Der Bettler und die Pferdeschwanzfrau

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Der Bettler und die Pferdeschwanzfrau

Der Bettler und die Pferdeschwanzfrau

Anita Isiris

Er kannte in seiner Stadt jeden Stein. Jede Strasse. Jede Häuserecke, an der er sich niederlassen und seinen Lederhut vor sich hinstellen konnte – in Erwartung der Münzen, die da kommen sollten. Er nannte sich Nemo – «Niemand» - und lebte eigentlich ganz gut als Aussteiger. Und es war keineswegs so, dass er kein Geld gehabt hätte. Aber er hatte, nach der Trennung von Frau und Kindern in einer ganz anderen Stadt im Süden des Landes, eine neue Identität gesucht. Er konnte ja nicht den ganzen Tag nichts tun. Darum bettelte er. Um Menschen kennenzulernen. Menschen in ihrem Hochmut, ihren Abgründen, ihrer Grossherzigkeit und ihrem Zynismus. Und Nemo hatte seine Faszination für Pferdeschwanzfrauen entdeckt. Es waren diese joggenden, zwischen Sushi-Stand, Pilates, Yoga und Kindergarten hin- und her oszillierenden Frauen, oft in neonfarbenen Leggings unten am Fluss, auf der Brücke oder am Quai, und sie hatten diesen gewissen gemeinsamen Nenner: Einen neckisch wippenden Pferdeschwanz. Interessanterweise war die Haarfarbe der Pferdeschwanzfrauen meist dunkelbraun, selten schwarz, kaum jemals blond.

Während Nemo vor seinem halb gefüllten Hut sass, in den Abendstunden, folgte er den Pferdeschwanzfrauen mit seinen Blicken – und oft befiel ihn Melancholie, wenn er sich vorstellte, wohin diese Frauen entschwanden. Sie entschwanden meist in den Hochhausburgen, wo kurz darauf, im dritten Stockwerk oder so, das Licht anging. Bestimmt kochten sie Kürbissuppe für ihre Liebsten, das sie ihnen dann mit frischem Pistazienkernbrot servierten. Oder sie wickelten ihre Babies, während ihre Göttergatten mal wieder Überzeit schoben oder das zumindest vorgaben. Oder sie probierten – bei solchen Gedanken bekam Nemo augenblicklich eine Erektion – ihren neuen, zartblauen, bei H & M erworbenen BH an, vor dem IKEA-Spiegel. Diese Spiegel gab es in jeder Wohnung, so wie früher, als die Welt noch in Ordnung war, das Klavier fester Bestandteil jeder ordentlichen Familie war. Der Spiegel stand oft im Korridor, umsäumt von regennassen Stiefeln, oder direkt neben der Toilette, oder – pikanterweise – im Schlafzimmer. Nemo hätte viel darum gegeben, einmal ein solcher, in einem Schlafzimmer stehender, Spiegel zu sein. Die Pferdeschwanzfrauen hätten ihm zugelächelt, während sie sich das Pijamaoberteil über den Kopf zogen. Oder sie hätten ihm ahnungslos ihren jungen Hintern präsentiert, während sie ihre Göttergatten ritten. Und ihm, dem Nemo-Spiegel, wäre nichts entgangen, kein Detail. Schöne, runde Bewegungen, leises Stöhnen… und duftendes, offenes Haar, denn die Pferdeschwanzfrauen lösten ihre Frisur immer im Badezimmer, bevor sie sich ihren Männern hingaben.

Mitten in seinen Träumen gefangen realisierte Nemo eine Zeitlang gar nicht, dass eine Frau vor ihm stehen geblieben war. Erst sah er ihre pinkfarbenen Turnschuhe. Die hellblaue skinny Jeans. Die mintgrüne Winterjacke. Den schönen, schlichten Gesichtsausdruck. Das dunkelbraune, aus der Stirn zurück gekämmte Haar. Hätte sich die Frau zur Seite gedreht, wäre Nemo ihres Pferdeschwanzes gewahr geworden, ein wundervoller, kräftiger, sorgfältig gebundener Pferdeschwanz. Nemo hatte den Archetypus der Pferdeschwanzfrau vor sich. Er hob den Blick, sie lächelte ihm zu. «Bist Du schon lange hier?» Nemo wurde selten angesprochen. Entweder wurde er eiskalt geschnitten, oder dann senkten die Menschen – zumeist Kinder oder Frauen – die ihm eine Münze zuwarfen, verlegen den Blick. «Seit einer Stunde», antwortete er mit heiserer Stimme. Seine Stimme war heiser, weil er sie an jenem Herbsttag noch gar nie benutzt hatte. Die Frau ging nicht weg. Sie lächelte ihm zu. «Hast Du Hunger?», fragte sie ihn – und er kam sich vor wie Pinocchio, der das Herz einer blau gekleideten Fee gewonnen hatte – ohne eigentlich genau zu wissen, warum. Nemos Magen knurrte tatsächlich – er hatte noch nichts zu sich genommen, und Träume haben noch nie jemanden ernährt… zumindest nicht langfristig. «Ich geh eine Pizza essen. Willst Du mit?» Jetzt war Nemo endgültig sprachlos. Er erhob sich, hoffte, dass sie nicht vernahm, wie seine Knie knackten, und war endlich auf Augenhöhe mit der Pferdeschwanzfrau. Mit der Sushi-Liebhaberin, der Yoga- und Pilates-Besucherin, der Bioladenjoggingkindergartenstylishinstagramnetflixyoutubesexypferdeschwanzfrau! Sie hatte grosse tiefgrüne Augen, und sie wirkte frisch und unverbraucht. «Jodie», sagte sie. «Ich bin Jodie». Nemos Schläfen pulsierten und ihm war klar, dass im Grunde alle Pferdeschwanzfrauen Jodie heissen mussten. Er leerte den Inhalt seines Hutes in eine grosse Brieftasche, die er in einer Plastiktüte verschwinden liess, setzte den Hut auf und ging neben Jodie her Richtung Candela, der mit Abstand romantischsten, aber auch teuersten Pizzeria der Stadt.

Sie sassen einander schweigend gegenüber, aber Jodies offener Gesichtsausdruck sagte alles. Sie schien ihn zu mögen – egal ob er etwas sagte oder nicht. Nemo war froh, dass er sich am Morgen in der Bahnhofdusche zurechtgemacht hatte – er war frisch rasiert, hatte die Haare gewaschen, seine Nägel geschnitten und sich die Brauen gezupft. Sein Aussehen war nicht von schlechten Eltern. Nemo wirkte herb mit seinen klaren, blauen Augen, hatte Lachfältchen, die er seinen Kindern zu verdanken hatte, war breitschultrig und hätte als Urban Cowboy durchgehen können, so er denn einer gewesen wäre. Er war aber eben erst ein ganz normaler Familienvater gewesen, bis seine Frau die Pornos auf seinem Handy entdeckt und ihn umgehend vor die Tür gesetzt hatte. Dabei hatte doch heutzutage jeder Mann, der etwas auf sich hielt, Pornfos auf seinem Handy – einfach mehr oder weniger gut – und in seinem Fall gar nicht – passwortgeschützt, dachte er trotzig.

Jodie bestellte einen Merlot, und die beiden teilten sich eine Meerfrucht-XXL-Pizza. Beim Stückeschneiden berührte sie mit den Fingerspitzen seine Hand und jagte Nemo Wonneschauer den Rücken hinunter. Er wagte gar nicht erst, Jodie über ihr Leben zu befragen, aus Angst, der Augenblick könnte zerrinnen, und amüsierte sie mit kleinen Episoden aus seiner Vergangenheit – etwa aus der Zeit, in der er Rettungsschwimmer gewesen war. Nach der Tiramisù-Nachspeise näherte sich unweigerlich der «gehenwirzudiroderzumir»-Moment – und da baute ihm Jodie eine Brücke. «Komm, wir gehen nach hinten», flüsterte sie. Nemo folgte ihr und konnte den Blick nicht von ihrem Knackpo losreissen. Hellblau und skinny. Mit wippendem Pferdschwanz schlängelte sie sich am Ober vorbei, kurvte um ein paar Clubtischchen, an denen verliebte Pärchen an ihrem Apérol sippten und verschwand in einem dunklen Korridor. Die Männer- und die Damentoilette war mit stilgerechten silbernen Piktogrammen gekennzeichnet, und dahinter gab es eine nicht näher bezeichnete Tür. Jodie öffnete sie selbstsicher – und dahinter befand sich, Nemo traute seinen Augen kaum, ein Schlafraum mit einem ovalen, mit azurblauen Kissen bedeckten Bett. «Komm, Süsser, hier stört uns niemand», hauchte Jodie und zog sich ihren senfgelben Pullover über den Kopf. Die Wände und die Decke des «Candela»-Schlafzimmers waren mit Spiegeltapeten versehen – der verwunderte Nemo sah sich und seine begehrte Pferdeschwanzfrau mehrfach – wie in einem Spiegelkabinett. Mehrere Dutzend senfgelbe Pullover, mehrere Dutzend hellblaue skinny Jeans und, klar, mehrere Dutzend Pferdeschwänze. Als wäre sie seinen Träumen entsprungen, trug Jodie tatsächlich einen dieser unwiderstehlichen zartblauen BHs, von denen Nemo, auch wenn er nur daran dachte, die Luft wegblieb. Keine zwei Minuten später war Jodie splitternackt und half Nemo aus seinen Kleidern. Als er ebenfalls nackt war, verschloss sie seine Lippen mit einem innigen Kuss. «Ich will mit Dir vögeln», flüsterte sie, aber Nemos Schläfen pulsierten derart, dass er Jodies Aufforderung kaum mehr hörte. Er sank aufs ovale Bett, mit stahlhartem Speer, und Jodie setzte sich auf ihn. Sie bewegte sanft ihr Becken, so, dass Nemos Eichel an die richtige Stelle zu liegen kann. «Ich bin so feucht», hauchte sie und nahm Nemos Schwanz in sich auf. Er umfasste ihre Brüste und schaukelte mir ihr ewigem Glück entgegen. Jodie dutzendfach, mit geröteten Wangen, wippenden Brüsten und rotierendem Becken! Jodie, die Pferdeschwanzfrau. Jodie, die Bioladenjoggingkindergartenstylishinstagramnetflixyoutubesexypferdeschwanzfrau! In letzter Sekunde zog Nemo den Schwanz aus seiner Gespielin uns spritzte auf eines der Kissen. Schwängern wollte er sie auf keinen Fall. Er spürte die in ihm aufkeimende Freiheit, die ihm als Bettler zugestanden wurde – und er wollte sich keinesfalls neue Mütter, Babies und somit neue Pflichten aufbürden. Er wollte einfach… betteln und von Pferdeschwanzfrauen träumen und sonst nichts.

Dann wurde Nemo von Autolärm geweckt. Hinter ihm, direkt unter der einzigen Strassenlampe, parkierte ein Truck. Der Regen peitschte und hatte seinen Schlafsack durchnässt, mit dem er es sich unter der Stadtbrücke, unter der Brücke, über die ab und zu Pferdeschwanzfrauen joggten, gemütlich gemacht hatte. Murrend zog er sich ins Dunkel zurück, dorthin, wo der Regen ihn nicht erreichen konnte. Er lag starr, spürte, wie sein Rücken ihn schmerzte und blieb noch eine weitere Stunde liegen. Er war ganz unten angekommen, niemand wartete auf ihn. Dann raffte er sich auf, zischte sich ein Bier – sein letztes – schälte sich aus dem klitschnassen Schlafsack und rollte ihn zusammen, wobei er so viel Wasser wie möglich aus ihm presste. Seine Strassenkleider hatte er noch an und machte sich entschlossenen Schrittes auf, Richtung Bahnhofdusche. Dort machte er sich zurecht, rasierte sich, wusch sein Haar und zupfte sich die Brauen.

Es hatte aufgehört zu regnen.

Nemo setzte sich an seine Lieblings-Häuserecke und stellte seinen Lederhut vor sich hin. Er träumte sich ins Leben der Bioladenjoggingkindergartenstylishinstagramnetflixyoutubesexypferdeschwanzfrauen hinein und überlegte kurz, ob es Jodie wirklich gab. Mitten in seinen Träumen gefangen realisierte Nemo eine Zeitlang gar nicht, dass eine Frau vor ihm stehen geblieben war. Erst sah er ihre pinkfarbenen Turnschuhe. Die hellblaue skinny Jeans. Die mintgrüne Winterjacke. Den schönen, schlichten Gesichtsausdruck. Das dunkelbraune, aus der Stirn zurück gekämmte Haar. Hätte sich die Frau zur Seite gedreht, wäre Nemo ihres Pferdeschwanzes gewahr geworden, ein wundervoller, kräftiger, sorgfältig gebundener Pferdeschwanz. Nemo hatte den Archetypus der Pferdeschwanzfrau vor sich. Er hob den Blick, sie lächelte ihm zu.

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