Nachdem er den jungen Männern noch einmal deutlich gesagt hatte, dass er nicht daran denke, ihnen den Film zu geben und dass sie ihn in Ruhe lassen sollten, wurden sie erst richtig unfreundlich. Sie riefen: „le film“, „la camera“, „donne-nous la camera.“ Sie sprachen plötzlich ganz gut Französisch. Aber er blieb hart und rief nun seinerseits lauthals „non, non, non“ und sie schrien weiter, „le film, la camera“. Dann beschimpften sie ihn, er sei ein Wichser und Voyeur und keiften, dass er kein Recht habe, sie zu fotografieren. Und der, der ihn beobachtet hatte und als Erster losgerannt war, warf ihm sogar vor, er habe seine Schwester beleidigt, weil er sie auch habe aufnehmen wollen. Er hatte nicht bemerkt, dass eine Frau bei der Gruppe war und vermutlich war das auch nicht der Fall, in der ihn umringenden Bande war jedenfalls keine. Der Junge hatte wohl nur einen Rechtfertigungsgrund für das gesucht, was nun geschah. Als der Beschimpfte sich einfach umdrehte und fortgehen wollte, ohne dass die Sache geklärt war, riss ihm der mit der angeblichen Schwester den Fotoapparat aus der Hand. Ein anderer packte ihn am Arm und drehte ihn auf den Rücken, während ein dritter ihn heftig in die Kniekehle trat, sodass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Er wehrte sich und schlug mit seinem freien Arm um sich, aber am Ende des kurzen Gerangels hatte er eine schmerzhafte Verrenkung der rechten Schulter und keine Kamera mehr. Die Leica befand sich in den Händen des aggressiven Typs, der wild an dem Apparat herumfummelte und ihn zu öffnen versuchte, um den Film herauszunehmen. Er versuchte es aber vergeblich, denn eine Leica zu öffnen ist nicht so einfach. Seine Kumpel drängten und verspotteten ihn, er sei wohl zu dumm, zu unbegabt, zu aufgeregt. Wütend schmiss er schließlich die Kamera auf die Straße und trampelte darauf herum, bis sie aufsprang und er den Film herauszerren konnte. Fassungslos sah ihr Besitzer, was da geschah, wie das teure Stück auf das Pflaster knallte und wie die Scherben des lichtstarken Objektivs sich verteilten und dann im Licht der Straßenlampe glitzerten wie kleine Edelsteine. Tränen stiegen ihm in die Augen. Diese Scheißkerle, denen werde ich es zeigen, schwor er sich. Aber wie? Als hätten sie seine Gedanken geahnt, kam einer, der sich bisher zurückgehalten hatte, dicht an ihn heran und sagte drohend, wenn er zur Polizei gehe, wäre das sein Todesurteil. Er gebrauchte tatsächlich dieses Wort, „condamnation à mort“. Dann verschwanden die Burschen im Kiosk. Er hob die demolierte Kamera auf und ging in die Nacht.
Tango
Der Verlust der Kamera war ein übles Erlebnis und bei den darauf folgenden Reisen in die Stadt, mied er das Bahnhofsmilieu. Er hatte Angst und Wut und wagte sich auf keine neuen Streifzüge. Zur Polizei war er nicht gegangen. Was hätte er schon erreicht, ohne Zeugen, ohne Beweise? Er hätte sich nur Scherereien eingehandelt. Aber irgend wann hatte er sich wieder beruhigt und sein Trieb, sich in den dunklen Ecken des Milieus herumzutreiben und Fotos zu machen, siegte über die Furcht. Als er wieder einmal in der Stadt zu tun hatte, war es bereits Herbst und es begann früh dunkel zu werden. Er war, wie so oft, schon am Vorabend angereist, hatte wie üblich im Grand Hotel eingecheckt, in einem annehmbaren, nicht zu teuren Restaurant gegessen und sich dann in Richtung Bahnhof aufgemacht, um erneut durch das Labyrinth zu streichen. Nach etwa zwei Stunden war er mit seiner Ausbeute ganz zufrieden. Diesmal waren die abgerissenen Plakate und die Graffitikünste auf kaum erhellten Mauern das Objekt seiner Begierde. Bilder, Zeichen, Symbole, Fragmente im schwachen gelben Licht der Straßenlampen, flüchtig angestrahlt von den hellen Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos, teilweise verdeckt von den Silhouetten der vorbei eilenden Menschen. Motive, die ihm keinen Ärger einbrachten, bei deren Aufnahme er niemanden beleidigte oder provozierte. Und wieder war er schon auf dem Weg zurück in das Hotel, als er an einem Lokal vorbei kam, das ihm bisher noch nie aufgefallen war. Auf einem trüb beleuchteten Schild über der Eingangstür stand „La Tangueria“. Ein Tangoclub, wie er feststellte, als er den Aushang in dem Kasten neben der Tür studierte. Neben der Getränkekarte hing ein Foto mit einem Paar das Tango tanzte, ein gutes Schwarz-Weiß-Bild, wie er anerkennend feststellte, ein Bild, das die Erotik dieses Tanzes sichtbar machte. Plötzlich bekam er Lust, die Tänzer live zu beobachten, noch ein paar Tangos zu hören, eine Musik, die er sehr mochte, sich ein bisschen aufzuwärmen, es war nicht gerade kalt, aber herbstlich kühl und auch noch ein oder zwei Bier zu trinken, weil er urplötzlich merkte, dass er Durst hatte. Er trat ein und war enttäuscht. Statt der erwarteten exotischen Atmosphäre, statt eines vollen Hauses mit lebhaftem Lärm und sich wiegenden Paaren, stand er in einem lieblosen, kahlen, fast ausgestorbenen Lokal. Kalte Neonröhren beleuchteten eine leere Tanzfläche. An den Wänden links und rechts waren Tische und Stühle aufgereiht, an denen ein paar vereinzelte Gestalten saßen. Am Stirnende, gegenüber der Eingangstür, befand sich eine Bar, daneben ein kleines Podium. An der Bar stand ein Mann, putzte Gläser und langweilte sich ganz offensichtlich. Auf dem Podium war die Band, deren Musik den Raum erfüllte. Aber was heißt schon Band, es war ein Paar. Er, ein großer, dunkelhaariger Mann in einem Anzug, der an einen Zirkusdirektor erinnerte, saß hinter einer Kombination aus Hammondorgel und Schlagzeug. Sie, eine reife, schlanke, dunkelhäutige Frau mit wallender Haarmähne und in einem bodenlangen, roten Kleid hielt ein Funkmikrofon in der Hand und sang. Sie hielt sich jedoch nicht nur auf der kleinen Bühne auf, sondern ging im Raum umher und versuchte die Leute zum Tanzen zu animieren, aber es war ja kaum jemand da, den sie hätte animieren können.
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