Das Bein oder Aschenbrödel

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Das Bein oder Aschenbrödel

Das Bein oder Aschenbrödel

Frank Nußbücker

Etwas Besonderes war nicht dran an ihm. Da war er sich sicher. Jeden Morgen stand er in aller Frühe auf, im Winter sogar noch etwas früher. Da heizte er noch seinen Ofen, bevor er aus dem Haus ging. Es sollte nicht so kalt sein in seiner kleinen Hinterhauswohnung, wenn er wieder zurückkam, am späten Nachmittag oder erst am Abend. Dann trank er einen Kaffee, Essen kriegte er um diese Zeit noch nicht herunter und fuhr mit der U-Bahn zu der Großküche, in der er als Spüler arbeitete. Die Küche lag im Westen, es waren ein knappes Dutzend Stationen bis dahin. Die Zeit reichte, um noch ein wenig in der Bahn zu dösen. Das war wirklich nichts Besonderes, und mehr war da nicht.
Es war nicht immer so gewesen. Er war einmal ein Kind; mit Plüschtieren, Soldatenfiguren, Spielgefährten, Abenteuern und einem Fahrrad vom Geburtstagsmann, das wußte er noch. - Aber nun war er hier, und es war gerade kalt draußen. Was davor mit ihm war, lag unendlich weit weg von hier, lag wie hinter dickem Nebel verborgen. Nebel, - ja, dieses Bild gefiel ihm. Der Nebel am Morgen, der das Häusermeer der Stadt in milchiges Dunkel tauchte und alles geheimnisvoll sanft machte. Wenn es morgens neblig war, ging er immer noch ein oder zwei U-Bahnstationen zu Fuß. Soviel Zeit mußte sein. Der Nebel kroch dann zu ihm in den Mantel. Es war, als wäre er ganz allein unterwegs, in einer ihm völlig unbekannten, geheimnisvollen Gegend. Es störte ihn nicht, wenn er in der kalten Jahreszeit immer im Dunkeln zur Arbeit ging und abends auch wieder im Dunkeln von dort zurückkehrte. Das war ihm lieber als der Sommer. Da machte ihn die Sonne immer zu früh wach, und die Tage begannen oft so vielversprechend. So, als wollte jemand zu ihm sagen:
"Los Alter, komm endlich raus! Sieh dich doch mal um! All die Schönheit, ... die ist doch nur für Dich!" Und dann waren da doch wieder nur dreckige Schüsseln, Gläser, Teller, das Schwimmbad-Aroma der Geschirrspülmaschine, und am Abend saß er wieder allein in seiner Bude herum. Nichts war mit Schönheit.
Wenigstens konnte man im Sommer sein Bier draußen trinken, unter freiem Himmel. Wenn es warm war, besuchte er auf dem Heimweg manchmal eine der Kneipen in seiner Straße und ließ sich an einem der Tische nieder, die auf dem breiten Bürgersteig, umrahmt von ein paar Grünpflanzen, herumstanden.
Im Winter vermied er es für gewöhnlich, sein Geld in ein Lokal zu tragen. Wenn er sein Bier im Spätverkauf an der Ecke erstand, war es um etliches billiger, und zu Hause gab es immer einen freien Sitzplatz. Im Stehen trank er höchst ungern, er stand ja den ganzen Tag vor den Spülbecken. Nachts schlief er meistens tief und traumlos. Nur einmal, da hatte er einen Alptraum: Wie immer stand er morgens auf dem U-Bahnhof. Er war ganz allein auf dem Bahnsteig. Plötzlich rief ihn über Lautsprecher eine Stimme:
"Was willst du hier? ... Wo willst du hin?" sagte die Stimme. Er sagte etwas wie: "Ich will zur Arbeit, nichts weiter." "Ach, du weißt wohl ganz genau, was du willst, was!" fuhr ihn die Stimme an. "Du willst hier weiterkommen und hast nicht mal diesen klitzekleinen Bahnhof im Griff! - Aus welchem Material sind die Wände, he? Wie sind sie mit den Dachteilen verbunden? Siehst du es? Du mußt es dir merken. Du mußt dir alles hier merken, alles mußt du beherrschen, wenn du weiterkommen willst! Guck dir das Gleisbett an! Wie tief ist der Schacht, und wie sind die Gleise darin befestigt? Du mußt dir jede Schraube merken, jede Schwelle, jedes Steinchen! Ich lasse dich hier erst weg, wenn du alles beherrschst, alles, hörst du? Guck auf den Bahnsteig - wie ist er gepflastert, jedes Steinchen mußt du kennen! Und die Bänke, wie sind sie festgemacht, was ist in den Papierkörben drin, in jedem einzelnen?"
Alles um ihn herum drehte sich schon. Kaum hatte er sich ein paar Schwellen gemerkt und ein paar Schrauben dazu, da tauchte auch schon das Pflaster des Bahnsteigs vor ihm auf. Leute warfen lachend etwas in die Papierkörbe. Ja, sie lachten. Nur er mußte sich ja hier alles merken! Spätestens da hatte er die paar Schwellen schon wieder vergessen, und er mußte wieder von vorne anfangen. Immer schneller gab die Stimme ihre Anweisungen. Und immer höhnischer wurde sie. Er wußte nicht einmal, aus wie vielen Lautsprechern sie ihn anschrie. Nie würde er hier wegkommen. Ein Zug fuhr ein, aber er wagte nicht einen Schritt.
Merk dir meinen Anzug!" rief ihm einer zu, bevor er in die Bahn stieg. Dann war er aufgewacht, und es war Sonntag gewesen. Er mußte heute gar nicht zum U-Bahnhof. Als ihm das einfiel, drehte er sich wieder um und schlief weiter. Das wars. Das war sein kleines Stückchen Welt, irgendwo in dieser großen Stadt. Und wenn dies Stückchen auch nicht besonders aufregend war, so war es doch seins. Hier kannte er sich aus. Und eines Abends war dann doch alles anders.
Als er wie immer erschöpft von der Großküche nach Hause kam, bemerkte er schon kurz nach dem Betreten seiner Wohnung einen ungewohnten Geruch. Es war ein Duft, schwebend und etwas süßlich. Als er schließlich das Zimmer betrat, traute er seinen Augen nicht. Durch die Wand war ein Bein in sein Zimmer gekommen; ein ausgewachsenes Damenbein. Es trug am Fußende ein schwarzes Stiefelchen mit halbhohem Absatz und eine schwarze Nylon-Strumpfhose. Oben verschwand es in der Wand. Er stand da und starrte das Bein an. Sehr gern hätte er es berührt, aber das wagte er nicht. Es war so wundervoll geformt; der Oberschenkel, das Knie, die Wade und wie es unten in den Fuß überging, der in dem Stiefelchen steckte. Dazu glänzte das schwarze Nylon ein wenig. Es war kaum auszuhalten. Fordernd und selbstbewußt stand das Bein in seinem Zimmer - mit der geschmeidigen Kraft einer Raubkatze. Es war eine Ewigkeit her, daß er einer Frau so nahe gewesen war, wie jetzt diesem Bein. Er hatte schon fast vergessen gehabt, wie das war. Von nun an war er anders allein als vorher. Das Bein blieb bei ihm, und er erwartete die Feierabende ungeduldiger als früher. Er war erst wieder ruhig, wenn er in seine Wohnung kam und das Bein wiedersah. Ihm war, als würde es ihn ständig beobachten. Deshalb achtete er auch mehr auf sein Äußeres, seinen Gang, seine Haltung. Wenn er sich mit seinem Gast auch nicht unterhalten konnte; allein den neuen Geruch in seiner Wohnung, der ihn empfing, wenn er abends heimkam, wollte er nicht mehr missen.
So hätte es sicher noch lange weitergehen können, wenn ihn nicht eines Tages seine Freundin Emilia besucht hätte. Vielleicht hieß sie auch anders, jedenfalls nannte sie sich Emilia. Sie war etwas jünger als er, durchaus gut gebaut, und sie verstand, sich zu kleiden. An einem Sommerabend hatten sie sich in einer der Kneipen in seiner Straße kennen gelernt. Alle halbe Jahre kam sie zu ihm. Sie genoß es, für ihn eine unbestimmte Hoffnung zu sein. Vielleicht, damit das auch so blieb, ließ sie ihn nie näher an sich heran. Wenn sie ihm ein wenig Schulter gezeigt und ihn dabei mit ihrem roten Mund nett angelächelt hatte, verabschiedete sie sich bald. Er hatte irgendwann akzeptiert, daß das so war. Er mußte ja eh früh raus. Wenigstens brachte sie immer ein wenig Farbe in sein Zimmer. Er sah ihr gerne zu, wenn sie Kaffee trank. Eine Spur von ihrem Lippenstift blieb dann immer an der Tasse haften. Diese Tasse wusch er erst ab, wenn auch alle anderen schmutzig waren.
Emilia reizte ihn nie zu sehr, denn ein wenig mochte sie ihn wohl schon. Und auch er wars zufrieden. Alle halbe Jahre hielt er es schon aus, einer Frau gegenüberzusitzen, die schön war und bald ging. Als Emilia aber an diesem Tag bei ihm klingelte - er spürte, daß sie es war, die vor seiner Tür stand - war er überhaupt nicht so froh wie sonst. Denn daß sie nichts von ihm wollte, hinderte sie natürlich überhaupt nicht daran, auf eine andere Frau, und sei es auch nur deren rechtes Bein, eifersüchtig zu sein. Schnell verhängte er das Bein mit seiner Divandecke. Er kam sich ein wenig schäbig vor dabei. Es war das erste Mal, daß er es berührte. Es war warm, und Emilia klingelte jetzt schon zum dritten Mal. Ein leiser Fluch lag ihm auf den Lippen, als die Decke von den schwarzen Nylons herunterrutschen wollte. Endlich blieb sie oben, und er eilte zur Tür. Emilia lächelte ihn an, etwas mehr als sonst, glaubte er zu spüren. Als er sie sah, wußte er, daß seine Aktion mit der Divandecke völliger Unsinn gewesen war. Emilia kannte sich aus bei ihm, und schon an der Tür hatte sie sicher gespürt, daß heute etwas nicht stimmte. Da war ja auch dieser neue Geruch in seiner Wohnung.
Emilia ließ sich jedoch nichts anmerken. Als er in die Küche ging, um wie immer Kaffee zu kochen, wußte er, daß sich die beiden Frauen jetzt gerade begegnen würden. Er ließ sich Zeit und als er mit dem Kaffee ins Zimmer kam, stand Emilia an der Wand. Sie war allein. In der Hand hielt sie den Schuh der anderen. Da, wo deren Bein aus der Wand zu ihm gekommen war, klaffte lediglich ein kleiner Riß in der Tapete. "Was war das?" fragte Emilia. Es klang belustigt und ein wenig erschrocken. "Ich hab es am Fuß gekitzelt, da ist es verschwunden."
"Das Bein ...", murmelte er vor sich hin. "Ja, das Bein, natürlich das Bein, was denn sonst?" Etwas Aggressives glimmte einen Augenblick lang in ihrer beider Augen. Er hatte schon lange gefühlt, daß ihn das Bein eines Tages verlassen würde, aber daß es so kommen sollte.... Plötzlich war ihm ganz leicht zumute. Nach langer, langer Zeit wußte er endlich einmal wieder, was er wollte, was er jetzt zu tun hatte. Wortlos ging er auf Emilia zu und nahm ihr sanft den schwarzen, halbhohen Schuh aus der Hand. Dann griff er seine Jacke und verließ die Wohnung.
Die Luft erinnerte schon ein wenig an den Frühling. Sie streichelte ihn im Gesicht. Er ging in die erste Kneipe, die seinen Weg kreuzte, sah sich kurz um und entdeckte hinten in einer Ecke eine Blondine, die es vielleicht gewesen sein könnte. Weit konnte sie ja noch nicht gekommen sein, und sicher war sie nicht erst lange auf der Straße herumgelaufen, mit nur einem Schuh. Die Blonde saß mit einem jungen Mann und einer Frau am Tisch. Er hatte sich nie das Gesicht seiner Besucherin vorgestellt, doch irgend etwas war in dem Gesicht der Blonden, das ihm vertraut erschien. Er ging an den Tresen, um sich ein Bier zu holen und um zu überlegen, wie er sie am besten ansprach. Schließlich wußte er ja nicht, ob sie überhaupt die Richtige war. Und selbst, wenn sie es war, vielleicht war sie ja wegen Emilia böse auf ihn.
Nachdem sich ihre Blicke bereits zweimal getroffen hatten, ging er endlich zu ihrem Tisch. Er zeigte ihr den Schuh, und wenn es ihrer wäre, dann wüßte sie ja, warum er jetzt hier sei. Sie sah sich den Schuh genau an, nahm ihn in die Hand und meinte dann, daß sie sich nicht sicher wäre. Um sicher zu gehen, solle er doch nachher einfach mit zu ihr kommen. Später bei ihr fanden sie trotz langem Suchen nicht den zweiten Schuh, aber sie waren nicht traurig darüber. Als sie gegen morgen Arm in Arm einschliefen, war er so erschöpft, daß er erst am nächsten Mittag wieder erwachte. Zuerst wußte er gar nicht, wo er war, geschweige denn, wie er in dieses wunderbare, breite Bett gelangt war. Die blonde Frau hatte ihm einen Zettel geschrieben. Darauf stand, daß sie leider schon zur Arbeit mußte und ihn nicht wecken wollte. Auch wo das Frühstück stehe und ihre Telefonnummer standen auf dem Zettel.
Am späten Nachmittag verließ er ihre Wohnung und ließ sich durch die Straßen und Plätze treiben. Er dachte an die letzte Nacht zurück: an ihren Geruch, an die Wärme ihres Leibes und an ihr Lächeln. Als es dunkel wurde, begab er sich wieder auf die Suche nach der Besitzerin des halbhohen Stiefelchens, das zu dem, welches er unter seiner Jacke trug, passen würde. Es sprach sich bald herum. Und irgendwas mußte doch an ihm dran gewesen sein, denn von nun an half ihm jede Nacht eine Frau bei der Suche nach dem zweiten Damenschuh. Und niemals gab es Trauer, wenn sie ihn doch nicht fanden.

Frank Nussbücker in: Kuchenmüllers Abflug - Liebesgeschichten, FAIRLAG, Wolfhagen

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