Bondage art

Lost in transformations - Teil 1

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Bondage art

Bondage art

Yupag Chinasky

Der Blick aus der Wohnung war fantastisch. Unter einem wolkenlosen, samtblauen Himmel funkelten unzählige Lichter so weit das Auge reichte. Die selten klare Sicht ließ die unfassbare Weite des Häusermeers nicht nur erahnen, sondern brachte auch alle Einzelheiten plastisch zur Geltung: die zusammengedrängten Hochhäuser im Zentrum, die kleinen Wohnhäuser in den Vororten, die wenigen dunklen Flächen der um diese Zeit ausgestorbenen Parks, die zahllosen Autoscheinwerfer, die den Verlauf der breiten Straßen markierten, die Schneisen der Eisenbahnlinien mit den dahinschleichenden rötlichen Fensterbändern der Züge und sogar den entfernten Hafen mit angestrahlten Kränen, Containern, Brücken und Schiffen. Doch die Krönung des Ausblicks lag weit entfernt am südwestlichen Horizont, ein kleines, weißes Dreieck, das sich deutlich von der dunkleren Umgebung abhob. So zeigte sich von hier aus der mit Schnee bedeckte Kegel des heiligen Berges, der Sitz der Götter, der in den letzten Strahlen der Sonne, die über der Stadt bereits untergegangen war, aufleuchtete. Es war ein seltener Anblick, schon fast ein festliches Ereignis, das den Berg in erschaubare Nähe rückte, weil ihn für gewöhnlich Dunst und Wolken verbargen. Der helle, ebenmäßige Kegel in der Ferne fand sein Gegenstück ganz in der Nähe, innerhalb der Wohnung, direkt vor dem Fenster: eine hohe, bauchige Vase auf einem kleinen Podest aus Ebenholz. Das tiefschwarze Holz und die nachtdunklen, glitzernden Fenster bildeten den perfekten Kontrast zu dem kostbaren, elfenbeinfarbenen Weiß des feinen Porzellans, aus dem dieses Meisterstück geformt war. Ein Kunstwerk ohne zusätzliche Muster, die nur abgelenkt hätten, ohne weitere Verzierungen, die eine Steigerung der ästhetischen Wirkung nicht vermocht hätten, ein Objekt, dessen vollendete, harmonische Form dem Vorbild in der Ferne durchaus ebenbürtig war.
Der alte Mann, der auf seinem niedrigen Sofa saß, hatte weder für das Kunstwerk vor den Fenstern noch für den seltenen Ausblick in die Ferne ein Auge. Die Kunst, die ihn umgab, kannte er zu genüge und auch die Aussicht war ihm wohl vertraut. Er konnte beides jeden Tag, jeden Abend, zu jeder beliebigen Zeit genießen. Selbst die fabelhafte Klarheit und die grandiose Sicht waren für den Alten nichts wirklich Neues. An diesem Abend spielte sich das Aufregende vor den Fenstern ab, im Schein einiger weniger Punktstrahler. Doch bevor nun erzählt wird, worauf der Alte so gebannt starrte, was seine ganze Aufmerksamkeit fesselte, muss einiges zu diesem Juwel über den Wolken, zu diesem Traum in Himmelsnähe gesagt werden und natürlich auch zu dem Alten selbst, dem Besitzer und einzigen Bewohner. Der großzügige, kreisrunde Wohnraum in diesem Penthaus auf einem der höchsten Gebäude der riesigen Stadt, war sein Ort zum Leben und zum Schauen. Die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten und sich fast nahtlos, nur durch schmale Streben getrennt, aneinander fügten, boten den einzigartigen Blick in alle vier Himmelsrichtungen., ein unbezahlbares Zimmer mit Aussicht. Der funktionale Rest der Wohnung, all das was für ein komfortables Leben notwendig ist, wie Küche, Bad, Fahrstuhl, war als kompakter Block in der Raummitte zusammengefasst. Dieser Block war zum einen das statische, tragende Element des Penthauses und zugleich dienten seine weißen Außenwände als Ausstellungsflächen für das private Museum des Besitzers. An ihnen hingen erlesene Bilder, die in Konkurrenz zu dem Ensemble aus Vase und Blick in die Ferne standen.
Die große Wohnung bot dem Alten nicht nur alles, was er zum Leben brauchte, sie war zu seinem
Lebensmittelpunkt geworden und er verließ sie fast nie. Hier traf er sich mit den wenigen, ihm noch verbliebenen Freunden. Hier empfing er die seltenen Besucher, die es schafften, an der strengen Rezeption, dem Wachdienst im Erdgeschoss, vorbeizukommen. Regelmäßig kam nur eine alte Frau, eine Hausangestellte, die putzte, aufräumte, die Mahlzeiten zubereitete und sich um das kümmerte, was im Haushalt eines alten Junggesellen anfällt. Die notwendigen Besorgungen erledigte ein Servicedienst, für alle technischen Dinge und für die anfallenden Reparaturen war die Hausverwaltung zuständig. Wenn, selten genug, geschäftliche Angelegenheiten geregelt werden mussten, die der Alte nicht selbst per Telefon, Post oder zunehmend über das Internet erledigte, kam ein älterer Anwalt. Dieser war eigentlich der einzige Vertraute, der ihm verblieben war und mit dem er dann lange redete, in Erinnerungen schwelgte und seine jetzige Situation, je nach Stimmung, beklagte oder beschönigte. Doch die meiste Zeit war der Alte allein und gab sich seinen stillen Freuden hin: essen, trinken, schauen und der Pflege seiner großen Leidenschaft.
Er war nicht anspruchsvoll, was Essen und Trinken betraf. Meistens nahm er Vorlieb mit dem, was seine Haushälterin ihm zubereitete oder was er sich selbst zubereitete. Manchmal, wenn ihm danach war oder wenn ihn sein Freund, der Anwalt, besuchte, ließ er eine aufwändige Mahlzeit aus einem feinen Restaurant kommen. Er brauchte dies zur Abwechslung des Einerleis, um durch Essen auf andere Gedanken zu kommen oder schlichtweg, um seine Gier nach Fleisch in Gesellschaft zu befriedigen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war diese Gier nach Fleisch jeglicher Art immer noch sehr groß. Wenn er das drängendste Verlangen mit tellergroßen Steaks oder einem üppigen Ragout aus Innereien befriedigt hatte und reichlichen Mengen an Sake geholfen hatten, die Massen zu bewältigen, orderte er bei einer spezialisierten Agentur den Nachtisch, junges Fleisch zum Anfassen, Anschmiegen, Aufwärmen und Eindringen, während sich sein Freund, diskret zurück zog. Der war überzeugt, dass er beide Arten von Fleisch bräuchte, die eine zum Aufbau und Erhalt seiner Kräfte, die andere, um die so gewonnenen Spannungen, besser geaght die noch verbliebenen Spannungen, wieder abzureagieren, denn Spannungen und Erregungen überkamen ihn, trotz seiner fortdauernden Begierde, immer seltener und die Suche nach einer erlösenden, finalen Befriedigungen war meistens vergeblich und so blieb ihm als Nachtisch meist nur Anfassen, Anschmiegen und Aufwärmen. Die ausufernden Mahlzeiten waren selten, aber der Blick aus seiner Traumwohnung war ständig vorhanden. Ob die seltene Klarheit oder der übliche Dunst, ob die Reflexionen der Sonnenstrahlen auf den unzähligen, spiegelnden Flächen der Megapolis oder die Beugung der nächtlichen Lichter in der Fülle der Regentropfen auf den Fensterscheiben, ob die prachtvollen Sonnenauf- und -untergänge oder das gleißende Licht der Mittagssonne, all das kannte er mittlerweile zu Genüge. Er genoss diese Aussicht zwar immer noch und er erfreute sich nach wie vor an den fantastischen Blicken, aber richtig erregen konnten sie ihn nicht, genauso wenig, wie ihn der exquisite Nachtisch noch erregen konnte.
Erregung fand er auf einem anderen Gebiet. Sein wahres Vergnügen, seinen Kick, die Erfüllung in der leeren Zeit fand er ausgerechnet auf einem Gebiet, das ihn all die Jahre zuvor nicht interessiert hatte, weder in seiner Jugend noch in der Zeit, als er reichlich Geld scheffelte. Es war die Kunst, die unvermittelt in das Zentrum seines Interesses gerückt war, ja zum Mittelpunkt seines Lebens geworden war. Sie war es, die nach dem Ende seiner beruflichen Karriere, als er gezwungen war, sein Leben auf den wenigen Quadratmetern dieser Traumwohnung zu verbringen und sich auf sich selbst zu konzentrieren, seine Zeit in Anspruch nahm und sein Können neu herausforderte. Als intelligenter, zupackender Mensch, der in seinem Beruf ständig agieren und entscheiden musste, wäre er geistig verdorrt, verkümmert, ausgetrocknet, in Depressionen verfallen, wenn er sich nicht eine Ersatzbefriedigung verschafft, hätte. Er entdeckte diese neue, faszinierende Welt der Kunst aus reiner Langeweile. Doch dann verfiel er ihr regelrecht. Am Anfang besorgte er sich Bücher, abonnierte Zeitschriften, las einschlägige Artikel, verfolgte Sendungen im Fernsehen, später durchforstete er vornehmlich das Internet und eignete sich so ein beachtliches Wissen an. Als er merkte, dass ihn dieses Feld und die Beschäftigung interessierte, beschloss er das, was als Ablenkung und Hobby geplant war, zu seinem neuen Beruf zu machen, denn es blieb nicht aus, dass er auch hier die Fähigkeiten einsetzte, die er im Beruf erworben und perfektioniert hatte. Dieses neue Möglichkeit seine in langen Jahren erworbene Fähigkeiten wieder einzusetzen, war wohl auch der wahre Grund, warum er sich auf diesem neuen Gebiet so intensiv betätigte. Es war nicht nur die Kunst an sich, die ihn fesselte, nicht nur der ästhetische Genuss oder die Freude an einem perfekten Kunstwerk, sondern Kunst als Wirtschaftsfaktor, der Handel mit Kunst. Mit der Zeit gelang es ihm, in den Dschungel des Kunstmarkts einzudringen und der internationale Kunsthan- del wurde sein Spezialgebiet, weil ihn dessen kriminelle Aspekte in hohem Maße faszinierten. Das war kein Wunder, denn auf dem weiten Feld illegaler Machenschaften besaß er reichlich eigene Erfahrung. Und so war es auch nur folgerichtig, dass er das Feld der grauen Theorie bald verließ. Ausgestattet mit reichlich Kapital, um im oberen, lukrativsten Segment des Kunstmarkts einzusteigen, begann er zu kaufen, immer nur über das Internet, von Galerien, von den Künstlern oder telefonisch bei Auktionen. Er erwarb ausschließlich zeitgenössische Kunst, von der er annahm, dass sie sich auf dem Markt lukrativ weiter entwickeln würde. Er hatte für Prognosen immer einen guten Riecher gehabt und für riskante Geschäfte immer ein gutes Händchen, Eigenschaften, die ihn schon in seinem angestammten Beruf ausgezeichnet hatten und ihn auch jetzt nicht verließen. Zu Beginn seiner Händlertätigkeit ließ er sich die erworbenen Gemälde, die Drucke oder die hochwertigen Fotografien in seine Wohnung kommen und hängte sie an die wenigen weißen Wände oder stellte die avantgardistischen Skulpturen vor die raumhohen Fenster. Rasch merkte er, dass es gar nicht notwendig war, die Kunstobjekte materiell zu besitzen. Es war eher sogar eher lästig, die Transporte mit dem Risiko von Beschädigungen, die teuren Versicherungen, der Platzmangel in seiner Wohnung und die etwas ernüchternde Erfahrung, dass ihm vieles, ja fast alles, was er erwarb, gar nicht gefiel, dass er sich die teure Kunst gar nicht lange anschauen wollte, dass er immer froh war, wenn er das Zeug wieder loshatte, dass er es zu einem angemessenen, das heißt zu einem weit höheren Preis wieder verkaufte. Wie er das schaffte, war eines seiner Geheimnisse, dass er vielleicht selbst gar nicht so recht kannte, aber Tatsache war, dass er fast immer, bei fast jeder Transaktion, einen guten Schnitt machte. Vielleicht war die Fähigkeit den richtigen Moment für den Verkauf abzuwarten eines dieser Geheimnisse. Um jedoch abzuwarten, brauchte man nicht die physische Präsenz der erworbenen Güter. Die Kaufurkunde, das Echtheitszertifikat, die Rechnung, eine gute Abbildung oder Reproduktion genügten vollauf. Sie genügten allemal, um mit den Kunstwerken zu jonglieren, sie irgendwo, in anonymen Depots zwischenzulagern, anzudeuten, dass man etwas hatte, Köder auszulegen, zu pokern und sie zum geeigneten Zeitpunkt wieder an das Tageslicht zu holen und schließlich lukrativ zu verkaufen. Bei den Lagerungen, den verschwiegenen, sicheren Orten und den notwendigen Transporten half ihm auch wieder seine alte Firma, genauso wie beim Ausspähen potenzieller Kunden, die danach lechzten, illegale, schwarze Gelder in absolut legale zu verwandeln, die in reinstem, unschuldigstem Weiß strahlten. Für diese Hilfen musste er natürlich einen angemessenen Obulus entrichten, einen happigen Prozentsatz abführen, aber das war die Regel und mit Regeln kannte sich der alte Fuchs aus, wie kein Zweiter. Erstaunlich war, dass alles, was dieser Fuchs tat, von seiner Wohnung aus geschah. Er besuchte keine Auktionen, setzte seinen Fuß in kein Museum, hatte noch nie eine Galerie oder Ausstellung besucht oder gar einen Künstler in seinem Atelier. Das alles wäre ohnehin schwierig gewesen, da sein Arbeitsfeld der internationale Markt war und er weder reisen durfte noch wollte. Er hielt es aber auch nicht für nötig, das Kunstwerk, die er kaufen wollte, zuvor mit eigenen Augen zu sehen oder mit den Händen abzutasten. Er verließ sich auf die neu erworbene Erfahrung, auf das Glück, das ihm lange Jahre treu gewesen war und auf seine offensichtliche, natürliche Begabung, die man auch als Instinkt für alles Geschäftliche, vor allem für alles Illegale bezeichnen konnte. Er hatte Erfolg und verschaffte sich zugleich Befriedigung und als Beigabe verdiente er bald mehr als nur ein ansehnliches Zubrot.
Doch nachdem er sich selbst bewiesen hatte, dass er als Kunsthändler diesen Erfolg hatte, verlor er an der banalen Beschäftigung des Kaufens und Verkaufens wieder das Interesse, finanziell war er auf das Zubrot ohnehin nicht angewiesen. Dafür tat sich ihm ein neues Feld auf. Der Umgang mit Kunstwerken, die andere geschaffen hatten, begann ihn bald zu langweilen. Es begann schon in der Zeit, als er sich die Werke noch kommen ließ. Er fand viele langweilig, uninteressant, protzig, nur geschaffen, um einem Massengeschmack zu genügen. Eines musste man ihm lassen, diesem alten Fuchs, Geschmack hatte er. Wenn er diese Werke tage- oder wochenlang in seinem privaten Museum zwischenlagerte und er sie täglich sah, kamen ihm oftmals bessere Ideen. Der Gedanke, selbst Kunst zu schaffen, eigene Werke herzustellen und zu verkaufen, machte sich immer mehr breit. Er kam zu dem Schluss, dass keine Kunst, keine Literatur, nichts in der Welt des Schönen und Erhabenen so gut ist, wie das, was man selbst schafft. Befriedigung erhält man nicht durch Konsumieren und schon gar nicht durch Handeln, sondern nur durch produzieren. Diese Gedanken hegte und pflegte er und nun stand er kurz davor, sie zum ersten Mal in die Tat umzusetzen. Natürlich war er handwerklich völlig unbegabt, hatte keinerlei Erfahrung im Herstellen eigener Kunstwerke. Er machte auch keine Anstalten, sich in Malerei, Photographie oder Kalligrafie, in das Herstellen von Tontöpfen oder das Färben von Stoffen zu versuchen. Aber er hatte außer seinem guten Geschmack auch viel Fantasie und er konnte Kunst von Kitsch unterscheiden. Er wusste, was die Leute mit Geld kaufen wollten, er wusste, was sich zum Waschen eignete, und er wusste, dass er sich selbst irgendwie verwirklichen wollte, sich selbst in die Kunstszene einbringen wollte. Er hatte immer gemacht, was er wollte. Das war sein Wesenszug, das war der Grund seines Erfolgs, in der Firma, in seinem bisherigen Leben. Er war intelligent, bauernschlau, zäh, durchtrieben und absolut egoistisch. Ein Egomane und rücksichtsloser Verfechter seiner Ziele. Auch jetzt wusste er schon bald, wie er seine Vorstellungen umsetzen könnte. Ob er auch auf dem Kunstmarkt mit seinen eigenen Werken Erfolg haben würde, war ihm ziemlich egal, denn Geld hatte er reichlich, mehr als genug, mehr als ein alter, isolierter, in eine Traumwohnung verbannter Mann, je würde ausgeben können. Geld scheffeln war allenfalls ein Kriterium, ein wichtiges, wenn er darüber nachdachte, vielleicht sogar das einzige, um sich selbst und anderen zu beweisen, dass man gut und erfolgreich ist, als Künstler und als Kunstverkäufer und als Mann. Und erfolgreich wollte er sein, immer noch oder erst recht.

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Shibari

schreibt N8Dreams

Eine ungewöhnlich gute Geschichte, mal was Anderes. Man ist neugierig darauf, wie es weiter geht.

Gedichte auf den Leib geschrieben