochen und doch wollten alle so schnell wie möglich mit der Arbeit anfangen.

****

Pünktlich standen wir am vereinbarten Treffpunkt, bewaffnet mit Schaufeln, Spaten, Spitzhacken, Äxten und einem ungebrochenen Willen zu helfen.

Der hiesige Einsatzleiter bildete Trupps, gemischt aus ‚alten‘ und ‚neuen‘ Helfern, teilte sie auf die am schlimmsten betroffenen Stellen auf und übergab mir die Leitung über die Trupps in einem genau festgelegten Gebiet. Dazu sollte ich mich um die Koordination und den Einsatz der schweren Geräte in diesem Bereich kümmern. Normalerweise ist so etwas Sache des THW. Aber wir mussten aus der Not eine Tugend machen.

Es war dunkel geworden in Ahrweiler. Und trotzdem arbeiteten alle diejenigen weiter, die noch ein wenig Kraft übrig hatten. Männer aller Altersklassen, unabhängig von Beruf und Bildung, arm oder reich, egal welche mehr oder weniger gehobene Position sie sonst bekleideten, keiner war sich zu schade, um sich hier die Hände schmutzig zu machen.

Frauen verteilten heiße Getränke oder irgendwo liebevoll hergerichtete belegte Brote, eine alte Frau hatte einen alten Kessel reaktiviert und eine kräftige Suppe für die Helfer gekocht.

Selbst Kinder versuchten Holz beiseite zu räumen oder schoben mit Schabern die letzten Pfützen aus den Häusern, aus denen sich das Wasser bereits zurückgezogen hatte.

Suchhunde suchten mit ihren Hundeführen unermüdlich nach Opfern oder Verschütteten, immer in der Hoffnung, noch Lebende unter den Trümmern zu finden und zu retten.

Mikrofone wurden in Hohlräume gesteckt, um vielleicht irgendwo ein leises Rufen oder ein zaghaftes Klopfen zu hören. Minikameras wurden eingesetzt, in der Hoffnung, so auf den Bildern menschliche Körper zu entdecken.

Für heute sollte es gut sein. Ein letztes Mal klapperte ich meine Trupps ab und erkundigte mich nach dem Sachstand.

Fragte, ob noch Dinge benötigt würden, die es zu organisieren galt oder ob die Maschinenführer noch genug Diesel für die Nacht hatten.

Nachdenklich ging ich durch die Straße. Ich wollte mehr tun als organisieren, einteilen und kontrollieren. Aber ich hatte gerade keine Idee, wo ich damit anfangen sollte. Ich kam zu dem Entschluss, dass ich als Schnittstelle zwischen den Hilfskräften und der Organisation schon ganz gut aufgehoben war. Gerade die Koordination, das Zusammenspiel der Kräfte, ist bei solchen Einsätzen das A und O.

Überall funzelten Taschenlampen und Suchscheinwerfer helle Strahlen in die Nacht. Jeder, der einen eigenen Generator hatte, jede Baufirma, jeder Elektroinstallateur, versuchte mit Baulampen und Scheinwerfern die gespenstische Umgebung aufzuhellen.

Für einen kurzen Moment konnte ich nichts tun. Zeit, kurz bei einem meiner Mitarbeiter anzurufen und nach dem Rechten zu fragen. Meine Angestellten wussten, wie wichtig mir meine kleine Firma war und hatten Verständnis, dass ich sie abends mal anrufe. Und sie wussten auch, dass ich es nur in Ausnahmefällen tun würde.

Gedankenverloren sah ich einem Schäferhund bei seiner Arbeit zu. Unglaublich, wie schnell er in der Lage war, Trümmerhaufen abzusuchen und wie konzentriert er dabei seine Arbeit verrichtete. Nur der guten Nase dieser Hunde war es zu verdanken, dass doch eine große Zahl von Verschütteten gerettet werden konnten.

Unruhig steckte er seine Nase in Öffnungen, kletterte, scharrte, schnüffelte wieder. Dann … aufgeregtes Bellen. Immer mit der Nase an einer bestimmten Stelle. Er zeigte etwas an. Allerdings stand er stocksteif. Ich kannte diese Haltung von Hunden, wenn sie eine gefundene Leiche anzeigten. Das sah nicht gut aus. Der Hundeführer rief nach Hilfe. Ich ging zu ihm und sicherte ihm einen Trupp und einen kleinen Bagger zu, die ich per Funk hierher orderte.

Maschinenlärm, Motorenbrummen, eintönig laufende Pumpen. Alles erzeugte einen Geräuschpegel, der es kaum möglich machte, Hilferufe aus Kellern oder Trümmern zu hören. Manchmal glaubte man Klopfen zu hören, aber dann war es doch nur jemand, der mit kleinen Werkzeugen versuchte, seinen persönlichen Beitrag an Hilfe zu leisten.

Ich setzte mich auf einen Haufen Steine und zog mein Handy aus der Tasche. Die Nummern meiner Angestellten hatte ich auf Kurzwahl. Die ruhige Stimme von Marko ließ mich etwas runterkommen. Sie wirkte irgendwie beruhigend auf mich. Ich wollte mich gar nicht lange damit aufhalten ihm zuzuhören. Schnell waren die nötigsten Informationen ausgetauscht und ich war zufrieden. Sowohl mit meinen Angestellten, als auch mit der Arbeit hier vor Ort.

Ich legte mein Kinn auf meinen Knien ab, die ich mir vor die Brust gezogen und um die ich meine Arme geschlungen hatte. Ich war müde und vom Schaufeln taten mir die Muskeln weh. Und es war erst mein erster Tag hier. Wie mag es da nur den Menschen gehen, die seit Tagen gegen die Unwirklichkeiten der Natur ankämpften.

Halluzinierte ich schon oder hörte ich wirklich das metallische Geräusch, wenn etwas gegen ein Rohr schlägt? Ich lauschte genauer hin. Nein … nichts. „Jetzt fängst du schon an zu spinnen Florian.“, schimpfte ich über mich selber. Vielleicht war ich schon übermüdet, aber ich durfte noch nicht aufgeben. Schließlich trug ich Verantwortung für meine Leute, musste mit gutem Beispiel vorangehen. Pling … Pling … Pling … da war es wieder! Pling … Pling … Pling…!

Es fiel mir schwer das Geräusch zu orten.

Kapitel 3

Der Hund schlug sofort an. „Da unten lebt noch jemand!“, schrie der Hundeführer laut. „Wir brauchen hier Hilfe!“

Alle meine Leute waren entweder selbst im Einsatz oder hatten gerade ihre verdiente Ruhephase. Das Einzige was ich auftreiben konnte, war ein kleiner Bobcat. Ein kleiner, wendiger Bagger mit einer Schaufel vorne dran.

Der Hundeführer und ich mussten selbst aktiv werden. Schnell waren erste Balken und Steine zur Seite geräumt und mit dem Bobcat ein paar schwere Baumstämme verschoben. Ein schmaler Spalt in den Trümmern tat sich auf. Ich leuchtete mit meiner Handlampe hinein. Ein Hohlraum tauchte im Schein der Lampe auf. Ich sah einen Arm. Regungslos. Er war klein und zierlich. Ein Kinderarm. Der Rest des Körpers verschwand in den Trümmern. Eine Bewegung im Lichtkegel, eine Hand. Schmal, zierlich, dreckig. Und trotzdem als Frauenhand zu erkennen.

Es half nichts, ich musste darein. Von hier oben aus konnte ich nichts tun. Ich band mir ein Fangseil um die Hüfte und sicherte es in meinem Arbeitskoppel.

Der Hundeführer versuchte mich zurückzuhalten. Redete auf mich ein, von wegen ‚unvernünftig‘ und ‚auf Hilfe warten‘ und so. Er hatte ja recht, das wusste ich selbst nur zu gut. Wie oft wurde uns das bei den Lehrgängen gepredigt. „Keine Alleingänge starten“!

Aber ich konnte jetzt nicht warten. Hier zählte jede Sekunde! Schon viel zu lange lag die Frau dort verschüttet. Es grenzte eh schon an ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebte. Und es lag mindestens noch eine weitere Person da unten. Die Frage, ob es ‚retten‘ oder ‚bergen‘ war, konnte ich noch nicht abschließend beantworten.

Der Hundeführer leuchtete in die Höhle, meine Helmleuchte war jetzt Gold wert. Durch sie hatte ich die Hände frei. Sie leuchtete genau dahin, wo ich hinsah. Perfekt!

Es war verflucht eng. Ich musste aufpassen, dass ich mit meinem Gewicht nicht tragende Teile verschob. Es wäre der sichere Tod für mich gewesen. Keine Ahnung, wie viele Tonnen Sperrgut über uns zusammengeschichtet waren. Von irgendwo lief Wasser in die Höhle, suchte sich seinen Weg durch den Schutt und verschwand ohne Schaden anzurichten im Erdreich. Ich hoffte, hier ragten nicht abgerissene Stromkabel hinein, die wohlmöglich noch Strom führten. Aber den Gedanken daran konnte ich schnell ausblenden.

„Ich bin auf dem Weg zu Ihnen. Versuchen Sie ruhig zu bleiben. Ich hole Sie da raus, das verspreche ich.“, sagte ich laut. Vielleicht konnte sie mich hören und dadurch neue Hoffnung schöpfen. Jetzt zahlte sich aus, dass ich regelmäßig Sport machte und mich viel bewegte. Ich musste mich schon ziemlich verbiegen, um durch den schmalen Spalt zu robben.

Ich war bei dem Arm angekommen. Vorsichtig legte ich den dazugehörigen Körper frei. Das dauerte, ich musste suchen und sehr genau überlegen, wo ich den Schutt hinlegen konnte. Größere Teile erforderten zudem enorme Kraft. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte ich einen kleinen Jungen freigelegt. Ich suchte an seiner Halsschlagader nach Puls. Leider vergeblich. Verdammter Mist! Ausgerechnet! Staub legte sich beim Atmen auf meine Lungen. Ich musste husten. Der kleine Junge war komplett grau vom Dreck. Haare, Gesicht, Kleidung, einfach alles.

Auf meinem Weg zurück zum Spalt zog ich ihn mit mir. Vorsichtig! Die Arme des Hundeführers streckten sich mir entgegen. Es tat gut zu wissen, dass da oben noch jemand war.

Ich schob den kleinen Jungen in seine Richtung, bis mein Helfer ihn am Pullover packen und nach oben ziehen konnte.

Es erfüllte mich mit Trauer, aber jetzt war keine Zeit zum Nachdenken. Das Leben der Frau stand auf dem Spiel.

Bei aller Tragik konnte mein Fund immerhin dazu beitragen, dass seine Eltern von ihm Abschied nehmen konnten und

ihn liebevoll beerdigen durften.

Ich war zurück in den Hohlraum gekrochen. Pling … Pling … Pling …! Das Schlagen von Metall auf Metall war jetzt deutlich lauter. Und ich konnte genau orten, woher es kam. Ich musste ein paar sperrige Trümmer zur Seite stemmen.

Der Platz in dem kleinen Hohlraum war eh schon sehr eng. Ich konnte mich kaum darin bewegen. Hier auch noch Platz für hinderliche Brocken zu finden, war nahezu unmöglich. Ich rief dem Helfer zu, dass ich einen Korb bräuchte, mit dem wir den Schutt nach oben befördern konnten. Den ganzen Haufen von oben nach unten abzutragen, würde viel zu lange dauern und wäre für die Überlebende viel zu gefährlich. Schräge Platten könnten abrutschen und sie im schlimmsten Fall köpfen. Gliedmaßen würden vielleicht unnötig ge- oder zerquetscht.

Nein, es galt eine andere Lösung zu finden! Schonend und kalkulierbar für Retter und Opfer. Schlimm genug, dass der Junge sein Leben auf so tragische Weise verloren hatte. Die Nähe seines Fundortes zu dieser Frau ließ auf eine Familie, zumindest auf seine Mutter schließen. Kurz kam in mir der schreckliche Gedanke auf, dass in diesem Trümmerfeld eine ganze Familie begraben sein könnte.

Der Junge war noch nicht alt, sein Alter wegen der starken Verschmutzung kaum zu schätzen. Vielleicht so 4 bis 7 Jahre alt? Wenn meine Schätzung einigermaßen stimmte, galt es hier eine junge Familie zu finden und zu retten.

Auf dem Korb konnte ich nicht warten. Stein für Stein warf ich durch den engen Spalt nach oben. Ich hatte keine Ahnung, wie instabil der Schutthaufen war. Aber das Risiko, selbst verschüttet zu werden, musste ich einfach auf mich nehmen.

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