Auf Menschenjagd

Nach dem großen Sterben – Teil 25

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Auf Menschenjagd

Auf Menschenjagd

Reinhard Baer

Ich erfuhr das wichtigste in Kurzform.
Eigentlich könnte es Frederik gut gehen. Stabile Bevölkerungszahl mit Trend zu Wachstum, nach der Befreiung von Westward Falls auch ein ausgewogeneres Zahlenverhältnis zwischen Männern und Frauen. Sogar Geburten und Schwangerschaften konnten wieder registriert werden. Durch ein Netz von Frederik umgebenden wehrhaften Kleinsiedlungen, die unter dem Schutz von Frederik Lebensmittel anbauten sowie Fernhandel mit den Broken Bow-Städten und mit Westward Falls war auch die Versorgungslage stabil.
Wie gesagt, eigentlich konnte es Frederik gut gehen ... denn es war offensichtlich: der jetzige Zustand war außerordentlich fragil. Das wurde mir schnell klar, als Henry als Ressortchef "Öffentliche Ordnung" seinen Bericht abhielt. Sie hatten eine Polizeitruppe aufgebaut. Diese umfasste zwar nur 15 Mann, aber neben diesen 'Berufspolizisten' gab es eine Polizeireserve von weiteren 20 Mann und auch die städtischen Feuerwehrleute wurden nebenbei an Handfeuerwaffen ausgebildet. Für die Kriminalitätsbekämpfung in Frederik und im Tilman-County drumherum mit seinen etwa 20 Wehrsiedlungen reichte das vollständig. Auch für gelegentliche Übergriffe, die ab und an am westlichen Rand des Countys durch die Leute von ‚Hannibal Lecter‘ initiiert wurden, denn das Hammon-County war ja noch immer in anarchischer Finsternis versunken.
Was wirklich Sorgen bereitete, war der aufziehende Krieg zwischen den Bündnissen nördlich und südlich der Stadt.
Schon mehrfach waren auf ihren Nord-Süd- oder Süd-Nord-Durchmärschen paramilitärische Kleinverbände durchgezogen. Pöbeleien und Plünderungen hatten sich bisher in Grenzen gehalten, wohl auch weil die Situation nie eskalierte und die Polizei nicht eingreifen musste.

Im Osten waren zwar keine Übergriffe zu erwarten aber eben auch keine wirkliche Hilfe. Das ‚Broken Bow‘-Bündnis hatte ihre Mitgliedschaft ja seinerzeit abgelehnt und würden es jetzt erst recht tun, denn Frederik lag wie ein Stachel im gegnerischen Gebiet und würde ohnehin nicht zu halten sein ... Der Bürgermeister fragte mich nach meiner Meinung. Wäre es möglich neben der Polizei noch etwas Robusteres aufzubauen? Schwerer und v.a. anders bewaffnet? Und ob ich das leiten könnte? Ich zögerte lange mit einer Antwort und sagte dann nur: "Morgen, gleicher Ort, gleiche Zeit? Dann sprechen wir!" Alle waren einverstanden und so vertagten wir uns.

Am Nachmittag fuhr ich mit Joseph rum. Wir besuchten einige Wehrsiedlungen, damit ich mir ein Bild machen konnte. Sie waren ähnlich wie Westward Falls befestigt und konnten zumindest kleineren marodierenden Banden, die lediglich Handwaffen einsetzten, Wiederstand bieten. Dann fuhren wir zum Flugfeld. Denn Rest des Nachmittags musste ich nachdenken. Das ganze kam mir doch ziemlich wie eine ‚mission impossible‘ vor und ich war schon ganz verzagt. Teilte Linda, Karen und Joseph während des Abendessens meine Gedanken mit, wollte alle überreden mit mir tief in das Broken Bow-Gebiet zu ziehen, oder nach Westward Falls. Selbst auf der Arrowhead-Ranch schien es mir sicherer. Joseph hörte sich mit der Gleichmut des Alters alles an, ohne eine Miene zu verziehen. Er wusste, dass ich Recht hatte. Karen hielt sich sowieso raus. Aber Linda konnte ich im flackernden Licht der Kerzen das Gesicht verziehen sehen. Zornbebend sprang sie vom Tisch auf und stieß nur ein Wort hervor, als sie davon stürmte: "Feigling!" Karen ging ihr nach.
Joseph und ich saßen noch eine Weile schweigend am Tisch. Dann stand er auch auf. Dabei legte er mir eine Hand auf die Schulter: „Junge, du hast mit deiner Analyse recht - und dennoch liegst du falsch. Tu nichts was du später bereuen wirst.“
„Wa ... was denn?“
„Das musst du schon selbst rausfinden ...“ Und weg war er.

Ich ging zu Bett, meine Gedanken fuhren Karussell, ich war völlig aufgedreht. Da schlüpfte plötzlich Linda unter meine Decke. Nackt kuschelte sie sich an mich. Im Mondlicht sah ich, dass sie geweint hatte.
„Hast du dich hier heute richtig umgesehen? Mit den Wehrsiedlungen leben hier im Moment etwa 1.300 Menschen, Männer, Frauen und Kinder. Viele werden irgendwie klarkommen, wenn das hier zugrundegeht, viele aber auch nicht. Bei denen ist es ein Wunder, dass sie überhaupt so weit gekommen sind ... Hast du unserer Kindergarten gesehen? Die Schule?
Mit jedem Stück Gemeinwesen wie diesem wird unwiederbringlich ein Stück Zivilisation ausgelöscht und sich die Finsternis ausbreiten.“ Erneut fing sie an zu weinen.
Ich zog sie noch enger an mich. „Sch sch ... wir werden eine Lösung finden.“ Ich wollte gerade anfangen noch ein paar kluge Sätze hinterher zu schieben, als sie mir bedeutete nichts mehr zu sagen. Stattdessen machte sie sich an mir zu schaffen und war wenige Minuten später bereits dabei mir den Verstand rauszuvögeln. Die Waffen einer Frau ...
Ich grinste. Auch ohne ihren selbstlosen körperlichen Einsatz war mein Entschluss längst gefallen.

*********

Am nächsten Morgen um 11.00 Uhr trafen wir uns wieder. Harry, der Bürgermeister - wir waren alle per Du -, bat mich um meinen Bericht.

Ich legte meine Einschätzung kurz und knapp dar:
Erstens: Die Polizeitruppe und –reserve war gut gerüstet und ausgebildet, aber sie hatte andere Aufgaben als eine Stadt zu verteidigen
Zweitens: Selbst, wenn wir etwas Robusteres aufbauen würden, eine Art Mini-Armee etwa, könnte wir zahlenmäßig nie und nie nimmer den Feinden im Süden und Norden standhalten. Aber wir könnten damit die Eiter-Beule im Westen platzen lassen und das Hammon-County befrieden. Und wir würden Zeit gewinnen bis uns ein Anschluss an Broken-Bow gelingt.
Drittens: Wir bräuchten erst gar nicht auf Masse setzen, die notwendige Stärke könnten wir nie erreichen, aber auf Klasse, auf List und Raffinesse. Ich hätte da schon ein paar Ideen ...

Ich machte noch eine Reihe ergänzende Erläuterungen zu meinen Grundüberlegungen die offenbar so plausibel waren, dass man mir vertraute und mich zum ‚Sonderberater für Verteidigung‘ berief. In enger Zusammenarbeit mit Henry sollte ich meine Pläne vorantreiben. Damit wurde die Sitzung aufgehoben.

Ich verabredete mit Henry, dass wir die Polizei, die Polizeireserve und die Feuerwehrleute auf ehemalige Soldaten durchsehen würden. Die solle ich bekommen und er solle seine Reihen aus den Zivilisten wieder auffüllen.
Bei dieser Aktion kamen 14 Mann zusammen. Ein Anfang! Den Dienstgradhöchsten, einen Colonel der Reserve, machte ich zu meinen Stellvertreter. Mit ihm besprach ich den Kurs, ließ ihn im Folgenden aber bei den Details freie Hand.

Hollis

Ich hingegen unternahm einen Erkundungsritt nach Hollis, ‚the Home of Hannibal Lecter‘.
Es waren zwar nur 79 miles dorthin, aber mit dem Pferd ein Ritt von 2 Tagen. Kurz hinter Altus, dem Städtchen in dem ich ‚The Babarian‘ gekillt hatte, suchte ich mir einen Unterschlupf auf einer Ranch unweit des Highway 62. Die Besitzer waren sichtlich misstrauisch, ließen aber zu, dass ich weit vom Haupthaus entfernt mit Smith in einer massiven Scheune unterschlüpfte. Unter freien Himmel zu schlafen wäre zu riskant gewesen. Zu viele Donalds torkelten immer noch durch die Gegend, auch wenn es mit meiner Hilfe heute schon wieder fünf weniger geworden waren. Einige von Ihnen waren noch nicht lange untot gewesen. Ein Zeichen dafür, dass sie immer noch Opfer fanden.
Bevor Hollis in Sichtweite kam, versteckte ich meine Langwaffen und den Colt in einem Durchlass neben der Straße, denn ich wusste, dass die Kriminellen in Hollis keine Waffen außer den eigenen duldeten.

Als ich um die nächste Ecke bog, sah ich, dass ich meine Waffen nicht zu früh versteckt hatte, denn etwa eine Meile vor der Stadt hatten die Gesetzlosen einen Checkpoint errichtet. Massives Blockhaus mit Schießscharten, die Straße mehrfach von Hindernissen blockiert, die im Zickzack umfahren werden mussten. Selbst mit unserem für die Befreiung von Westward-Falls gebauten Durchbruchs-Lkw wären wir hier nicht durchgestoßen ... Und dann gründliche Durchsuchung auf Waffen. Absolutes Schusswaffenverbot in der Stadt! Da ich das bereits wusste, fanden sie bei mir nichts. Ich trottete auf Smith ins Zentrum. Dafür durchquerte ich ähnlich Frederik eine weitläufige Vorstadt mit ein- oder zweigeschossigen Holzhäusern auf großen Grundstücken. Auffällig viele davon schienen schon lange nicht mehr bewohnt.
Ich hatte es nicht eilig, wollte so viele Informationen sammeln wie möglich. Am Checkpoint hatte ich drei von Hannibals Ratten gezählt und ich wusste, dass er an allen drei Zufahrtsrouten zur Stadt so einen Checkpoint betrieb. Dafür waren also im 24/7-Betrieb mindestens 45 von den Verbrechern notwendig. Verdammt viele! Und wer weiß wie viele sich noch in der Stadt rumtrieben.
Zu erkennen waren sie leicht, denn sie waren sie einzigen Bewaffneten. Ich zählte nur die, die offensichtlich irgendeinen Dienst hatten. Das waren etwa 15, soweit ich sehen konnte, alle weiteren die ich sah lümmelten herum, vermutlich Checkpoint-Besatzungen im dienstfrei.
Im Zentrum die üblichen Gebäude: Townhall, Library, Bank, Bars und Geschäfte, das Courthouse als imposanter roter dreistöckiger Backsteinbau ...
Was ich nicht erwartet hatte: die Gebäude gruppierten sich um einen großen Platz und auf dem war ein Markt eingerichtet. Ein Markt für ... Menschen. In den Boden waren Ringe eingelassen und an den Ringen waren Menschen mit Fußketten befestigt, mal einzelne, mal eine ganze Traube, je nachdem wieviel "Ware" ein Händler anzubieten hatte. Farbige, Latinos, Weiße, Frauen, Männer ... Alles war im Angebot, selbst Kinder und Jugendlich ab etwa 12 Jahren. Das widerlichste waren vermutlich die beiden Zelte mitten zwischen den ausgestellten Sklaven. Ab und zu konnte ich beobachten wie ein potentieller Käufer eine Frau losketten ließ und mit ihr in einem der beiden Zelte verschwand. Kurz darauf kamen sie wieder zum Vorschein und die Frau wurde entweder wieder angekettet oder vom Käufer mitgenommen. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, was der Zweck der Zelte war!
Schon in einer vom Markt abzweigenden Nebenstraße fand ich das örtliche Bordell. Es wurde nicht schamhaft versteckt, sondern hatte eine prominente Lage. Das Gebäude selbst war ein unscheinbarer weißer zweistöckiger Flachbau, aber das Schild mit der Aufschrift:
„Horny Babes - Extremely good looking and willing!“ ließen keinen Zweifel am Geschäftszweck dieses ‚Etablissements‘.
Schnellen Schritts betrat ich es und suchte mir von den etwa 10 traurigen Figuren die dort an der Bar hockten eine etwa 25jährige schlanke Brünette aus. Hübsch aber mit leeren Augen starrte sie mich an.
Kaum hatten wir das Zimmer erreicht, ließ sie ihren Kimono fallen und ich schaute auf eine eigentlich schöne Frau mit vollen Brüsten, einer guten Figur und einem gewaltigem aber sorgfältig getrimmten Busch. Der komplette Gegenentwurf zu meiner mädchenhaften Linda. Wenn da nur nicht dieser tote Blick gewesen wäre ...
„Du verstehst mich nicht ... Zieh dich wieder an..."
Fragend schautet sich mich an.
„Nun mach schon, ich will dich nicht ficken.“
„Aber dann bekomme ich Prügel von meinem Besitzer, wenn ich nichts verdiene ..."
„Keine Angst, ich bezahle dich ... Und nun ...", ich deutete auf den auf den Boden liegenden Kimono. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, wobei ich das erste Mal Teile ihres Rückens sah. Er war übersät mit Brandspuren, ältere und frischere. Sie streiften ihren Kimono über und sah mich ängstlich an. Erst als ich ihr die üblichen fünf ‚New Dollar‘ gab, entspannte sie sich etwas.

Wir setzten uns auf das Bett. „Was ist dir passiert?“
„Wir waren bei der Feldarbeit, meine Eltern, mein Bruder, meine Schwester und ich. Unsere Männer waren bewaffnet, wegen der Donalds, aber auf hinterhältige Menschenjäger waren wir nicht vorbereitet. Sie haben meinen Vater und Bruder hinterrücks erschossen, meine kleine Schwester, damals 22, haben sie vor den Augen von mir und meiner Mutter vergewaltigt, einer nach dem anderen. Sie hat sich später in Gefangenschaft die Pulsadern aufgeschnitten. Das ist jetzt vier Jahre her. Mutter und ich sind dann hier auf dem Sklavenmarkt gelandet. Mich hat der Bordellbesitzer gekauft, für 199 ‚New Dollar‘. Er musste unbedingt einen Buck runterhandeln. Das fand er wohl witzig.“
„Und deine Mutter?"
„Ich weiß nicht, ich habe sie nie wieder gesehen.“
„Und wie lange ist das jetzt her?"
„Habe ich doch gesagt, vier Jahre.“ Ich schwieg vor Zorn und weil mir ein bisschen schlecht wurde. Vier Jahre musste sie schon in dieser Hölle aushalten.
„Und ... und ... der Rücken?"
Sie lachte bitter. „Das verdanke ich Baker, dem Besitzer vom Krämerladen in der Nachbarstrasse. Ist verheiratet und lässt regelmäßig seine sexuelle Frustration an mir aus. Da ich danach oft ein zwei Tage nicht arbeiten kann, zahlt er dem Bordellwirt dann den Verdienstausfall ..."
Ich hatte genug gehört.
„Erzähl mal von der Stadt.“
„Nun ja, wie du siehst, ist sie voller Sklaven, aber viele sind auch freiwillig hier. Haben sich hervorragend eingerichtet. Arbeiten für den Warlord oder gehen anderen Geschäften nach. Innerhalb der Stadtgrenzen geht es bemerkenswert friedlich zu. Die Bürgerrechte, wenn man welche besitzt, werden respektiert. Du wirst sehen, dass es hier ganz normal wirkende Familien - Vater, Mutter, Kind - gibt. Aber letztendlich sind sie fast alle in das System aus Ausbeutung und Raub verstrickt.
„Ich habe munkeln gehört, ‚Hannibal Lecter‘ trüge seinen Namen nicht nur so?“
Angewidert verzog Alice, so war ihr Name, das Gesicht. „Nein ganz bestimmt nicht. Mit relativer Regelmäßigkeit suchen seine Schergen auf dem Markt Mädchen aus, selten älter als 17 oder 18 die sie in sein Haus zerren und die nie jemand wiedersah.“
Mich fröstelte.

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