Sie wusste schon früh, was sie wollte. Dies war eine ihrer verlässlichsten Eigenschaften. Bei ihr war nicht der Weg das Ziel. Der Weg war die Pflicht. Erst das, was sie am Ende dieses Weges erwartete, war die Kür.
So war es auch an diesem Tag. Kein Tag wie jeder andere. Sie warf einen zärtlichen Blick auf den vor ihr ausgestreckten Körper. Ein schöner Körper, ohne Zweifel. Aber heute war es nicht der Anblick dieses Körpers, der sie so faszinierte. Es war die Mischung. Zärtlichkeit, Ruhe und, ja - Gefühl. Noch nie hatte sie ein so warmes Gefühl für einen männlichen Körper entwickelt wie für diesen. Noch nie einen Mann so geliebt wie ihn. Er war tatsächlich der erste, der ihr alles gab. Nicht nur diese zweifelhaften Momente des Glücks, die ihr eine kurze, gemeinsam verbrachte Nacht bescheren konnte. Es war eine sie durchströmende Wärme, die sie so nicht kannte, von der sie, dessen war sie sich bereits jetzt sicher, abhängig werden würde.
Abhängigkeit. Ein scheußliches Wort. Sie überlegte sich, von wie vielen Menschen, nein, Männern, sie in ihrem Leben schon abhängig gewesen war. Sie hasste diese Abhängigkeit.
Stationen ihres Lebens tauchten vor ihr auf.
Aus der Erzählung ihrer Mutter wusste sie, dass der erste Mann, dem sie etwas zu verdanken hatte, ein älterer Arzt aus dem Nachbarort war. Er war fast noch nüchtern, weshalb er wohl gerade rechtzeitig zu ihrer Entbindung kommen konnte. Noch Jahre später erzählte ihre Mutter jedem, der es nicht verhindern konnte, wie stark dieser Mann war und dass er ihre kleine Sonne gerettet hatte. Die ebenfalls anwesende Hebamme wurde in diesen Erzählungen zu einer reinen Befehlsempfängerin degradiert, was in etwas die Wertschätzung ihrer Mutter für Konkurrentinnen im Geschlechtergerangel ausdrückte.
So gaben sich die Männer in der Folge ihres weiteren Lebens die Klinke in die Hand. Im übertragenen Sinne, soweit sie betroffen war, deutlich realer, was ihre Mutter beziehungsweise deren Schlafzimmertür anging.
Kinderfreundschaften mit kleinen Jungs, später mit schon etwas pickligen größeren Knaben und gar nicht so viel später mit den Clearasil-Junkies der Dorfjugend bestimmten bald ihr Leben.
Blindes Vertrauen
Hans Sanft
6 9-15 Minuten 0 Kommentare

Blindes Vertrauen
Zugriffe gesamt: 5467
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.