Bahnhofsmilieu

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Yupag Chinasky

Als sie endlich fast nackt neben ihm saß, nur noch in BH und Slip, merkte er, was andere sicher viel früher bemerkt hätte, was andere vielleicht davon abgehalten hätten, zu ihr zu kommen. Er war sichtlich schockiert. Neben ihm saß eine Frau in deutlich fortgeschrittenem Alter, ja eine geradezu alte Frau. Die Haut war, bis auf das geschminkte Gesicht, faltig und fleckig. Sie war nicht nur schlank, sie war mager, die Knochen zeichneten sich deutlich ab, die Rippen, die Schulterblätter stachen hervor. Es war eine überreife Frau, die durch Kleidung, Bemalung und Verhalten ihr wahres Alter geschickt kaschiert hatte. Nun verstand er auch ihre Zurückhaltung, neuen Kunden gegenüber und ihren Wunsch, nur noch Stammkundschaft zu bedienen. Sie merkte, wie er reagierte, wie er sie enttäuscht anstarrte, unschlüssig, was er machen sollte, bleiben oder doch lieber gehen. Es war sicher nicht das erste Mal, dass sie diese demütigende Situation erlebte. Sie blieb aber freundlich, bemerkte nur, dass sie zwar nicht mehr taufrisch, aber durchaus noch brauchbar sei und dass es eben nun mal so sei. Nach dem anfänglichen Schock fügte er sich in die Situation, weil auch er einsah, dass sie nun mal so war, wie sie war, sowohl die Frau als auch die Situation und beschloss mit einem lang gedehnten „aaaaalors, bien“ zu bleiben. Der kritische Augenblick der Wahrheit war überstanden, die Frau seufzte erleichtert auf, wendete sich ihm zu, streichelte ihn sanft und begann ihn mit der Erfahrung einer reifen Frau, die ihr Handwerk versteht, zu verwöhnen. Es war für ihn am Ende sogar ein Erlebnis, wenn auch kein berauschendes und auch kein erotischer Höhepunkt, aber um einen solchen zu beurteilen, fehlten ihm ohnehin die Vergleichsmöglichkeiten. Jedenfalls war er, nachdem sie den Akt auf befriedigende Weise hinter sich gebracht hatten, wieder versöhnlich gestimmt. Und als sie sich beim Weggehen für seinen Besuch höflich bedankte, ihn mit „au revoir monsieur“ verabschiedete und ihn aufforderte, doch einmal wieder zu kommen, murmelte er „peut-être, on vais voir“ oder so etwas Ähnliches und steckte ihr nach kurzem Zögern sogar ein kleines Trinkgeld in den kleinen, roten BH, genau zwischen die beiden kleinen Brüstchen, die er gar nicht nackt zu sehen bekommen hatte. Aber aufgesucht hat er sie dann doch nie wieder.

Testosteron

Die Erfahrung, die er bei der Frau gemacht hatte, war hilfreich, nicht nur wegen der sexuellen Befriedigung. Der Besuch hatte mehr bewirkt. Er hatte sein Ego gestärkt und ihm die Verklemmung und die latente Angst vor den käuflichen Frauen ein wenig genommen. Er konnte nun wesentlich lockerer durch die Neonstraßen tigern und den Damen manchmal sogar zuwinken. Aber diese neue Lockerheit hielt nicht lange an, denn eines Abends, ein paar Wochen, nachdem er Mut bewiesen und auf einem rosa Wölkchen geschwebt hatte, warf ihn ein höchst unangenehmes Erlebnis auf den Boden der Realität zurück. Ein Erlebnis, das ihm die Augen für einen neuen, einen anderen Aspekt dieses Viertels öffnete und auf das er liebend gern verzichtet hätte. Er durchstreifte wieder das Labyrinth der Straßen und der Tunnel. Es war mitten im Sommer, ein warmer, lauer Abend, dem man sogar in dieser Umgebung eine angenehme Seite abgerungen hätte, wenn nicht die üblichen Störfaktoren da gewesen wären: der Verkehrslärm, der Gestank der Abgase, das dunkle, marode Umfeld. Er schlenderte, voyeuristisch wie üblich, an den bunten Fenstern vorbei, mied aber die Gasse, in der die Frau mit den schwarzen Leggins ihr Fenster hatte. Die meiste Zeit des Abends verbrachte er in einem Wettsalon. Er beobachtete die Typen, die gebannt auf die Bildschirme starrten, Pferderennen verfolgten und ihre Tippscheine nach jedem Rennen wütend auf den Boden warfen oder sich ihren Gewinn in Höhe von ein paar Euro freudig auszahlen ließen. Obwohl das sportliche Geschehen nur virtuell stattfand, das eigentliche Rennen war in Indien, in Bangalore, war die Atmosphäre gespannt. In den Gesichtern spiegelten sich die Emotionen, in den Gesten kamen Frust und Freude zum Ausdruck. Die Beobachtungen, die er vom Rande des Saals aus machte, waren durchaus ergiebig und auch die Bilder, die er mit halb versteckter Kamera schoss, versprachen interessant zu sein.

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