Bahnhofsmilieu

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Yupag Chinasky

Er war auf dem Weg in sein Hotel. Es war bereits nach Mitternacht und in diesem Teil des Labyrinths war kaum noch jemand auf der Straße, als er auf einmal eine Szene vor sich sah, die ihn faszinierte. Er hatte gerade eine lange, schwach beleuchtete Unterführung verlassen und sah nun einen kleinen Platz vor sich, besser gesagt eine Insel mitten im Gewirr der Straßen und der Hochstraßen. Auf dieser Insel stand ein Kiosk, ein billiger Schnellimbiss mit Halal-Food, vor dem eine Gruppe junger Leute saß. Die Jugendlichen wurden von dem fahlen, grünlich-weißen Neonlicht der Imbissbude und dem gelben Licht der Straßenlampen schwach angestrahlt. Auf ihren Gesichtern lag ein geisterhafter Schimmer zwischen gelblich, grün und weiß. Die Gruppe hob sich sehr deutlich, sehr selektiv von der Dunkelheit ab, die sie umgab. Hinter ihnen ragten die Pfeiler der Hochstraßen in den nächtlichen Himmel, der auch um dieser Zeit noch leicht erhellt war. Diese Bild, die Szene fesselte ihn. Ein Bild, das irgendwie typisch für diese Problemgegend war. Er holte die Kamera aus seinem Rucksack, stellte Entfernung und Belichtung nach Gefühl ein und richtete das Objektiv auf die friedlich da sitzenden jungen Männer. Eigentlich hatte er sich in ausreichender Entfernung aufgehalten, fast noch im Schatten der Unterführung, um die Aufmerksamkeit der Betroffenen nicht zu erregen und die Stimmung nicht zu zerstören. Zudem war seine Kamera sehr leise und auch nicht groß, sie war fast ganz in seinen Händen verborgen. Wahrscheinlich wäre das Bild auch nur halbwegs geglückte, wahrscheinlich war es unscharf, verwackelt, zu kurz belichtet. Solche technischen Unzulänglichkeiten waren aber gar nicht so wichtig. Wichtig war, diese besondere nächtliche Stimmung einzufangen. Einerseits das Verlorensein einer Menschengruppe in einer unwirtlichen Umgebung, andererseits die friedliche Atmosphäre, die von den Betroffenen ausging. Ein kleines Glück im Dschungel der Großstadt. Zumindest empfand er das so, als er die Gruppe sah und die Aufnahme vorbereitete. Doch er sollte das Bild nie sehen, denn die Friedlichkeit war mit einem Schlag dahin. Sein Pech war, dass diese Menschen, junge Araber oder Maghrebiner, von zu viel Testosteron gesteuert werden, dass sie überall Verrat und Unheil wittern, dass sie sich einer ständigen Beleidigung ausgesetzt fühlen und beim geringsten Anlass aggressiv reagieren. Sein besonderes Pech war, dass einer aus der Gruppe wohl eher zufällig in seine Richtung geschaut und beobachtet hatte, welch schändliche Tat sich da anbahnte. Jedenfalls schrie der junge Mann laut auf, als er sah, dass ein Fotoapparat auf ihn gerichtet wurde. Er brüllte unverständliche Worte in einer kehligen Sprache, sprang auf und rannte los, in Richtung des Übeltäters. Seine Kumpane, vier oder fünf an der Zahl, folgten ihm und die ganze Bande stürzte sich schreiend und wild gestikulierend auf den Fotografen, der nicht wusste, wie ihm geschah, allerdings recht gut wusste, warum das geschah. Was sie schrien, verstand er zwar nicht, aber was sie wollten, war ihm sofort klar. Sie wollten seine Kamera oder seinen Film oder beides. Er fühlte sich sehr unwohl in seiner Haut, aber es war zu spät, um davon zu laufen, er war umringt, ein Entwischen war unmöglich. Andererseits wollte er auch nicht klein beigeben, seinen Film nicht herausrücken und so begann er zu erklären, was er eigentlich für ein Bild machen wollte und dass man die einzelnen Personen gar nicht richtig erkennen könne, aber das alles interessierte die Jugendlichen in keiner Weise. Seine Versuche, sich zu rechtfertigen, scherte sie einen Dreck. Er selbst war in dieser prekären Situation erstaunlicherweise immer noch einigermaßen gelassen. Er empfand die Situation zwar als höchst unerfreulich, aber Angst hatte er dennoch nicht. Schließlich befand er sich in einer zivilisierten, europäischen Großstadt und Scherereien wegen eines Fotos, das am falschen Ort, zur falschen Zeit und von den falschen Objekten gemacht worden war, hatte er schon öfters bekommen. Aber diesmal war es anders.

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