Die Bahnfahrt

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Die Bahnfahrt

Die Bahnfahrt

Ralf Thomas

Ich hatte die Schnauze voll. Gestrichen voll. Wir hatten uns tierisch gezofft - meine Frau und ich. Wegen der Kinder. Wegen uns. Wegen was weiß ich. Wegen dem Alltag eben.
Ich rief im Büro an: "Durchfall", log ich, "bin Morgen wieder da."
Ich nahm mir einen Tag Auszeit. Zum Abschalten. Zum Luft holen. Einmal Durchatmen. Ich stand einsam und verlassen auf dem Bahnhof, hatte mir gerade ein Länderticket von der Bahn gekauft. Wollte nur in den nächsten Zug steigen und ein Stück weg. Abstand gewinnen. Bis heute Abend.
Die S-Bahn fuhr ein. Die Rush-hour war bereits vorbei, der Zug fast leer. Ich warf meinen Rucksack in die Gepäckablage, ließ mich auf den Sitz fallen und starrte gedankenlos zum Fenster hinaus. Hinter dem Fenster lief ein Film, erst langsam, dann schneller. Farben, zu langen Linien verzogen, strömten an mir vorbei. Verfestigen sich wieder zu Konturen. Der Film hielt an. Auf dem Bahnsteig standen nur wenige Leute. Ein junges Mädchen. Halblange, seidig braune Haare tanzten mit den Spitzen auf ihren Schultern. Ein schneeweißes, bauchfreies Shirt betonte ihre schlanke Figur, die knackige Wölbung darunter hob den Stoff etwas von ihrem Bauch ab. Ein enganliegender Jeans-Mini gab die Sicht ab der Mitte ihrer Oberschenkel auf wohlgeformte, schlanke Beine frei.
Sie entschwand meinem Blick, hinter mir schlugen die Türen zu. Im Fenster begann es wieder zu flimmern. Der Film setzte sich fort. Grüne Punkte hüpften vor dem blauen Hintergrund auf und ab. Etwas stieß gegen meinen Fuß.
"Oh, Entschuldigung." Der Klang einer Elfe schwebte zu mir herüber. Ich kam wieder zu mir. Ein junge Frau bückte sich, langte nach ihrer Handtasche, die zwischen meine Beine gefallen war. Einen Augenblick lang öffnete sich das Shirt in einer Falte nach unten, offenbarte junge, feste Brüste, die durch einen Push-up BH künstlich nach oben gedrückt wurden. Sie sah mich verlegen an.
"Keine Ursache" entgegnete ich ihr erstaunlich ruhig.
Sie saß mir schräg gegenüber. Ich musterte sie aus den Augenwinkeln, der Film draußen war völlig uninteressant. Es war die Schöne vom Bahnsteig. Doch schon eine junge Dame mit richtig weiblichen Zügen. Sie mochte ungefähr siebzehn Jahre alt sein, etwas älter als meine jüngste Tochter. Unsere Blicke trafen sich immer wieder. Scheu. Lächelnd. Verlegen. Anmutig. Ich kam mir vor wie ein Teenager. Und hätte doch ihr Vater sein können. Sie hatte etwas faszinierendes an sich. Wirkte selbstbewusst, zerbrechlich, angriffslustig, stolz und unsicher zugleich. Spielte sie mit mir? Wollte sie mich anmachen? Um dann triumphierend an der nächsten Station einen älteren Typen kurz vor dem Herzinfarkt im Zug zurück zu lassen? Ein lustiges, grausames Spiel?
Die vorletzte Station vor dem Hauptbahnhof. Jeweils am Wagenende stiegen zwei unscheinbare Personen zu. Kaum hatten sich die Türen geschlossen vernahm ich den strengen Ton:
"Fahrscheinkontrolle. Die Fahrkarten bitte." Meine junge Dame wurde nervös. Verstohlen blickte sie sich über die Schulter, erkannte unweigerlich die Ausweglosigkeit ihrer Situation. Ich wettete hundert zu eins, sie hatte keinen Fahrschein. Wollte sich die Kohle für Klamotten sparen.
Das Netz um sie zog sich zu. Fast unmerklich ließ sie ihren Jeansrock höher rutschen. Die leicht gebräunten Oberschenkel kamen noch mehr zum Vorschein. Verlockend. Wie verbotene Früchte. Erschrocken fuhr sie zusammen, sie wusste, dass ich es bemerkt hatte. Ich blieb cool, hob dem Schaffner mein Ticket unter die Nase, den Blick fest auf die Augen des jungen Mädchens gerichtet.
"Danke." Er wandte sich dem Mädchen zu. Ängstliche Züge bahnten sich den Weg in ihr hübsches Gesicht. Ihr Gerhirn marterte sie, suchte krampfhaft nach einer plausiblen Ausrede.
"Länderticket. Fünf Personen einen Tag lang", stand auf der Werbetafel schräg hinter ihr.
"MEINE Tochter fährt mit MIR," erklang die Computersitmme aus meinem Mund. Meiner gegenüberliegenen Augenweide klappte das Kinn leicht herunter. Ich lächelte sie väterlich an und zwinkerte mit dem rechten Auge, so, dass es der Kontolleur nicht sehen konnte.
"Ist gut", murrte der Typ mich an und ging weiter. Ungläubig suchte sie meinen Blick. Unsere Augen konnten nicht voneinander lassen. Beide versuchten wir in dem anderen zu lesen, seine Gedanken zu erspüren.
"Nächste Station: Hauptbahnhof", krächzte es aus dem Lautprecher, unseren Blick wie mit einem Rasiermesser zerschneidend. Aufgewühlt und unsicher erhoben wir uns gleichzeitig. Mit einem unscheinbaren Handzeichen überließ ich ihr höflich den Vortritt zur Tür. Als sie an mir vorbei huschte, roch ich ihr dezentes Parfüm. Dieser Duft bahnte sich unweigerlich den Weg in meine Sinne. Legte mich an eine unsichtbare Leine.
Kurz nachdem wir den Zug verlassen hatten griff sie mir energisch an den Unterarm.
"Warum??? Warum haben sie das für mich getan?" Überraschung und Fassungslosigkeit stand in ihrem Gesicht geschrieben.
"Ich habe eine Tochter in ihrem Alter," erklärte ich ihr ruhig, "und Väter sind schließlich dazu da, ihre Töchter auch mal rauszuhauen. Auch wenn's eigentlich nicht Rechtens ist." Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie wollte irgend etwas sagen, den Mund geöffnet, aber kein Ton verließ diese zauberhaften, dezent geschminkten Lippen. Ihre Hand an meinem Arm ließ nicht locker. Ich genoss ihren fast schmerzhaften Griff auf meiner Haut. Wie ein Jungbrunnen floß ihre jugendliche Energie in meinen Körper. Ich zog sie mit mir zu den Rolltreppen.
"Verschlafen und in der Hektik die Monatskarte vergessen?", bot ich ihr eine Entschuldigung an, während der kalte Stahl uns knarrend nach oben schaffte.
"Mathe," kam zur Antwort, "wir schreiben heute Mathe und ich habe keinen Plan." Ehrlich. Entwaffnend. Keine Ausrede. "Zählt's schon zum Abi?" hakte ich nach. "Nein", sie schüttelte langsam den Kopf, erst die Elfte, aber schon in der zweiten Runde." Ich verstand.
"Heute Abend wieder alles klar?" wollte ich wissen. Stummes Nicken, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie erwartete einen Anschiss, den es bei ihr zu Hause sicherlich gegeben hätte.
Ich schleppte sie kurzerhand zum nächsten Stehcafe in der Bahnhofshalle. "Kaffee oder lieber noch Schokolade?" neckte ich sie. "Kaffee natürlich," kam prompt und ein wenig entrüstet die Antwort.
"Ich schwänze heut' das Büro, lass meine Seele baumeln. Die Welt kann mich gerade", schlürfend sog ich den Kaffee aus der Tasse. Sie brauchte eine Weile. Konnte meine Ehrlichkeit erst genausowenig fassen wie ich vorhin ihre. Zwei Seelenverwandte standen wortlos, zeitlos, von Hektik umgeben in der lauten Bahnhofshalle. Wußten so viel und doch nichts voneinander.
"Heidelberg, Freiburg oder Bodensee?" Ich schob ihr mein Ticket zu. "Bodensee! Ich war noch nie da", kam ohne zu Zögern die Antwort. "... abfahrbereit Zug nach Konstanz auf Gleis 7," dröhnte es durch die Luft. Ich schnappte sie am Handgelenk. Wir ließen die Kaffeetassen halbvoll stehen und rannten quer durch die Halle. Der Zugchef war freundlich, ließ uns noch in die letzte Tür hechten. Schnaufend ließen wir uns nebeneinander auf die Sitzbank fallen. Quietschend setzte sich der Zug in Bewegung. Nur wir im Wagen. Stille. Ich hielt immer noch ihre Hand. Schweigend, mit unsicherem Blick suchte ich ihre Augen. Die Finger ihrer anderen Hand berührten meinen Unterarm, kraulten dort meine Haare.
Der Schaffner führte uns in die Wirklichkeit zurück. Wir lösten uns voneinander und ich zog das Ticket aus der Gesäßtasche. Sie nutzte die Gelegenheit, setzte sich mir gegenüber. Damenhaft schlug sie die Beine übereinander. Weniger damenhaft rutschte ihr Jeans-Mini atemberaubend nach oben. Ich schluckte. Feuchte befiel meine Handflächen, meine Halsschlagader pochte.
"Was ist?" fragte sie scheinheilig. "Was soll sein? Hattest du noch keinen Freund? Ich bin auch nur ein Mann und habe Augen im Kopf."
Sie nahm das Kompliment an: "Danke." Ihre Augenlider flatterten. Es knisterte. Elektrizität lag in der Luft wie bei einem heranziehenden Gewitter. Ich lehnte mich angespannt zurück, wartete auf den ersten Blitz, der zentral in meinem Hirn einschlagen würde.
Sehnsuchtsvolle, braune Augen lösten ihn aus. Er traf mich mit aller Wucht. Wie oft hatte ich mir eine solche Situation schon gewünscht, erträumt, mir vorgestellt? Unzählige Male mit meiner ganzen Phantasie ausgemalt: das Finale auf der Zugtoillete, wenn SIE sich weit nach vorne gebückt am Waschtisch festzuhalten versuchte, während ich hinter ihr stand. Tief in ihr versunken. Der schwankende Zug und meine Bewegungen in ihrem hungrigen Tal der Lust sich mal aufhoben, mal ergänzten. Herabhängende, baumelnde Brüste den einzigen Halt in diesem Sturm gaben...
Schweiß durchfeuchtete ihr Shirt unterhalb ihres Busens. Dachte sie ähnliches?
"Du Schwein", durchfuhr es meine wirren Gedanken, "sie könnte deine Tochter sein!" Sie schlug ihre Beine wieder auseinander. Auffordernd. Sehnsüchtig nach Zärtlichkeit, die sie bei ihrem Freund wohl nicht fand. Ich rutschte vor bis zur Sitzkante. Meine Hände kamen auf ihrem Jeansrock zu liegen, die Fingerspitzen unmittelbar vor dem Hüftknick. Ich fühlte ihre strammen, fast noch mädchenhaften Oberschenkel. Meine Hände wurden noch wärmer, erzeugten ein Kraftfeld durch den festen Stoff hindurch. Scharf sog sie die Luft durch ihre geschlossenen Zähne, biss sich auf die linke Unterlippe. Der Abdruck zweier Zähne blieben zurück.
Sie richtete sich auf, drückte ihren Rücken durch. Streckte mir ihre verführerische Oberweite verlangend entgegen. Die glatte Haut ihre Bauches straffte sich noch mehr, ihr Bauchnabelpiercing trat deutlich hervor. Meine Hände zitterten mehr und mehr, konnten sich kaum mehr dort halten, wo sie sich befanden. Ich versuchte in der Wirklichkeit zu bleiben. Das Schwein und der Vater in mir schlugen wild aufeinander ein. Mein innerer Kampf blieb ihr nicht verborgen. Finger auf meinen Handrücken. Zärtliche Finger, die Liebe suchten, zaghaft, mutig. Langsam schob sie meine Hände über den Saum des blauen Stoffes. Samtweiche Haut auf festem Fleisch glitt unter meinen Handflächen hindurch.
Ich wagte kaum zu atmen. Der zweite Blitz schlug mit unbarmherzlicher Härte ein. Ihre Bewegung hielt inne. Feuchtigkeit sammelte sich zwischen unserer Haut. Nebelschwaden zogen von ihren geilen Schenkeln hinauf, kondensierten zu Tropfen an meiner Stirn. Irgend etwas hämmerte gnadenlos in meinem Hinterkopf. Ihr Becken kam mir entgegen. Der Rock blieb am Sitzpolster kleben, offenbarte mir bis auf eine knappe Handbreit die volle Länge ihrer grazilen Beine. Ihre Knie öffneten sich leicht, gaben mir den Blick frei auf die Innenseiten ihrer Schenkel bis hoch hinauf zu...
Meine Augenlider krachten herunter. Mühsam, wie einen alten Rolladen aus massivem Holz, zog ich sie wieder hoch. Erwartung, Enttäuschung, Kränkung las ich in ihrem Gesicht.
Fast unhörbar: "Was ist los? Gefall' ich dir nicht?" Ein falsches Wort von mir und die Feuchtigkeit in ihren Augen würde sich zu Tränen sammeln. "Du bist die Versuchung in Person", gestand ich ihr mit trockener Stimme. "Aber ich könnte dein Vater sein." "Mein Vater wäre da sicher nicht so rücksichtsvoll", senkte sie ihren Blick. Meine Rechte befreite sich, umfasste sanft ihr Kinn und erhob ihren zierlichen Kopf. Eine nasse Spur bahnte sich den Weg an der Nase entlang hinunter zum Mundwinkel. Schmerz musste sie verursacht haben.
Vorsichtig küsste ich ihr den salzigen Tropfen von der Oberlippe. "Wenn ich die Situation jetzt ausnützen würde, was für ein Bild hättest du dann von mir - als Mann? Das, eines verständnissvollen Vaters? Oder das eines lüsternen, schwanzgesteuerten Typen, der jedes Mädchen bei sich bietender Gelegenheit flach legt?"
"Aber," versuchte sie mich umzustimmen, "aber bei dir ist das doch was anderes! Das fühle ich."
Feuchte Augen flehten nach zärtlichen Berührungen. Bedächtig schüttelte ich den Kopf. Vom Schwert der Vernunft tödlich getroffen, sackte der Schweinehund in mir zu Boden.
Ich hätte sie haben können. Hier und jetzt. In der Zugtoillete direkt hinter meinem Sitzplatz. Meinen verruchten Traum Wirklichkeit werden lassen! Wir ließen voneinander ab. Sahen uns an und begannen zu reden. Fassten schnell Vertrauen, kehrten unser Innerstes nach Außen. Offenbarten uns schonungslos dem Anderen. Sorgen. Enttäuschungen. Ängste. Hoffnungen. Als wir zwei Stunden später in Konstanz ankamen, glaubte ich sie zu kennen. Wie einen alten Freund aus uralten Tagen. Die Sonne schien, es war angenehm warm. Der Bahnhof liegt direkt am See, nur einen Steinwurf weit weg vom Ufer. Glücklich wie zu Weihnachten gab sie mir einen dicken Kuss auf die Wange - sie war zum ersten Mal am Bodensee.

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