Die Luft an diesem Frühlingsmorgen war so lau und der Himmel mit den wenigen Schönwetterwolken so blau, dass Famke zum ersten Mal in diesem Jahr mit offenem Verdeck zur Arbeit fuhr. Auf den ersten Kilometern grüßte sie wie immer der außer Dienst gestellte Fernsehturm, der wie ein gigantischer Stachel aus Glas, Beton und Stahl am Firmament kratzte. Der Frühlingswind spielte mit ihren blonden Haaren, als sie ihren gelben Käfer vom Hochland hinunter ins Tal steuerte. Seit die neue Elbquerung für den Straßenverkehr geöffnet war, wählte sie öfter diesen Weg, um die noch ungewohnte Perspektive auf die barocke Silhouette der Stadt, die sich im Licht der weichen Morgensonne dunstig gegen den Horizont abhob, zu genießen.
Wenige Minuten später war die City erreicht und sie tauchte in die brandneuen Katakomben des modernen, auf den Ruinen der zerbombten Stadt errichteten Einkaufszentrums ein. Sie parkte ihren Wagen auf ihrem Stellplatz ab, schloss das Verdeck und ging ein wenig fröstelnd zu Fuß die zwei Treppen hinauf zum Tiefgaragenausgang, der sich unweit ihres kleinen Ladens befand. Nach wenigen Schritten durch die noch wenig bevölkerte Seestraße am Rand des berühmten Marktplatzes war Famke am Ziel. Jedes Mal, wenn sie die Tür zu ihrem Fachgeschäft für Dessous öffnete, empfand sie Stolz und Freude über dieses Schmuckstück in bester Lage. Obwohl sich die Eröffnung in diesem Jahr zum dritten Mal jährte, konnte sie ihr Glück immer noch nicht richtig fassen. Zu frisch waren die Erinnerungen an die nervenaufreibenden und demütigenden Bittgänge bei den Banken, an die anzüglichen Blicke, die ihr in den Kreditabteilungen nachgeworfen wurden und an das frustrierende Warten auf Bescheide, Genehmigungen oder einfach nur auf simple Auskünfte.
Famke hatte eine Lehre als Einzelhandelskauffrau mit Auszeichnung absolviert und sich später zusätzlich zur Stil- und Farbenberaterin ausbilden lassen. Schon als junges Mädchen hatte sie von einer eigenen Boutique, von einem Fachgeschäft für Tee oder von einem Wollladen geträumt. Schließlich hatte sie sich für Damenwäsche entschieden, die von jeher eine eigenartige Faszination auf sie ausgeübt hatte. Überhaupt hatte es ihr alles Weibliche auf besondere Art und Weise angetan, und Wäsche, das war für sie der Inbegriff der Weiblichkeit. Nicht einmal ein Gynäkologe in seiner Praxis kam dem Wesen einer Frau so nah wie Famke in ihrem Laden für Dessous. Doch zunächst hatte Famke nach den enttäuschenden Erfahrungen bei der angestrebten Existenzgründung ihren Traum begraben und notgedrungen in der Wäscheabteilung eines großen Kaufhauses anheuern müssen. Dank ihres Interesses für das Metier und ihres unbedingten Willens zu lernen, war sie rasch zur Assistentin der Abteilungsleiterin aufgestiegen. Diese war es auch, die ihre Talente erkannt und ihr zu dem Lehrgang für Stil- und Farbenberatung geraten hatte.
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