Auf der Suche nach dem verlorenen Bildnis

5 7-12 Minuten 0 Kommentare
Auf der Suche nach dem verlorenen Bildnis

Auf der Suche nach dem verlorenen Bildnis

Susi M. Paul

Zwei Stunden war Swann bereits auf der Suche nach Odette durch Paris geirrt, weniger von der Hoffnung beseelt, sie finden zu können, als aus einer ihm seltsam anmutenden Sehnsucht heraus, die es ihm furchtbar hätte erscheinen lassen, unverrichteter Dinge nach Hause zurückzukehren. Plötzlich, wenige Schritte vom Café Anglais entfernt, sah er, wie sie um die Ecke bog und ihn, da sie nicht auf die Begegnung gefasst war, einen Moment lang erschrocken ansah. Seine Freude, das Zufällige dieses wohl erwünschten, jedoch kaum für möglich gehaltenen Zusammentreffens wirken zu sehen, übertrug sich augenblicklich auf sie, so dass sie mit einem Strahlen ihrer olivgrünen Augen die Einladung annahm, in seine Kutsche zu steigen.
Ihr schwarzes Samtkleid raschelte leise, als sie neben ihm sitzend den weiten Abendmantel aufschlug und den Blick auf einige kostbare Orchideenblüten freigab, die sie in ihren Ausschnitt gesteckt hatte.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich die Cattleyas zurechtrücke, die in Unordnung geraten sind?«
Nicht gewohnt, dass Männer ihre Annäherungen mit einer solch umständlichen Ausdrucksweise und einem solchen Vorwand verbrämten, lächelte sie entgegenkommend.
»Aber nein, es macht mir nichts aus.«
»Wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht... Aber sehen Sie, hier scheint sich ein wenig Blütenstaub gelöst zu haben. Ich wische ihn schnell weg. Ich hoffe, es kitzelt Sie nicht. Verzeihen Sie, aber ausgerechnet an der Spitze ihres Busens... Es ist Ihnen doch nicht lästig? Nun stecke ich sie auch wieder hinein. Oh, gestatten Sie, dass ich mit meiner Hand etwas nachhelfe, sonst bricht die herrliche Blume. Ob ich wohl daran riechen dürfte?«
»Riechen Sie ruhig, es ist mir angenehm«, forderte sie ihn auf, weiter zu gehen, als er es von sich aus gewagt hätte.
In einer raschen Geste, die wie einstudiert wirkte, wandte sie ihr Gesicht von ihm ab, um dadurch die bloße Haut ihres Halses umso besser zur Geltung zu bringen, und näherte diesen gleichzeitig seinem Mund an, so dass er, dessen Hand noch immer in ihrem Ausschnitt verweilte und dort begann, die zarte Wärme ihrer Brüste zu liebkosen, einen ersten Kuss darauf hauchte.
An diesem Abend stieg Swann mit ihr die Treppe hinauf zu ihrem Salon, wo sie ihn bat, einen Augenblick auf sie zu warten, während sie sich in ihr im Hochparterre gelegenes Schlafzimmer begab und der Diener zahlreiche Lampen, die chinesischen Vasen glichen, auf die Möbel verteilte, so dass es schien, als ob es Altäre wären, und der palmenbestückte Raum von einem geheimnisvollen Leuchten erfüllt wurde.
Als sie zurückkam, trug Odette ein Hausgewand aus durchscheinender, rosa Seide, das die Arme und den Hals freiließ. Mit einem flüchtigen Kuss auf seinen Mund setzte sie sich auf ein ausladendes Sofa und zog ihn an ihre Seite, um mit dem Ausruf: »Sie sitzen noch nicht gut« sogleich aufzuspringen und zu beginnen, ihm ganz nach ihrem Belieben zusammengeknüllte Kissen mit japanischen Stickereien unterzuschieben. Wie durch Zufall löste sich die Kordel, die den feinen Stoff zusammenhielt, und weil sie gerade vor ihm stand, da sie dabei war, seinem Rücken zu einer bequemeren Position zu verhelfen, offenbarte sie ihm dadurch ihr süßes Geheimnis.
Hätte es sich um die kleine Arbeiterin gehandelt, die er sich zu jener Zeit hin und wieder für seine dringendsten Bedürfnisse gefügig machte, um nicht eines der bekannten Etablissements aufsuchen zu müssen, hätte Swann wohl nicht gezögert, die Situation auszunutzen, doch in dieser Umgebung, sei es aus Furcht, er könne sie kränken, sei es aus Besorgnis angesichts ihrer Kühnheit, schüchterte ihn das helle, nackte Fleisch, das sich ihm unter dem Negligé entgegenbeugte, soweit ein, dass er lediglich mit einer Hand die zuvor in der Kutsche schon erfühlte Brustwarze berührte.
Zitternd spürte er die Lust in sich aufsteigen, doch er dachte, dass Odette sie vielleicht nur erdulden würde, wie sie möglicherweise zuvor die Berührungen an den Cattleyablüten und an ihrem Ausschnitt nur erduldet hatte, während er sich wünschte, diese Lust mit ihr, die er noch nie genossen hatte, völlig neu erschaffen zu können. Gleichwohl war er sich nicht sicher, ob er bis zum Äußersten gehen sollte, und zwar nicht etwa deshalb, weil er Odettes Ruf durch seine Nachstellungen in Gefahr sah, denn es gab genügend Anzeichen dafür, dass sie ihr Liebesleben nicht weniger ausschweifend und lotterhaft zu gestalten pflegte als er selbst, vielmehr beunruhigte ihn, ob und inwieweit die intime Bekanntschaft mit ihr seinen Interessen und seiner Stellung angemessen wäre.
Odette hingegen schien die Begierde, die sie bei ihm aufsteigen sah, nicht nur dulden, sondern sie in zweifacher Weise ausnutzen zu wollen, indem sie sowohl die Befriedigung ihrer eigenen Wünsche suchte als auch Swann durch ihre Liebesdienste an sich zu binden trachtete. Sie rückte daher an das Ende des Sofas, hielt, damit sein Blick nicht vom Wichtigen zum bereits Bekannten abschweife, den Mantel über ihrem Busen geschlossen und sorgte gleichzeitig dafür, dass er sich von ihren Hüften löste, streckte ein Bein gerade aus und winkelte das andere langsam an, so dass er, der vor ihr auf den Boden gesunken war, nach den strahlend weißen Schenkeln bald auch ihrer Vulva ansichtig wurde und sofort eine fast ehrfürchtige Hochachtung für sie empfand.
Im Schein der wunderlichen Lampen tauchten die schwellenden, fülligen Wölbungen der großen Schamlippen auf, die in Farbe und Konsistenz einer genau in der Mitte aufgeschnittenen Pfirsichhälfte ähnelten. Zu den Seiten hin bedeckte sie ein zarter Flaum aus dunklen Härchen, der nach oben, zum Venushügel hin, dichter wurde, ohne jedoch den struppigen Bewuchs anzunehmen, der zu seinem Missvergnügen bei so mancher Geliebten das harmonische Zusammenwirken vom begehrenswerten Fleisch und seiner natürlichen Bedeckung empfindlich störte.
In dem Maße, in dem Odette ihre Knie auseinanderzog, quollen aus der breiter werdenden Spalte zwischen den äußeren, orangefarbenen Dämmen die fast glatten, rötlich und feucht schimmernden Nymphae hervor, die sich, wie bei einer besonders auffälligen Cattleya, die er einmal im Botanischen Garten bewundert hatte, nach unten, zum Zugang ins saftige Innere hin verbreiteten, nach oben hin aber um das Säulchen herumwuchsen, aus dem bereits, von dem darüberliegenden weichen Pelz nicht verborgen, die drall erregte Klitoris herausspitzte.
In dem Moment, in dem Swann mit seinem Daumen durch die nun vollständig geöffnete Orchidee zu der Gemme der Verheißung glitt, um diese gänzlich aus den kleinen Lippen zu schälen und sie mit einem Wechselspiel seiner Finger und seiner Zunge zu beglücken, erinnerte er sich plötzlich daran, wo er ein solch vollkommenes Organon sexueller Freuden bereits gesehen hatte.
Der Marquis de Bréauté und General Froberville hatten ihn vor einigen Jahren in den Jockey-Club eingeführt, weil sie seinen fachkundigen Rat als Kunstexperte für eine Ausstellung von etwa einem Dutzend geradezu ungehöriger Gemälde benötigten, die kein anderer als der Prinz of Wales, nicht ohne Grund abseits der breiten Öffentlichkeit, in den verschwiegenen Räumen des Clubs organisiert hatte. Unter dem Titel „Galerie der Lüste“ hatte sie sein Initiator vorgestellt, von dem gemunkelt wurde, dass der größte Teil der Exponate aus seinem Privatbesitz stammte. Doch die Eingeweihten, welche die Ausstellung zu Gesicht bekamen, hatten die Bezeichnung „Mösengarten“ übernommen, die Swann selbst zu diesem Anlass geprägt hatte.
Unter den zeitgenössischen Künstlern, deren Werke berücksichtigt worden waren, hatte sich auch der Maler befunden, den er später bei den Verdurins wiedergesehen hatte und für dessen etwas grotesk aufdringliches weibliches Geschlecht, wie Swann nun erleichtert feststellte, Odette keinesfalls mit ihrem glänzenden Rubingeschmeide Modell gesessen haben konnte.
Neben einigen weiteren kläglichen Versuchen jüngerer Maler, denen er in seinen Kommentaren das Prädikat Künstler dezidiert vorenthalten hatte, das komplexe Zusammenspiel von Farben und Formen einer geöffneten Vulva auf der Leinwand ansprechend darzustellen, die eher frustrierten Reaktionen auf mit realen Frauen nicht verwirklichten feuchten Träumen denn wahrer Kunst glichen, hatte diese Schau aber auch eine Reihe von exquisiten und ihm, obgleich in der Materie bewanderter Kenner, zumeist gänzlich unbekannten und in keinem Katalog verzeichneten Werken großer Meister aufzubieten gehabt.
Wie oft schon hatte er sich seit damals Fragonards „Die zweite Schaukel“ ins Gedächtnis gerufen, das aus der Perspektive des Galans gestaltet war, der auf diese Weise dem Betrachter einen lüsternen Blick unter das Kleid der schaukelnden Dame zu werfen gestattete. Oder Courbets „Der Ursprung der Welt“, das in der Pariser Kunstwelt so viel Aufsehen erregt hatte und von dem zumindest bisweilen noch Gerüchte über seinen Verbleib kursierten. Nicht zu vergessen Goyas „Obszöne Maja“ mit ausgebreiteten Schenkeln, das, seit er es betrachten durfte, sich in seiner Vorstellung beständig über die beiden anderen Schönen des Spaniers legte und von den dreien nicht nur das gewagteste, sondern auch das künstlerisch fortgeschrittenste Abbild einer Frau in der Gesamtheit ihrer körperlichen Reize war.
Unter all diesen jedoch war zweifelsohne die „Muschel der Venus“ herausgestochen, eine Detailstudie in kleinerem Format, mit dem jener Alessandro di Mariano, der gemeinhin Botticelli genannt wird, sich auf „Die Geburt der Venus“ einstimmte, und die schließlich in seinem Meisterwerk doch nicht die vollendete Weiblichkeit der blonden Göttin schmücken durfte, sondern dem Haarschopf weichen musste, der das Zentrum der Liebesgöttin schamhaft verbirgt.
Als krude Fälschung und Nachahmung des Stils des großen Meisters war das Opuskel von der Mehrheit der zumeist weniger an der Kunst denn an den dargestellten Objekten interessierten Besucher abgefertigt worden, doch Swann hatte in den leidenschaftlichen Debatten beständig die Ansicht vertreten, dass die Pinselführung, die Ausgestaltung der Rosatöne sowie insbesondere die Parallelen beim Schattenwurf in den Fältelungen des von der Hore gereichten Mantels auf dem Gemälde aus den Uffizien und der so elegant gezogenen Nymphae der im Jockey-Club gezeigten Vorstudie durchaus den Schluss zuließen, auch diese dem Werk des Florentiners zuschlagen zu können.
In dem Moment, da ihm die frappierende Ähnlichkeit der von Botticelli so unnachahmlich geschaffenen Vulva und des vor ihm sich in allen Details zeigenden, lebensechten Geschlechts bewusst wurde, und obgleich der begnadete Sandro auf die Darstellung der zarten Behaarung verzichtet hatte, die Odettes von Sekunde zu Sekunde feuchter werdende Weiblichkeit umgab, erkannte Swann, dass er die weichen und im Schein der Lampen glitzernden Labien von nun an nicht mehr würde berühren, schmecken und besitzen können, ohne mit diesen lustvoll beglückenden Begegnungen zugleich einen außerordentlichen Kunstgenuss zu verbinden.
Die Zweifel, die er bislang bezüglich Odettes körperlicher Vorzüge, ihrer Bildung und ihrer Umgangsformen gehegt hatte, zerstreuten sich jetzt in der Überzeugung, dass seine Vereinigung mit ihr, sein Eindringen in diese, den natürlichen Gesetzen unterworfenen, vor Gier bereits gänzlich nassen und sich nach ihm verzehrenden Falten eine ästhetische Überhöhung erfahren würden, die es ihm erlaubte, den banalen Ablauf des Aktes, bestehend aus der genussreichen Friktion seines steifen Gliedes in ihrer dunklen Höhlung, dem gemeinsamen Stöhnen und Seufzen, ihren spasmischen Zuckungen sowie dem unkontrollierten Herausschleudern seines Samens in ihr, als Höhepunkt nicht nur seines und ihres biologischen Bedürfnisses, sondern auch eines sublimeren ästhetischen Verlangens zu sehen, wodurch der Geschlechtsakt von dem an ihm haftenden Makel des gewöhnlich Obszönen befreit und in eine Sphäre des bewundernd, ja unbegreiflich Schönen gezogen würde.
Während Odette, seines sinnenden Betrachtens ihres Schmuckstücks überdrüssig, die Initiative ergriff, auf ihm kauernd seinen hochrot glänzenden Phallus in sich einführte und begann, mit langsamen, rhythmischen Bewegungen ihres Beckens die eigene Lust zu steigern, fragte er sich, ob er mit dieser Bindung ihrer körperlichen Reize an ein ästhetisches Empfinden nicht beiden, dem weiblichen Körper und dem Kunstwerk Unrecht tun würde, doch in dem Maße, in dem Odettes regelmäßiges Heben und Senken ihn dem spannungsvollen Augenblick nahebrachte, an dem er keuchend die Gewalt über sein Geschlecht verlieren und sich willenlos in sie ergießen würde, beglückwünschte er sich dazu, das in der Kunst geschaffene Bildnis und das mit seinen Händen greifbare Original in einem sich wechselseitig ergänzenden Besitzverlangen betrachten und fleischlich durchstoßen zu können.
Als sich daher seine Wollust in einigen wenigen, heftigen Verkrampfungen seines Unterleibes entlud und Odette haltlos schreiend die Beherrschung verlor, wusste er, dass er, ungeachtet ihrer sicherlich weiterhin vorhandenen Nachteile, ein unschätzbares Kunstwerk gefunden hatte, dem er sich, je nach Aspekt und Betrachtung, einmal mit dem interesselosen ästhetischen Wohlgefallen, einmal mit der dem Manne eigenen Gier nach körperlicher Befriedigung und Abfuhr der Triebe würde nähern können, da ja beide Elemente in der kopulierenden Vereinigung gemeinsam dem Höhepunkt zustrebten, an dem Odette, wie er aus ihrem zweiten, unwiderstehlichen Ansturm ersehen konnte, das größte Interesse hatte.

(Aus: Versaute Klassiker. 30 erotisch gewendete Höhepunkte der abendländischen Literatur)

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 7098

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben