Bahnhofsmilieu

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Bahnhofsmilieu

Bahnhofsmilieu

Yupag Chinasky

Das Chaos des Untergrunds setzt sich fort, wenn man das Gebäude durch den Hintereingang verlässt. Während der Haupteingang den Weg direkt in das Zentrum weist, in das pulsierende, gepflegte Herz der Stadt, öffnet sich ein neues Labyrinth, kaum dass man den Hintereingang durchschritten hat. Man irrt durch Unterführungen, steigt auf schmalen Treppen hinab zur Ebene der Gleise und hinauf zur Ebene der Hochstraßen, die die Bahnhofsanlage überqueren, umrundet gewaltige, betonierte Pfeiler, kommt an Laderampen und Eisentoren vorbei. Schwach beleuchtete Tunnel scheinen ins Ungewisse zu führen, an ihren Wänden abgerissene Plakate, aber auch Streetart, Kunst an einem Ort, wo man sie nicht erwartet. An manchen Mauern haben sich die Künstler richtiggehend ausgetobt: anspruchsvolle Graffitibilder neben banalem Gekleckse, Schriftzüge mit politischen Parolen und Schlagwörter eindeutig sexuellen Inhalts. Verlässt man die unmittelbare Nähe des Bahnhofs, das Gewirr der Unterführungen, der Andienungs- und Verkehrstechnik, beginnt das Labyrinth der Wohn- und Geschäftsstraßen. Die Hausfronten sind heruntergekommen und hässlich, die Eingangstüren alt, die Briefkästen verlottert, die Türklingeln ein Wirrwarr, die Fenster aus billigem Glas mit altmodischen Klappläden oder ausgeblichenen Jalousien. Man geht an billigen Kneipen vorbei, trifft auf Ein-Euro-Läden und alle Arten von Billiggeschäften, sieht aber auch nostalgische Tante-Emma-Läden, kommt an heruntergekommenen Import- und Exportläden vorbei und gelangt schließlich in das Gebiet der Sexshops, Spielhöllen und Wettbüros. Man eilt auf schmalen Bürgersteigen an stinkenden Autoschlangen entlang, umrundet falsch geparkte Wagen, die den spärlichen Platz weiter verengen, steigt über Fahrradständer, die das Trottoir versperren und ekelt sich vor den schwarzen, manchmal aufgeplatzten Müllsäcken vor den Haustüren, willkommene Edelfreßlokale für Ratten. All die Straßen, Gassen, Sackgassen, Plätze, Einfahrten scheinen kein logisches Muster zu bilden, sie scheinen ohne Plan entstanden zu sein, eine kongeniale Fortsetzung des Bahnhofslabyrinths, dem man nur scheinbar entronnen ist.

Er kam berufsbedingt oft in die Stadt. Tagsüber hielt er sich in anderen Vierteln und anderen Kreisen auf und sein Stammhotel war ein nostalgisches, prächtiges Grand Hotel, mitten im Zentrum, in der guten Stube der Stadt. Aber auf dem Weg zum Flughafen musste er unweigerlich zu dem Bahnhof. Wenn es ging, nahm er sich die Zeit, um durch diese Labyrinthe zu streifen, sei es nur für eine Stunde oder, wenn er übernachten musste, auch einen Abend lang. Es war ihm ein Bedürfnis, die seltsame, abstoßende und zugleich faszinierende Atmosphäre in sich aufzunehmen und in Fotos festzuhalten. Das Bedürfnis war im Laufe der Zeit zu einer richtiggehenden Obsession geworden.

Das Fenster

Mitten in diesem heruntergekommenen Viertel, in der Nähe der Sexshops und der Wettbüros, liegen die Straßen mit den beleuchteten Schaufenstern. Die Lichter schimmern meist rot, aber auch blau, violett oder gelb und wenn es geregnet hat, spiegeln sich die Farben auf dem nassen Kopfsteinpflaster, das sich hier noch häufig findet. Das bunte Licht stammt von kurzen Neonröhren, die an den Fenstern angebracht sind, meistens horizontal am oberen oder unteren Rand, manchmal aber auch vertikal an den Seiten. Hinter den Fensterscheiben sitzen die Frauen auf Hockern, Lehnstühlen und sogar in Polstersesseln. Junge, alte, dicke, dünne, meist allein, manchmal zu zweit, manche hübsch, andere unauffällig. Einige sind richtiggehend hässlich und das bei diesem Beruf, der vom schönen Schein lebt. Fast alle tragen sehr knappe Arbeitsbekleidung: Dessous, Korsetts, Ledermonturen, Netzstrümpfe, High-heels, Stiefel mit Schäften bis über die Knie. Viel nackte Haut wird zur Schau gestellt, herausgepresste Brüste, freie Pobacken, lange Beine. Manche erscheinen vulgär und nuttig, viele könnten aber aus jeder Reihenhaussiedlung kommen, aus den Vororten der Großstadt oder aus irgend einem Provinznest. Andere wiederum sind exotisch, sehen südländisch aus, auch viele dunkelhäutige Frauen, Asiatinnen sind dagegen seltener. Hier findet sich alles an Weiblichkeit, was man sich als triebhafter Mann so wünscht. Hier ist Verführung pur versammelt, käufliche Erotik, aber keine Liebe, wie einem mit all den Symbolen, den roten Herzen, den roten Schmollmündern oder dem inflationären Schriftzug „amour, love, Liebe“ suggeriert werden soll. An manchen Fenstern sind die Vorhänge zugezogen, ein Zeichen, dass die Damen beschäftigt oder abwesend sind, aber es gibt immer, zu jeder Tages- und Nachtzeit genügend Fenster, die offen sind.

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