Die Frauen sitzen meistens nur untätig herum und warten auf Kundschaft. Sie klopfen an die Scheiben, wenn ein Mann vorbeischlendert und hungrig, geil oder neugierig zu ihnen hinschaut. Sie öffnen dann schon mal das Fenster, rufen schmeichelnde Worte, schäkern, wenn der Freier zurücklacht, schimpfen, wenn er sie ignoriert. Manche unterhalten sich, oft sehr lautstark, von einem Fenster zum anderen. Es sind nicht nur Komplimente, die sie austauschen, auch hier herrscht Konkurrenzkampf, auch hier geht es um das Überleben. Manche sehen fern, andere haben die kleinen Kopfhörer ihres MP3-Players im Ohr. Es gibt sogar welche, die lesen oder stricken, während sie warten, stundenlang warten, tagelang warten, immer warten. Es ist ein Warteberuf, in dem sie gelandet sind.
Wenn er bei seinem Herumstreunen durch das Viertel die Straßen mit den bunten Lichtern aufsuchte, an den Fenstern entlang streifte, die Frauen taxierte, Desinteresse heuchelte, Gespräche und Annäherungsversuche abblockte, geschah dies vor allem, um die ungewohnte, exotische, leicht verruchte Atmosphäre aufzunehmen. Ihn reizte der Widerschein der farbigen Lichter auf den Pflastersteinen, die Schatten der Männer, die von Fenster zu Fenster gingen, die Blicke der gelangweilt wartenden oder aggressiv fordernden Frauen, die Überraschungen, die sich boten, wenn man in die Fenster schaute. Sicher, er war ein Voyeur, aber vor allem war er ein Jäger und Sammler, ein Fotograf aus Leidenschaft, einer der für ein gutes Motiv, für ein reizvolles Bild, für eine außerordentliche Szene, fast alles gegeben hätte. Aber nur einmal war er vor einem Fenster stehen geblieben, hinter dem eine besonders apart aussehende, schwarze Frau saß, und hatte seine Kamera aus der Tasche gezogen. Noch bevor er abdrücken konnte, hatte sie fuchsteufelswild das Fenster aufgerissen und ihn angeschrien, er solle abhauen, er solle sich verpissen, wenn er was wolle, solle er hereinkommen und bezahlen. Dies war sein einziger Versuch gewesen, die Atmosphäre des Rotlichtmilieus mit offenem Visier fotografisch festzuhalten. Er war vorsichtig geworden und machte seine Bilder in den kritischen Umgebungen nur noch heimlich.
Er war aber nicht nur Fotograf, sondern auch Mann. Und es war nicht so, dass er unberührt, wie ein Heiliger die Versuchung einfach ignorierte. Ihn überkam durchaus die Lust und die geballte Ansammlung weiblicher Hormone ließ ihn keineswegs unbeeindruckt oder kalt. Nein, wenn er durch die Neonstraßen ging, stellte er sich vor, mit einer schlanken Latina, mit einer drallen Blondine oder doch lieber mit einer rassigen Afrikanerin im Hinterzimmer zu verschwinden. Aber wenn es darauf ankam, Kontakt aufzunehmen, an eines der Fenster zu treten, die Bedingungen auszuhandeln und nach dem Preis zu fragen, wurde sein Mund trocken und die Hände feucht. Seine üblichen Zwangsvorstellungen überkamen ihn und verhinderten, dass er sich auf ein Abenteuer einließ. Er fürchtete, dass genau in dem Moment, in dem er in einem der Zimmer wäre, eine Razzia stattfinden könnte. Oder dass er sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Aids oder eine andere schlimme Krankheit einfangen würde. Oder, ganz bescheuert, dass ihn die Braut mit k.o.-Tropfen lahmlegen würde, nein trinken würde er in solch einer Umgebung nichts, aber sie könnte auch ein teuflisches k.o.-Gas einsetzten und ihn dann beklauen. Das erschien selbst ihm etwas weit hergeholt, aber klassischer Beischlafdiebstahl, das war doch im Bereich des Möglichen. Erst ein wenig Lust, ein wenig Erregung, vielleicht sogar Herumgefeilsche und Frust, weil es nicht so war, wie versprochen und danach wäre auch noch alles weg, das Geld, die Kreditkarte, alle wichtigen Dokumente. Nicht genug, dass Verluste zu beklagen wären, die Erklärungen und Rechtfertigungen bei der Polizei wären höchst unangenehm und der Gipfel des Horrors würde ihn zu Hause erwarten, bei seiner Frau, wenn er ihr diese Verlust erklären müsste. Es grauste ihm, wenn er an all die Gefahren dachte, die ein solcher Besuch mit sich bringen könnte. Hinzu kam, dass er ein ziemlich geiziger Mensch war und mit Sicherheit den ganzen Abend, den folgenden Tag, ja noch Wochen und Monate dem Geld nachgetrauert hätte, das er für ein paar Minuten Glückseligkeit, so er die denn überhaupt bekäme, hätte bezahlen müssen. Sein größtes Problem war jedoch, dass diese Angst sich nicht nur auf die risikoreiche Situation beschränken würde, sondern sich in seiner Psyche festsetzen würde. Er hatte große Angst, dass er im entscheidenden Moment versagen könnte, dass er zu früh oder gar nicht kommen würde, dass er einen unbeholfenen Eindruck machen würde, den Eindruck eines weltfremden Provinzlers in der sündigen Stadt. Er fürchtete, dass seine zur Schau gestellte Selbstsicherheit erschüttert und als bloßer Schein aufgedeckt werden würde. Er war den intimen Umgang mit fremden Frauen nicht gewohnt und tat sich schwer, das zu ändern. Einerseits wollte er durchaus mal ein solches Abenteuer, aber er suchte es dennoch nicht ernsthaft, denn er war zu feige, zu ängstlich, zu unsicher, zu verklemmt, ein typischer Versager. All diese Gründe führten dazu, dass er die Neongegend zwar immer wieder aufsuchte, wie unter Zwang, aber nur wie ein Schatten durch die Straßen schlich.
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.