Aber eines Tages ist er doch über diesen, seinen Schatten gesprungen und hatte das getan, was ein Mann tut, wenn er hierherkommt. Er war vor einem Fenster stehen geblieben und war nicht scheinbar unbeteiligt vorbei geschlendert, den gierigen Blick so gut es ging verbergend. Das Fenster lag am Ende einer schmalen Gasse, die nur durch ein paar trübe Laternen erhellt wurde. Es war ein einzelnes, beleuchtetes Fenster, ohne rotes Neonlicht. Nur ein schwacher, gelber Lichtschein drang bis auf das Pflaster. Kaum jemand schien sich in diese Gasse zu verirren. Er war allein, als er an dem Fenster vorbeiging, das erst in der Nähe als Arbeitsstätte des horizontalen Gewerbes zu erkennen war. Die Neugier packte ihn, er wechselte die Straßenseite, kehrte zurück und späte aus schützender Entfernung in das helle Rechteck. In dem gelben Licht einer Stehlampe sah er zunächst nur ein paar lange, schlanke Beine in schwarzen Leggins und roten Pumps. An den schmalen Fesseln glitzerten silberne Kettchen. Der Rest der Frau, die auf einem Hocker saß, befand sich im Schatten und war von seinem Standpunkt aus kaum zu erkennen. Er sah jedoch, dass sie im Unterschied zu ihren Kolleginnen, die ihre Reize meist großzügig und plakativ zur Schau stellten, keine nackte Haut zeigte. Sie sandte auch keine anderen Signale aus, die einen Mann kirre machen und in das Zimmer locken sollten. Sie klopfte weder an die Scheibe, noch rief sie, noch winkte sie. Die Frau saß nur ruhig auf ihrem Hocker und blickte auf die dunkle Straße. Es schien, dass sie gar nicht wahrnahm, was dort geschah oder dass es sie nicht interessierte. Jedenfalls stand er eine ganze Weile auf dem Trottoir und starrte sie an, ohne dass etwas geschah. Doch genau das faszinierte ihn, diese für das Milieu ungewöhnliche, demonstrative Zurückhaltung. Und so ganz langsam reifte in ihm der Gedanke, endlich doch einmal einen Besuch zu wagen, endlich doch einmal seinen geheimen Wünschen nachzugeben. Doch dann kam wieder die als Pragmatismus getarnte Angst auf. Sollte er nicht lieber weiter gehen, zurück in das Hotel, um sich dort mithilfe des Pornokanals eine Ersatzbefriedigung zu schaffen? Oder eines der Blue-Movie-Kinos in der Nähe des Bahnhofs aufsuchen oder sich in einem der zahlreichen Sexläden Zeitschriften und Videos anschauen oder vielleicht, warum auch nicht, durch ein Loch glotzen und eine nackte, lebende Frau beobachten, die sich auf einer Drehscheibe räkelte, bis die Klappe wieder fiel? Die Frau, die ihn zweifelsohne bemerkt haben musste, half ihm in keiner Weise, eine Entscheidung zu fällen. Sie tat nichts und genau dies Verhalten reizte ihn immer mehr und schließlich überquerte er die Gasse und trat vor ihr Fenster. Erst jetzt beugte sie sich ein wenig vor und öffnete das Fenster einen Spaltbreit, hielt jedoch ihren Oberkörper und das Gesicht nach wie vor im Schatten. Sie schien fast unwillig über die Störung zu sein, sagte nicht, „wie wäre es mit uns, Süßer“ oder etwas Ähnliches, fand auch keine aufmunternden oder gar auffordernden Worte, wie „na komm rein“, sondern sagte stattdessen, sie würde eigentlich nur Stammkundschaft empfangen und ihn hätte sie noch nie gesehen. Aber, so fuhr sie mit einer tiefen, angenehmen Stimme fort, heute sei nichts los und sie erwarte auch niemanden mehr und er könne hereinkommen, wenn er wolle. Dann wurde sie doch noch geschäftsmäßig und fügte hinzu, dass er sein Kommen nicht bereuen würde, alles sei bestens, sie würde sich Zeit nehmen und es mit ihm schön langsam machen, sie würde alles machen, was er wolle und alles würde sicher zu seiner vollsten Zufriedenheit ablaufen. Sie gab ihm sozusagen eine Geld-Zurück-Garantie bei Nichtgefallen, wenn es so etwas in diesem Metier geben würde. Nur als sie den Preis für ihr Komplettangebot nannte, alles andere als ein Schnäppchen, zögerte er. Aber dann gab er sich doch einen Ruck und nickte.
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