Der Brief

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Der Brief

Der Brief

Ralf Thomas

Alex stand an den Rahmen der großen Verandatür gelehnt. Sein Blick hing leer über der weiten Bucht. Das Meer war außergewöhnlich ruhig heute, kein Windhauch schlug eine Welle an. Die schmale Mondsichel streute nur wenig Licht über den direkt hinter der Terrasse beginnenden Strand. Er fühlte sich miserabel. Wenn jetzt plötzlich eine Riesenwelle die Bucht heimsuchen, ihn mit sich reißen und ins offene Meer spülen würde. Es wäre ihm scheißegal gewesen.

Seit einer Woche waren sie nun hier auf der Insel, „ihrer” Insel, um Urlaub zu machen. Er, Ramona und ihre beiden halbwüchsigen Kinder. Sie hatten per Zufall dieses Ferienhaus hier bekommen, hier, direkt an ihrem Lieblingsstrand. Zum Erholen, Ausspannen, Relaxen. Einfach die Seele baumeln und fünfe gerade sein lassen. Und zum Reden, das hatte sich Alex fest vorgenommen. Reden über ihre Beziehung, die in den letzten Jahren so eingeschlafen war. Keine Nähe, keine Zärtlichkeit mehr. Allag eben. Nicht einmal die kleinen Gesten der Verbundenheit ein Streicheln der Wange, Streichen durch das Haar geschahen noch bei Ihnen.

Sie hatten das Gespräch verloren. Sich einander austauschen und anvertrauen, über sich und ihre Gefühle. Auch wenn Alex es niemals zugab er litt sehr darunter. Und so hatte er ihr einen Brief geschrieben, vor über einem halben Jahr. Ihr darin versichert, dass er sie immer noch liebe. Nachgefragt, warum sie seine Nähe mied und um ein offenes Gespräch gebeten. Sehnsüchtig hat er auf eine Antwort gewartet.

Eine Woche, zwei. Einen Monat, zwei. Fast ein halbes Jahr.

Ihr gemeinsamer Urlaub rückte näher. Alex wollte es noch einmal versuchen. In der gelösten Stimmung auf dieser herrlichen Mittelmeerinsel war sie immer so befreit.

Eine Idee beschlich ihn. Bei einem Juwelier fand er das passende. Und er schrieb einen weiteren Brief. Er hatte ihn vor sechs Wochen verfasst. Ihn danach hundertmal gelesen, ihn hundertmal abgeändert. So kannte er ihn nun in und auswendig, den Brief, den er ihr am ersten Morgen auf den vorbereiteten Frühstückstisch gelegt hatte, bevor er zu Pepe zum Brötchen holen gegangen war:

Liebe Ramona!

Gestatte mir auf diesem Wege eine kleine Überraschung. Bitte öffne zuerst das angehängte kleine Päckchen, falls Du es nicht schon gemacht hast, und lese danach erst weiter (auf der Rückseite).

....

....

Ich hoffe, dir gefällt das Fusskettchen. Die Symbole daran habe ich mit Absicht so ausgesucht. Du hast mir leider bis heute nicht auf meinen Brief geantwortet, aber ich hatte dir ja auch geschrieben, dass Du dir Zeit dazu nehmen kannst. Ich meine zu fühlen, dass Du nicht mehr ganz so abweisend zu mir bist (das ist zumindest mein subjektiver Eindruck). Allerdings bist Du auch noch nicht weiter auf mich zugekommen. Ich möchte dir hiermit zeigen, dass es mir ernst mit dieser Angelegenheit ist und der (Liebes) Brief nicht nur ein einmaliger Versuch meinerseits ist. Wenn man(n) um (s)eine Angebetete wirbt, dann macht man(n) das meistens auch mit kleinen Geschenken. Ich glaube, so zum Urlaubsanfang, ist das ein ganz guter Zeitpunkt. Dieses kleine Präsent soll ein Zeichen an Dich sein: ich liebe Dich und ich begehre Dich. Es kann ebenso ein Zeichen von dir an mich sein, dass ich die Hoffnung nicht aufgeben brauche, dass wir vielleicht doch noch wieder ein Liebespaar werden. Du kannst es am Strand, beim Ausgehen oder auch Abends tragen. Vielleicht um mir zu sagen: „Schau her mein Mann, ich hab Dich auch lieb.” Selbstverständlich kannst du das mir aber auch direkt sagen oder beides machen.

So ein Fusskettchen hat sicherlich etwas erotisches an sich. Ich gebe es ehrlich zu, ich möchte sehr gerne wieder eine erotische Beziehung mit dir haben. Aber ganz sicher nicht so, wie es (vor langer Zeit) die letzten Male zwischen uns gewesen war. Wenn eine Frau keine Lust und keinen Spaß daran hat, dann ist das für einen Mann wie mich auch nicht schön und erstrebenswert. Wie schon mal gesagt, dann verzichte ich lieber auf Erotik (und erst recht auf Sex).

Vielmehr sollten wir miteinander darüber reden. Ich möchte, dass Du die Initiative ergreifst, damit Du Dich nicht von mir gedrängt fühlst. Du sollst bestimmen wie weit und mit welcher Geschwindigkeit das Ganze vor sich gehen soll. Dann kann ich mir auch sicher sein, dass Du das auch so willst und nicht irgendwas über Dich ergehen lässt, nur um mir einen Gefallen zu tun (falls Du das überhaupt machen würdest). Also, wenn ich dir noch am Herzen liegen sollte, dann gib Dir bitte einen Ruck und komm irgendwie auf mich zu. Oder sag mir, dass ich Dich damit in Ruhe lassen soll; dann weiß ich wenigstens Bescheid. Ich möchte dir nun am ersten Urlaubstag nicht die Ohren vollabern (oder besser schreiben) und Dich nerven; deshalb mach ich jetzt hier Schluß und warte (sehnsüchtig) auf Deine Reaktion.

In ehrlicher Liebe

Alexander

Wieder hatte er gewartet. Einen Tag, zwei, drei – eine Woche. Doch heute Abend hatte er seinen ganzen Mut zusammen genommen. Sie waren Paella essen gewesen, Paella valenciana. Die mochten sie alle am liebsten. Danach waren ihre Sprößlinge an den Strand gegangen, um mit anderen Teenagern aus den Nachbargebäuden eine kleine Party zu feiern. Alex holte eine Flasche von dem exzellenten Rosado aus dem Kühlschrank, hielt sie hoch, dass Ramona sie sehen konnte.

„Vino Rosado?” fragte er in ihre Richtung.

„Ja, gerne.”

Er schritt zur Vitrine, holte zwei Stilgläser heraus und stellte sie auf den Tisch. Mit geschickten Händen öffnete er die Flasche, roch kurz am Korken und schenkte dann die zartrote Flüssigkeit in beide Gläser ein. Er reichte ihr eines und sie stießen zusammen an. Während Ramona noch am Glas nippte begann er zögerlich:

„Darf ich dir eine Frage stellen?”

„Hmmm. Der Wein ist lecker.”

Alex ließ sich nicht beirren und fragte nach.

„Hast du meinen Brief gelesen?”

Es traf sie wie der Blitz aus heiterem Himmel. Ein stummes Nicken war ihre einzige Reaktion.

„Ich würde gerne mit dir darüber reden.”

Ramona senkte den Blick, schaute unsicher auf den Boden. Alex ließ jedoch nicht locker.

„Wie sieht es mit dir aus?”

Sie sah etwas zu ihm auf. Ein verhaltenes Achselzucken war Teil ihrer Antwort:

„Nicht jetzt.”

Enttäuschung machte sich in seinem Gemüt breit.

„Wann dann?” hakte er nach.

„Weiß nicht.”

Kaum hörbar kamen die Worte über ihre Lippen.

„Du willst nicht mit mir darüber reden, stimmts?”

Resignation war aus seiner Stimme zu entnehmen.

„Das habe ich nicht gesagt”, erwiderte sie schnell.

Stille breitete sich in dem Raum aus. Ramona sah verlegen auf den Boden, spielte nervös mit dem Glas in ihren Händen. Alex hätte seines am liebsten gegen die Wand geworfen, aber sein Naturell verbot es ihm. In einem Zug leerte er es, spülte den feurigen Wein die schmerzende Kehle hinunter. Ganz behutsam stellte er das Glas zurück auf den Tisch.

„Hätte es mir ja auch denken können”, murmelte er, fast unhörbar.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte er sich um, verließ den Raum in Richtung Salon. An der offenen Tür zur Terrasse blieb er stehen. Er hätte heulen können in diesem Moment. Oder sterben.

Warum mied sie seine Nähe? Und noch viel schlimmer: warum wollte sie mit ihm partout nicht darüber reden? Was hatte er ihr schlimmes angetan, dass sie sich ihm gegenüber so verhielt? Tausend Gedanken marterten sein Hirn. Die Zeit verrann, er stand bewegungslos dort, starrte in die Ferne des Horizonts. Wo blieb sie nur, diese scheiß gottverdammte Welle, die ihn von seinen Schmerzen endlich erlösen würde! Total in seine schmerzhaften Gedanken versunken registrierte Alex erst nach und nach, dass sich eine Hand auf seine linke Schulter gelegt hatte. Nicht fest, nein, nur leicht wie eine Feder, kaum zu spüren unter seinem T-Shirt.

Aus den Augenwinkeln heraus erkannte er Ramonas kleine, zierliche, rechte Hand mit dem goldenen Ehering am Finger. Was sollte er jetzt blos tun? Er hatte eher mit einer krachenden Tür gerechnet, als das sie auf einmal hinter ihm stehen würde. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen blieb er wie eine Statue stehen, abwartend, wie Ramona sich weiter verhalten würde.

Ihre Fingerkuppen glitten über sein Schulterblatt, schräg nach unten zur Körpermitte.

Vorsichtig. Zögerlich. Als ob sie etwas suchten oder ob sie überhaupt etwas suchen sollten. Sie wanderten weiter über seine Lenden, kamen bei seinem rechten Hüftknochen zur Ruhe. Obwohl es eine sehr warme Sommernacht war überzog eine Gänsehaut seinen Rücken. Langsam legte sich ihre Handfläche auf seine Hüfte. Und sogleich spürte er auch ihre linke Hand auf der anderen Seite. Und dann ihre Stirn.

Den Haaransatz ihrer Stirn an seiner Wirbelsäule.

„Du, ...”, flüsterte sie leise.

Alex stand immer noch wie versteinert da.

„Ich, ...”, fand sie keine weiteren Worte.

Er wusste immer noch nicht, wie er sich verhalten sollte. Eine falsche Reaktion von ihm, und alles wäre endgültig hin. Dessen war er sich sicher. Also wartete er weiter ab.

„Ich, ..., ich hab' dich lieb.”

Hatte er richtig gehört? Sie sprach es so leise aus, dass er es fast nicht vernommen hatte. Doch entschlossen umfasste sie seinen Bauch, kuschelte sich mit ihrem ganzen warmen Körper an seine Rückseite, presste eine Wange fest gegen seinen Rücken.

Alex war wie in Trance. Konnte es nicht fassen, was soeben geschehen war. Zaghaft umfasste er ihre Unterarme, die seine Bauchdecke fest umklammerten. Zärtlich strich er an ihnen entlang, bis zu ihren Handrücken. Deutlich zeichneten sich ihre kleinen, festen Brüste durch ihr dünnes Sommerkleid auf seinem Rücken ab, bohrten sich zwei kleine, harte Punkte tief in seine Haut.

Nach einer kleinen Ewigkeit löste sich Ramona etwas von ihm. Ihre Hände zogen sich wieder auf seine Hüften zurück. Der unterschiedliche Druck an seinen Beckenknochen bedeuteten ihm, dass er sich umdrehen möge. Alex schloss kurz die Augen, atmete tief ein. Spürbar füllten sich seine Lungen mit der lauen Sommernachtsluft. Langsam begann er sich zu drehen. Und dann sah er sie, die kleinen goldenen Herzen, die das fahle Mondlicht zaghaft zurückspiegelten. Die Herzen, die an dem Fusskettchen befestigt waren, welches sie jetzt um den Knöchel trug.

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