Bahnhofsmilieu

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Bahnhofsmilieu

Bahnhofsmilieu

Yupag Chinasky

Das Labyrinth

Der große Bahnhof war zu der Zeit, als er gebaut wurde, in den frühen fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, ein architektonisches und technisches Meisterwerk. Heute ist er weder schön noch funktional, aber immer noch eine wichtige Drehscheibe des Verkehrs. Die Freude an der nostalgischen Architektur, die sich einstellt, wenn man davor steht und die immer noch anhält, wenn man die große Halle betritt, wird von einer Beklemmung abgelöst, wenn man zu den Zügen eilt. Sie nimmt zu, je tiefer man in den Untergrund vordringt, bis zu der funktionalen Ebene, den Bahnsteigen und Gleisen. Jeder Meter abwärts auf den altmodischen, holzverkleideten Rolltreppen steigert dieses miese Gefühl. Der klaustrophobe Höhepunkt ist erreicht, wenn man den Perron betritt, das reinste Inferno. Die Röhren, in denen die Rolltreppen verlaufen, sind eng und schmal, aber die Bahnsteige erscheinen noch enger, noch schmaler, noch schmutziger. Man wundert sich geradezu, dass sich hier Menschen aufhalten dürfen. Der kreischende Lärm der Züge, die in kurzem Takt aus den Tunnelröhren kommen, rattern, abbremsen, nur wenige Augenblicke verweilen und dann wieder ächzend und stöhnend anfahren, malträtiert die Ohren. Die Schwärze der ewigen Nacht wird nur durch den Schein der kalten Neonröhren unterbrochen, die statische Spots auf den Beton werfen und durch die gelben Lichter der Lokomotiven und der Wagenfenster, die mit den Zügen auftauchen und wieder verschwinden. Die Sicht auf den Bahnsteigen wird von Treppen und Rolltreppen, schwarzen Gleisen, Oberleitungen, Stützpfeilern und Sichtblenden eingeschränkt. Es stinkt nach Staub, Ruß, Dreck, Desinfektionsmittel und Menschenmassen.

Zu den Stoßzeiten ist dieser Vorhof der Hölle von Hunderten von Menschen bevölkert. Sie laufen und rennen, schieben und stoßen, drängen sich in die Abteile, drängen sich auf die Rolltreppen, zerren Koffer hinter sich her und benutzen ihre vorgestreckten Aktentaschen als Waffe, um sich einen Weg durch die anderen zu bahnen, die genau dasselbe wollen. Jeder scheint nur einen Wunsch zu haben, weg von hier, raus aus diesem Chaos, diesem düsteren Orkus, hoch zum Licht und zur Luft oder wenigstens hinein in ein sicheres Zugabteil.

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