Er setzte sich in die Nähe des Podiums, bestellte ein Bier und lauschte der Musik. Die Frau war anscheinend erfreut, dass noch ein Gast gekommen war. Einer der sich für ihre Kunst interessierte, der aufmerksam zuhörte, sich nicht ablenken ließ und dessen Augen sie auf Schritt und Tritt verfolgten. Nach dem zweiten Lied trat sie an seinen Tisch und raunte ihm zu, dass sie das nächste Chanson für ihn, nur für ihn singen würde. „Besame mucho“, die einschmeichelnde Musik erklang ganz leise. „Besame mucho como si fuera esta noche la ultima vez.” Sie umkreiste ihn, suggerierte ihm mit rauer Stimme, dass ihre Küsse ihn nur noch in dieser Nacht betören würden. Dann setzte sie sich auf seinen Schoß und hauchte ihm ins Ohr: „Besame, besame mucho, que tengo miedo a perderte, perderte despues.“ Auf eindringliche Weise übermittelte sie ihm die Angst, ihn nach dieser ersten und letzten gemeinsamen Nacht zu verlieren. Er war gerührt. Sie erhob sich lächelnd und sagte, dass sie nun ein Lied singen werde, das nicht zu ihrem Programm gehöre, ein Lied, das sie und ihr Partner, sie sagte, mein Partner und nicht mein Mann, selbst komponiert und getextet hätten und das sie nur zu besonderen Gelegenheiten und nur für besondere Personen vortragen würde. Er verstand den Text nicht und auch die Musik war nicht ganz sein Fall, aber er spendete lebhaft Applaus und fragte, ob er die beiden als Dankeschön zu einem Getränk einladen und auch noch ein Foto von ihnen machen dürfe. Er durfte beides und er machte mehr als nur ein Foto. Die Bilder waren, wie sich später zeigte, ganz gut geworden. Die banale, an eine Bahnhofshalle erinnernde Atmosphäre war überhaupt nicht mehr zu ahnen und die Blicke, mit denen die Frau in die Linse und damit auf ihn geschaut hatte, waren Blicke, wie man sie sich als Mann wünschte. Blicke der Sehnsucht und des Verlangens. Blicke, die eine verliebte Frau ihrem Liebhaber zu Beginn oder am Ende einer Nacht voller Seligkeit zuwirft. Nach ihrem speziellen Lied hatte sie ihn gefragt, ob sie Bilder von ihm bekommen könne und ihm ihre Adresse aufgeschrieben. Er hatte ihr versprochen, Abzüge zu schicken, aber er hielt, wie so oft, sein Versprechen nicht ein. Doch das konnte sie nicht wissen und so sang sie noch ein paar richtig schöne, melodiöse Lieder, nur für ihn, allein für ihn: „Veinte Anos – Dos Gardenias – Descripcion de un sueno, einige Tangos, Paso dobles, kurzum: mejor musica latina. Dabei umgarnte sie ihn, strich um ihn herum, verwirrte ihn, fasste ihn an der Hand, zog ihn von seinem Stuhl hoch und begann mit ihm zu tanzen und beim Tanzen zu singen. Sie drückte sich an ihn, flüsterte den Text der Lieder in sein Ohr. Das Mikrofon hatte sie schon längst beiseitegelegt, für diese intime Privatvorstellung brauchte sie es nicht. Die Stimmung, in die sie ihn versetzte, war voller erotischer Spannung, exotisch und erotisch, trotz der Kahlheit des Raums, trotz des ungemütlichen Ambientes. Der Mann, vielleicht ihr Mann oder doch nur ihr Partner, saß die ganze Zeit ungerührt hinter seinem Schlagzeug. Er schien solche Einlagen zu kennen oder ihr Verhältnis, sofern es eines gab, hatte sich im Laufe der Jahre abgekühlt. Die anderen Gäste hatten den Club schon längst verlassen und der Barkeeper gähnte. Es war deutlich nach Mitternacht und irgendwann hörte auch die Sängerin auf, leise bedrängt von ihrem indifferenten Partner. Dann war Schluss mit der Vorstellung. Er verabschiedete sich von der cantante sehr herzlich. Sie gaben sich Küsschen auf die Wangen und er drückte ihr einen Geldschein in die Hand, was sie veranlasste, seine Hand lange, sehr lange festzuhalten. Er war schon im Gehen, als ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte, woher die beiden eigentlich kamen. Er dreht sich noch einmal zu ihr um und fragte, ob sie aus Argentinien kämen, der Tangos wegen. Nein, aus Kuba, war die Antwort und er meinte, dass er darauf selbst hätte kommen können, bei all den kubanischen Titeln, die sie gesungen hatte. Sie lebten aber schon lange in Europa, erklärte sie noch und sie seien ständig unterwegs, in Clubs, in Bars, auf Festivals. Ein Nomadenleben. Vielleicht würden sie sich ja irgendwo noch einmal begegnen, und wenn er wolle, könne er ihre Telefonnummer haben. Sie tauschten ihre Nummern aus, aber er rief sie auch nie an und sie rief ihn nie an und der Charme der Begegnung verblasste und die Erinnerung tauchte nur noch dann auf, wenn er romantische kubanische Lieder hörte.
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