Bahnhofsmilieu

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Bahnhofsmilieu

Bahnhofsmilieu

Yupag Chinasky

Oben, in der Bahnhofshalle, ist es in der Tat hell und erträglich und durch die Drehtüren strömt frische Luft herein. Hier kann man die nostalgische Architektur genießen, die kühnen Konstruktionen der damaligen Zeit, die lichte Höhe der Halle, das viele Glas in der Hauptfront, den Blick in Richtung Stadtzentrum. Auch wenn an manchen Stellen der Verputz von den Wänden bröckelt und die einstmals weißen Kunststoffpaneele der Decken gelb und schmutzig geworden sind, versteht man, warum dieses Gebäude Geschichte geschrieben hat, Architekturgeschichte. In der großen Halle kann man süße Waffeln kaufen, scharfe Würstchen essen, diverse Sorten Bier trinken, ja sogar an einem viel belagerten Stand Austern schlürfen – dégustation des fruits de mer. Es gibt Läden mit Blumen und Reisebedarf, Kioske mit Zeitschriften und Tabakwaren und einen Drogeriemarkt. Eine high-tec WC-Anlagen mit technisch ausgeklügelter Zugangskontrolle erscheint dagegen irgendwie fehl am Platz, vor allem wenn man sie mit den Schaltern für die Fahrkarten vergleicht. Richtige altmodische Schalter mit Glasscheiben, in deren Mitte ein kleines perforiertes Sprechloch ist und auf der Ablage ein Drehteller für den Austausch von Fahrkarten gegen Geld.

Die große Halle ist genau so voller Menschen wie die Bahnsteige, aber sie verteilen sich und es ist längst nicht so beklemmend wie im Untergrund. Nicht alle Anwesende sind Reisende. Die meisten gehen zwar zielstrebig in irgendeine Richtung, zu den großen Drehtüren, die ins Freie führen, zu den Rolltreppen in die Unterwelt, zu den Kiosken und Geschäften oder zu den Schaltern. Aber manche stehen nur herum und warten, auf irgendjemanden, auf irgendetwas, vielleicht auch nur auf eine günstige Gelegenheit, was auch immer günstig heißt. Es empfiehlt sich, auf sein Gepäck zu achten, auf die Handtasche, die schwarze Umhängetasche mit dem angebissenen Apfellogo und dem teuren Laptop darin oder auf den Geldbeutel in der Gesäßtasche. Die Vorsicht wird von Zeit zu Zeit bestärkt durch krächzende Durchsagen, die aus altertümlichen Lautsprecherröhren schallen und mahnen, keine Gepäckstücke unbeaufsichtigt stehen zu lassen.

Man sieht alle möglichen Leute, Menschen jedweder Couleur und Hautfarbe. Hier der Geschäftsmann im gestreiften, schwarzen Nadelanzug oder sein weibliches Pendant im gedeckten Kostüm. Und um den Bierausschank herum, eine Gruppe Touristen mit exotischen Kopfbedeckungen und Bergen von Koffern, die wohl direkt aus einem Urlaubsparadies gekommen sind. Zu Stoßzeiten bevölkern Massen von Pendlern die Halle, die rasch zum Arbeitsplatz oder noch rascher zurück nach Hause eilen. Die herumalbernden Schüler und die trödelnden Rentner scheinen es dagegen nicht eilig zu haben. Sie stehen herum, lungern herum, genauso wie manche unangenehme Typen in allen Stadien des sozialen Abstiegs. Sie betteln, schnorren ein paar Cent, indem sie vorgeben unbedingt eine Fahrkarte kaufen zu müssen oder klagen, dass sie schon, wer weiß wie lange, nichts mehr gegessen hätten. Junkies und Punks in abenteuerlicher Bemalung und exotischem Outfit sitzen in einer Ecke auf dem Boden, ihre Schäferhunde dösen und sie wechseln nur unwillig ihren Standort, wenn eine Polizeistreife sie auffordert, zu verschwinden.

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