Annelies war ein veritables Sommervögelchen. Mit feinem, prachtvollem Blondhaar ausgestattet, das ihr bis zur Hüfte reichte, zartgliedrig und mit Sinn für leichte, luftige Kleidung, deren Farbtöne ihr wunderbar ins Gesicht standen, war sie ein Blickfang nicht nur für Männer. Annelies kochte ausgezeichnet, verstand nicht nur von europäischer, sondern gleich von eurasischer Küche viel, kochte afrikanische Menüs aus Maniok und Bataten, wie noch nie ein Menschengaumen sie gekostet hatte. Oh, und Annelies war sportlich. Keine tanzte so anmutig wie sie, keine joggte so leidenschaftlich wie sie, keine trug Leggings so eng wie sie, keine wusste so viel und doch so wenig von sich zu zeigen.
Annelies war Magierin, Honigfee, Wichsvorlage, Schmetterlings-Elfe und Sommerprinzessin in einem, und sie war es für so viele.
Sie war es für so viele gewesen. Denn Annelies war auch eine Mörderin. Sie hatte eine ungeheure Affinität zu Katzen, gleich welcher Couleur. Sie mochte die Schwarzen mit weisser Schwanzspitze, sie mochte die getigerten, die sonst keiner mochte, sie mochte Siamkatzen, Nacktkatzen, Angorakatzen. Sie mochte die Jungen, Verspielten, und sie mochte die Alten, Inkontinenten.
Annelies war glückliche Besitzerin einer weissen Angorakatze gewesen, Madonna. Madonna war anschmiegsam, aber auch besitzergreifend. Sie war sich der Sympathie ihrer Herrin sicher. Und sie ernährte sich ausschliesslich von Sheba. Madonnas (und auch Annelies') glücklichste Zeit war es gewesen, als Annelies noch allein lebte, ohne den Werner. Madonna verbrachte die Tage in der Wohnung, ging erst am Abend nach draussen, jagte Vögel, ohne je einen zu erwischen, aber egal: Ein Tellerchen mit Sheba, dem Luxusfutter, wartete ja auf sie.
Werner war ein rechtschaffener Mann, der seinen Zahltag nach Hause brachte, einer, der Annelies nicht nur ihrer Kochkünste und ihres langen blonden Haars wegen liebte. „Mir kommt es auch auf innere Werte drauf an“, wurde er nie müde zu betonen. Nur Annelies wusste um die Zweideutigkeit dieser Aussage. Werner liebte heftigen, wirklich heftigen Sex, bei dem exzessive Lust und rasender Schmerz zusammenfallen, koagulieren und letzten Endes implodieren. Der gesittete, beruflich erfolgreiche Ehemann wurde im Bett zum alles verschlingenden Berserker. Annelies' Zartheit machte ihn rasend. Ihre zerbrechlichen Glieder. Die feinen, zaghaft angelegten Brüste. Annelies' viel zu enge Muschi für einen wie ihn.
Als würde jedes Mal beim Koitus ein Schalter umgelegt, nahm er sie mit der Kraft eines Satyrs, mit der Energie von Polyphem, dem einäugigen Riesen aus der Odyssee.
Und doch konnte Annelies sich ihm nicht entziehen. Die Heftigkeit beim Sex machte auch sie geil, und sie sah sich keineswegs als Opfer. Sie kam jedes Mal zum Orgasmus, und die sonst stille Annelies schrie wie am Spiess, wenn ihr Unterleib warm wurde, ihre Clit anschwoll und der Beckenboden sich zusammenzog.
Dann kam der Abend, an dem die arme Madonna sich ins Schlafzimmer verirrte. Normalerweise verbrachte sie die Abende ja draussen, bei der erfolglosen Vogeljagd. Dieses eine Mal nur trieb sie der Hunger vorzeitig nach Hause, zum Sheba-Teller, und Werner missfiel schon lange, wie viel Geld seine Honigprinzessein in dieses Katzen-Luxusfutter investierte.
Madonna schlich also genau in dem Moment ins Schlafzimmer, in dem Sex am Heftigsten ist, dann nämlich, wenn die orgastische Manschette der Vagina den Schwanz wie eine kleine Faust umklammert, dann nämlich, wenn die Frau mit geröteten Wangen sich windet und der Samenerguss knapp bevorsteht.
Madonna hüpfte aufs Bett, und es sollte ihr letztes Mal sein. Werner ertrug diese unschuldige, unbeabsichtigte Störung schlecht, ganz schlecht. Er packte Madonna am Hals, riss Annelies mit der freien Hand am Haar und fickte wild drauflos, während Madonna gutturale Laute von sich gab, die rasch erstarben. Werner liess die schöne Katze auch dann nicht los, als sie sich längst nicht mehr bewegte.
Mit Annelies' Kraft hätte er nicht gerechnet. Sie entzog sich ihm mit einer einzigen Bewegung, schoss wie ein Pfeil durchs Schlafzimmer, und Werner vernahm metallisches Rumoren aus der Küche. Dann war sie wieder da, die Annelies, in überirdischer Schönheit, glühend, wie er sie noch nie gesehen hatte und wie er sie nie wieder wahrnehmen würde. Das Filetiermesser traf sein Zlel nicht sofort; erst durchbohrte es Werners linke Lunge, dann war die Vena Cava inferior dran. Den dritten Stich positionierte die blindwütige Annelies mitten in Werners Herz. Dieser verdrehte die Augen, wie sich das gehört, sein gewaltiger Körper krampfte sich zusammen, und dann krachte er blutüberströmt in die frischen Bettlaken.
Annelies griff sich Madonna und liess sie nicht mehr los. Wenig später traf die Polizei ein, weil die alte Frau Jansen, die sich bei den Gesetzeshütern schon mehrmals wegen zu lautem Sex in der Nachbarwohnung beschwert hatte, den Hörer dieses eine Mal erst auf die Gabel zurücklegte, als der Kommissar ihr hoch und heilig versprach, an jenem Abend aktiv zu werden und auszurücken.
Die Polizisten, die ins Schlafzimmer stürmten, waren in ihren Gefühlen hin- und her gerissen. Da war das Ekel erregende Bild der verbluteten Laken mit dem toten, verkrümmten Männerkoloss. Die erwürgte Katze, die vom Blut ebenfalls etwas abbekommen hatte. Da war aber auch die splitternackte Annelies, von der selbst in diesem dramatischen Moment exorbitante Schönheit ausging. Selbstverstänlich wurde sie verhaftet, selbstverständlich wurde sie nicht nackt abgeführt, sondern in einem Kimono, die eine Polizistin im Kleiderschrank entdeckte.
Erst Tage danach war Annelies vernehmungsfähig und gab den Mord an ihrer geliebten Madonna zu Protokoll.
Man entschied sich zu einem fürsorglichen Freiheitsentzug; Annelies konnte ihre Strafe in Form eines Aufenthalts in der psychiatrischen Privatklinik zum Lindenblatt verbringen.
In luftig grünem Rock, mit frisch gewaschenem Haar, den Wind in den Locken, trat sie Ende März 2012 über die Schwelle der Klinik, inmitten von ausgebrannten Lehrern der Sekundarstufe, depressiven Bankbeamten und suizidalen Landwirten. Unschuldiger hätte sie nicht wirken können.
Annelies lieben? Oh ja, alle Anwesenden hätten es gekonnt. Die Ärzte. Die Pfleger. Die Therapeuten. Der Koch. Der Gärtner. Und die beiden Polizisten, die sie beidseits flankierten und nach knappem Rapport mit professionellem Kopfnicken das Lindenblatt, die „clinic of the slightly deranged who spend their days in deep freedom“ verliessen.
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