„Wir haben“, sagte jedoch Ana zu seiner Überraschung, als sie die Reste des Malvasiers tranken, „wir haben in der Bar noch jede Menge Alkoholika, von den letzten Filmaufnahmen. Die haben immer gesoffen wie die Löcher. Mir scheint, das Wichtigste für den Produzenten war, dieses Völkchen bei Laune zu halten. Jeden Tag kam ein Lieferservice und brachte die Lebensmittel für unsere Küche und immer waren neue Flaschen dabei, jedem Star sein Lieblingsdrink. Als dann die Dreharbeiten schneller als geplant beendet waren, haben sie alles dagelassen, für das nächste Mal, so der optimistische Chef der Crew. Weil die Bar seitdem nicht mehr geöffnet wurde, steht das Zeug noch genauso herum, wie vor einem halben Jahr. Die Chinesen hatten seltsamerweise kein Bedürfnis nach Schnaps und wollten auch gar nicht in die Bar, kein einziger wollte etwas von den harten Sachen. Die sind schon ein seltsames Volk, diese Schlitzaugen. Kommen Sie mit, wir gehen runter und feiern eine kleine Party, Sie und ich. Eine Abschiedsparty, Abschied von dem Hotel nach all diesen Jahren und auch Abschied von meinem bisherigen Leben. Wir werden da unten bestimmt etwas Geeignetes finden.“
Immer noch überrascht von ihrem offensichtlichen Sinneswandel, die Verwandlung der schweigenden in die nun wieder redende Ana und zudem wegen ihres Angebots neugierig geworden, folgte er ihr, die sich bereits auf den Weg gemacht hatte, ohne seine Antwort abzuwarten. Sie stiegen die Treppe hinunter in das Souterrain, zur Hotelbar. Ana öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Rote Wandleuchten flammten auf und verbreiteten ein gedämpftes, warmes Licht in einem ziemlich kleinen Raum. Die Bar strahlte denselben soliden, langweiligen Charme aus, gemischt mit dem Flair und der Biederkeit der fünfziger Jahre, der ihm schon im Foyer, im Restaurant und seinem Zimmer begegnet war. Auch hier war der Fußboden, richtiges Parkett, im Laufe der Jahre abgetreten, unansehnlich und fleckig geworden, besonders da, wo vermutlich die kleine Tanzfläche war. Die Decke aus rustikalen Balken war für den Raum viel zu niedrig und durch den Rauch ganz dunkel, schon fast schwarz geworden. Zwei kleine Fenster, die sich wegen der Lage im Souterrain ziemlich weit oben befanden, vermittelten den Eindruck einer häuslichen Kellerbar, eines Hobbyraums für private Geselligkeiten. Auch hier schmückten Tapeten die Wände, auch diese äußerst einfallslos und altmodisch: sich abwechselnde dünne Streifen aus kitschigem Rosa und langweiligem Ocker. Und auch hier, wie schon von dem alten Gauthart erwähnt, dieselben langweiligen, gerahmten Photographien wie im Foyer. Ein Ende des Raums beherrschte ein gemauerter, offener Kamin aus rötlichen Ziegelsteinen. Davor standen Sessel mit rotem Lederbezug und ein schmales, ebenfalls rot ledernes Sofa, dazu gehörten niedrige, schwarze Tischchen und als Raumschmuck ein paar einsame Blumenkübel, in denen zwar immer noch Erde, aber schon lange keine Blumen mehr waren. Am anderen Ende des Raums, getrennt durch die Tanzfläche, die Theke, die für den kleinen Raum viel zu groß, viel zu wuchtig, viel zu dunkel war, genauso wie das Regal dahinter, in dem einige Flaschen und eine Menge Gläser standen. Um den Raum optisch zu vergrößern waren vor der Theke Spiegel angebracht, die dazu führten, dass sich die Anzahl der Barhocker verdoppelte. Rot und Schwarz, das waren die dominierenden Farben in dem Etablissement. Eine Bar musste rot sein, einen Anflug von Rotlichtmilieu haben, an Halbwelt, Puff und verklemmte Erotik erinnern und auch schwarz, wie die Sünde und die ungestillten Triebe. Auch die Vergnügungsmeile des noblen Hotels war nicht mehr zeitgemäß und insgesamt ziemlich herunterkommen und das nicht nur, was das Aussehen betraf. Es müffelte, die Luft war stickig und säuerlich und man konnte immer noch den kalten Rauch wahrnehmen, obwohl schon längere Zeit hier niemand mehr geraucht hatte. Die Luft war genauso abgestanden, wie die Einrichtung, wie das Ambiente, wie das ganze Hotel. Lüften, Entrümpeln, neu streichen, ging es ihm durch den Kopf, das wäre hier angesagt, das könnte Wunder bewirken.
„Eigentlich mag ich diesen Raum nicht besonders“, meinte Ana wie zur Bestätigung seiner Gedanken. „Er sieht bescheuert aus, aber Onkel Theo wollte einfach kein Geld in die Modernisierung stecken. Die Bar wurde in letzter Zeit auch kaum noch genutzt, eigentlich nur noch von den Filmfuzzis. Es gibt aber noch einen Grund, warum ich sie nicht mag, weil ich nämlich keine guten Erinnerungen an diesen Ort habe, auch als er noch en vogue war. Hier in der Bar fanden ein paar Versuche statt, mit jemandem anzubandeln, jemanden für mich zu gewinnen. Sie endeten alle mehr oder weniger kläglich. Am liebsten hätte ich sie ausgeräumt, die Bar und damit die Erinnerungen gelöscht, aber das hätte auch nichts genützt, die Erinnerungen wären auf jeden Fall geblieben. Außerdem könnte es sein, dass auch in Zukunft vielleicht ein paar Filme hier im Hotel gedreht werden, selbst wenn es nun geschlossen wird, es wird ja nicht abgerissen und auch nicht verkauft. Für den Film war die antiquierte Einrichtung ideal, aber ob es sich lohnt, nur deswegen das Hotel zu erhalten, so wie es ist, ich weiß nicht. Aber was soll’s, schließlich kann mir das alles ziemlich egal sein, für mich ist das Kapitel „Grand Hotel“ weitgehend abgeschlossen und ob es noch einmal geöffnet wird, möchte ich stark bezweifeln. Das Filmen hat uns übrigens immer einen schönen Batzen Geld gebracht, ich glaube ich hatte das schon heute Nachmittag erwähnt. Der Produzent war von allem sehr angetan, von der Lage des Hotels, von seinem Ambiente, von der Kulisse, der Bergwelt und auch von uns, den Besitzern, die ihm die Arbeit ermöglicht hatten. Er habe selten an Orten gedreht, wo alles so perfekt geklappt hätte und wo man so wenig habe umbauen müssen, um den Geist einer vergangenen Zeit aufleben zu lassen. Nicht nur die Atmosphäre der fünfziger Jahre, auch die des fin-de-siècle oder des Jugendstils konnte man mit ein paar Requisiten perfekt erschaffen. Der Aufzug, das alte Ding, hatte es dem Produzenten besonders angetan, der sei einmalig. Dabei war er seinerzeit eine Art Schnäppchen gewesen. Er war in einem anderen Hotel ausgemustert worden. Onkel Theo hatte das mitbekommen und ihn für Umme erhalten. Technisch war er noch einwandfrei, nur halt völlig altmodisch, aber genau das gefiel ihm. Dann wurde aber die Wartung doch zu teuer und wir mussten ihn stilllegen. „Mit dem Hotel haben Sie einen großen Schatz, hüten Sie ihn gut“, so hat es der Produzent wörtlich zu mir gesagt. Konkrete Pläne für einen neuen Film habe er noch keine, aber das könne sich sehr schnell ändern und man bleibe in Kontakt. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir selbst noch nicht gewusst, wie es weiter gehen würde und dass wir das Hotel schließen müssten. Auf jeden Fall hatten wir nach dem letzten Film beschlossen, die Bar so zu lassen, wie sie ist. Weil,“ sie lächelte spitzbübisch. „diese Bar offenbar das wichtigste Argument ist, die Filme hier, in unserem Hotel, zu drehen.“
„Mit was fangen wir an?“ Sie hatte ihr rotes Handtäschchen auf die Theke gelegt und durchmusterte die Flaschen auf dem verspiegelten Regal. Die eine und die andere nahm sie in die Hand, las das Etikett, schaute nach, wie voll sie war und stellte sie wieder zurück. Die meisten Flaschen waren angebrochen, manche leer und nur nicht weggeräumt und einige wenige waren sogar noch unangetastet. „An Geld hat es den Filmfuzzis jedenfalls nicht gemangelt und an Sinn für Qualität auch nicht. Das, was noch da ist, ist gar nicht so schlecht, aber doch nicht so viel, wie ich dachte. Aber, keine Bange, für uns reicht es dicke. Oh, da fällt mir etwas ein. Wo ist denn...?“ Sie schaute sich etwas ratlos um, dann bückte sie sich mit einem, „ Ach ja, da haben wir's doch“ hinter dem Tresen. Er hörte, wie eine Schublade geöffnet und geschlossen wurde. Als sie wieder auftauchte, hielt sie eine schmale, helle Flasche in der Hand und zeigte ihm das Etikett. Es war ein leicht vergilbtes, helles Papier, auf dem von Hand in ungelenker Schrift stand: Mirabelle 1999. Sie öffnete den Korken und roch genüsslich. „Oh, wou! Der ist gut! Damit fangen wir an! Das ist ein Mirabellenschnaps, wie Sie ja gelesen haben. Er wird von einem Bauer aus dem Dorf selbst gebrannt, schwarz natürlich. Den haben die Filmer zum Glück nicht entdeckt. Und warum? Ganz einfach, weil ich ihn rechtzeitig ganz da unten versteckt hatte. Gute Sachen muss man in Sicherheit bringen.“ Sie lachte und schaute ihn verschmitzt an. Dann nahm sie zwei schmale Schnapsgläser aus dem Regal, füllte sie großzügig mit der Mirabelle und reichte ihm eines. „Auf unser Wohl!“ Sie hoben die Gläser, prosteten sich zu und tranken. „Ist er nicht wirklich spitze, der Selbstgebrannte?“ Bevor sie das Glas auf die Theke stellte, zögerte sie einen Moment und ihm kam es vor, als ob sie etwas verlegen wurde. Doch dann sagte sie entschlossen, „Wissen Sie was, nachdem wir die einzigen Gäste sind und einen gemütlichen Abend vor uns haben, sollten wir uns duzen. Ihren, deinen Namen kenne ich ja vom Check-in. Ich heiße Ana, mit einem n, aber das hast du ja schon beim Essen gehört.“ Sie hoben erneut die Gläser, stießen sie dieses Mal aneinander und leerten sie auf einen Zug.
Ana, die Schweigerin, taute nun wieder auf und verwandelte sich zurück in Ana die Rednerin. Sie würde in der Bar dem Rededrang des Nachmittags erneut freien Lauf lassen und den steten Fluss ihrer Worte nur unterbrechen, um von Zeit zu Zeit für Nachschub zu sorgen. Sie würde nachschenken, selbst wenn die Gläser noch fast voll wären. Sie würde ihm zuzuprosten, ihn zum Trinken animieren, darauf achten, dass er einen Schluck nähme und erst dann selbst trinken. Ab und zu würde sie eine neue Flasche suchen, dazu würde sie aufstehen, zur Bar gehen, sich vor das Regal stellen und es gründlich inspizieren, jedes Mal, als ob es nach der ersten Inspektion immer noch Geheimnisse verbergen könnte. Wenn sie dann einen geeigneten Kandidaten entdeckt hätte, würde sie ihr Ritual beginnen, jedes Mal dasselbe, immer in der gleichen Reihenfolge. Sie würde als erstes die Flasche von allen Seiten betrachten und aufmerksam das Etikett lesen, dann den Verschluss aufschrauben oder den Korken herausziehen und an der Flaschenöffnung riechen. Sie würde den Inhalt olfaktorisch prüfen, um sicher zu sein, dass in der Flasche das enthalten ist, was hineingehört oder vielleicht auch, um festzustellen, ob der Inhalt noch in Ordnung, noch genießbar war, als ob hochprozentige Spirituosen schlecht werden könnten. Obwohl, ihren Alkoholgehalt und ihr Aroma können auch harte Sachen im Laufe der Zeit verlieren, auch Schnäpse können kraftlos werden und das würde sie erschnüffeln, diese Ana, diese Drogenschnüfflerin, dieser Minensuchhund. Wenn die Flasche den Geruchstest erfolgreich bestanden hätte, würde sie die schlanken Gläser füllen, immer dieselben, immer die, die sie schon für den Obstler benutzt hatte, ohne sie zu spülen, ohne sie zu wechseln. Warum sie immer dieselben Gläser nehmen würde, wenn es um Hochprozentiges ging, würde ihr Geheimnis bleiben. Gelegentlich würde sie bei ihrer Suche Kommentare abgeben, wie: „In dieser Flasche ist ja kaum noch was drin, nur ein winziger Schlock.... Das lohnt sich nicht, die noch länger rumstehen zu lassen.... Das Zeug schütte ich besser in den Ausguss, einfach eklig und gemeingefährlich.“ Bei einer Entdeckung würde sie ganz aus dem Häuschen geraten und laut rufen: „Hei, da oben sehe ich ja noch eine Flasche Lagavulin. Weißt du was das ist? Göttlicher Whisky, meine absolute Lieblingsmarke. Allein schon das Wort ist eine Offenbarung. Laa-gaa-vuu-lin! Single Malt vom Feinsten von der Insel Islay, nicht Island, Islay, im West von Schottland. Ich war mal da, vor Jahren und habe die Destillerie besichtigt. Die Zeit habe ich in angenehmer Erinnerung, in höchst angenehmer und seitdem mag ich das Gesöff. Den nehmen wir uns später vor.“ Doch mit der Suche nach harten Sachen würde sie nur wenig Zeit verplempern, denn die meiste Zeit würde sie reden, viel reden, fast pausenlos reden, aber das Nachschenken zwischendurch würde sie dennoch nicht vergessen und er würde irgendwann zu der Erkenntnis kommen, dass sein Glas immer voll und ihres immer leer sei. Er würde im Laufe des Abends staunen, dass eine Frau wie Ana, die zwar nicht elfenhaft zart, aber auch kein Flintenweib war, so harte Sachen, so ausdauernd und in solchen Mengen wegtrinken, ja geradezu wegsaufen konnte und trotzdem oder vielleicht nur deswegen, auch noch so viel reden konnte.
Doch noch hatte der Abend erst begonnen und das alles wusste er noch nicht, als Ana sich mit ihm und den beiden nachgefüllten Gläser vor den Kamin setzte, wieder vor einen leeren, toten, kalten Kamin und mit ihren Erzählungen begann oder, wenn man will, fortfuhr. Erst redete sie etwas stockend und zögerlich, als ob sie noch mehr Mut fassen, noch mehr Zutrauen erwerben müsste, als ob sie sich versichern müsste, dass ihr Gegenüber auch wirklich zuhörte oder dass er es wert war, zuzuhören. Aber je mehr sie trank und je länger sie redete, desto flüssiger gingen ihr die Worte über die Lippen, desto detaillierter wurden ihre Beschreibungen, desto intimer die Themen und desto aufgekratzter wurde sie selbst. Sie redete über ihren Großonkel, den Patriarchen, ihre früh verstorbene Mutter, ihren verschollenen Vater, dessen widerliche Brüder, über ihre bigotten einheimischen und ihre verklemmten ausländischen Großeltern und natürlich auch über sich selbst, über Ana. Spät in der Nacht, als beide schon reichlich voll waren von all den harten Sachen und von einigen exquisiten samtenen, kam sie auf den heiligen Joseph zu sprechen, wie sie ihn nannte, den Oberkellner, der alles andere als heilig war und auf Antonio, den schlampigen, aber genialen Koch, der sich als durchaus ungewöhnlich, ja geradezu geheimnisvoll entpuppte. Sie wollte loswerden, was sie umtrieb, da gab es keine Zweifel und er war das Ziel ihres Mitteilungsdrangs. Als sie irgendwann dann doch genug geredet und dennoch nicht alles gesagt hatte, wurde er selbst zum Objekt ihrer Begierde, zum Ziel ihrer Lust. Er, der einige Stunden lang nichts anderes getan hatte, als zuzuhören und mitzutrinken, wurde zu weiteren Aktivitäten geradezu gedrängt, aber da war es bereits zu spät, um dahin zu gelangen, was beide irgendwann, im Laufe dieses phantastischen und aufregenden abends angestrebt hatten. Sie erreichten das Ziel und den Höhepunkt einfach nicht mehr, weil sie oder vielleicht auch nur er, kurz davor in ein wahres Delirium verfielen. Das war irgendwann vielleicht sogar abzusehen, aber noch war es nicht so weit. Noch saßen sie fast nüchtern vor dem toten Kamin und Ana redete und er hörte aufmerksam zu. Ana redete immer nur über sich. Seltsamerweise, nein bezeichnenderweise, fragte sie ihn kein einziges Mal, was er eigentlich für ein Mensch sei, was er so mache, wo er lebe, wie er lebe, von was er lebe. Es interessierte sie offensichtlich nicht, was er dachte und trieb, ob er solo war, verheiratet oder eine Freundin hatte und auch seine Vorlieben und Abneigungen, seine Bücher und Filme und die Musik, die er am liebsten hörte, waren ihr völlig schnurz, absolut egal. Im Fokus ihres Mitteilungsdrangs stand nur sie, nur Ana und ihre Welt, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Immer nur Ana, Ana, Ana. Ihr Redefluss versiegte erst als er unfähig war, noch irgend etwas aufzunehmen, als jedes weitere Wort in den Wind gesprochen wäre, als es für beide keine Gegenwart mehr gab, von einer Zukunft ganz zu schweigen, erst dann schwieg Ana.
Anas Erzählungen waren anfangs nüchtern, so nüchtern wie beide zu diesem Zeitpunkt noch waren. Es war eine Art Bilanzaufnahme, eine Rekapitulation, ein Erinnern. Der Alkohol veränderte sie über lange Zeit anscheinend gar nicht. Sie schien viel zu vertragen und er fragte sich, woran das wohl liegen könnte. Vielleicht berufsbedingt, dachte er, weil sie nun mal in einem Hotel tätig war und sich manchmal mit besonderen Gästen als Animierdame betätigen musste. Oder vielleicht, um eine latente Depression zu bekämpfen, weil sie in all den Jahren der Bergeinsamkeit es zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte, diese mit Alkohol zu bekämpfen. Sie versank jedoch weder in Melancholie noch steigerte sie sich in Euphorie, sie wurde nicht aggressiv, nur manchmal ein wenig heftig, und selten sentimental. Sie blieb, wie man so sagt, cool. Und sie war, wie schon am Nachmittag, ganz offensichtlich sehr froh, heilfroh, jemanden an diesem letzten Abend, um sich zu haben, jemanden, der ihr bei den letzten Stunden in ihrem vertrauten Milieu beistand. Jemanden, der nur da war und nur zuhörte, der kaum Fragen stellte, sie nicht verunsicherte, sie nicht verurteilte, nichts verzeihen, nichts beschönigen konnte, weil er mit ihr und ihrer Vergangenheit bisher absolut nichts zu tun hatte. Einer, der anfangs nichts von ihr wusste und spät in der Nacht fast alles, aber nur fast. Anas Zuhörer hätte eine mechanische Puppe sein können, eine Olympia die nur zwei Eigenschaften hätte aufweisen müssen: zuhören und mitsaufen und vielleicht ab und zu ja, ja oder nein, nein sagen. Die Chance, einen willigen Zuhörer für die Nacht gefunden zu haben, würde sie ihm zu fortgeschrittener Stunde geschehen, als der Alkohol dann doch begonnen hatte, die Zunge schwer zu machen und gleichzeitig zu lösen und die Gedanken zu vernebeln und die vielleicht noch verbliebene Zurückhaltung aufzugeben, diese Chance habe sie sich nicht entgehen lassen können. „Die Hoffnung, dass du mir zuhören wirst, dass du mich in diese Nacht begleiten würdest, war der wahre, ja der einzige Grund, dir das leere Zimmer anzubieten.“ Sie würde ihn dabei etwas unsicher und ein wenig schuldbewusst anschauen, mit ihren großen, schwarzen, schrägen Augen. „Bist du jetzt sauer oder verärgert?“, würde sie fragen und er würde ihr versichern, dass er das keineswegs sei. Und er war es auch nicht, zu mindestens zu diesem Zeitpunkt. Daraufhin würde sie erleichtert lächeln.
Dies ist ein Kapitel aus dem Roman „Götterdämmerung“ von Yupag Chinasky. Der als print-on demand oder als e-book bei epubli.de, Amazon oder anderen Anbietern erworben werden kann.
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