Nach einer zweistündigen Zugfahrt, die sie meist dösend verbracht hatte, erreichte der Zug die kleine Stadt. Die Schule lag etwas außerhalb, in einer eher ländlichen Gegend, weswegen Charlotte abgeholt werden sollte. Kaum dass sie mit ihren Koffern auf dem Bahnsteig stand, kam ein Mann auf sie zu. Er stellte sich Charlie überaus höflich vor, deutete dabei sogar eine leichte Verbeugung an. Er gab Charlotte die Hand.
„Fräulein König? Ich bin Herr Ludwig und soll sie in das Mädcheninternat Schloss Ruteberg bringen.“
Charlies Lächeln gefror augenblicklich. Ihre anfängliche Sympathie für den freundlichen Mann erlosch, als sich Herr Ludwig als Mitarbeiter der Mädchenschule offenbarte. Der dreißigjährige Hausmeister erfasste die Situation schnell. Charlotte war bestimmt nicht die erste Schülerin, die nur widerwillig nach Ruteberg kam. Hermann Ludwig konnte aus einem reichen Erfahrungsschatz berichten, was diese Dinge betraf. Anfangs der Fünfziger-Jahre des letzten Jahrhunderts hatten die Eltern das letzte Wort, was die Schulauswahl betraf. So auch bei Charlotte, die sich missmutig neben Herrn Ludwig in den Opel setzte. Sie saß stumm wie ein Fisch auf dem Beifahrersitz. Der Mann fragte:
„Mir scheint, dass sie höchst ungern hier sind. Dabei wäre es leichter, wenn sie sich in das Unvermeidliche fügten. Glauben sie mir, Frl. König, ihr Trotz bringt ihnen nichts als Ärger ein!“
Seine Stimme klang milde, als wollte er Charlie gut zureden. Hermann sah dem hübschen Mädchen an, dass sie gerne in Fettnäpfchen trat. Er arbeitete lange genug auf Schloss Ruteberg, um vorherzusehen, dass Charlotte mit dem dortigen Reglement in Konflikt geraten könnte. Charlie zog die Stirn kraus, als sie Hermanns gutgemeinte Mahnung vernahm. Wütend polterte sie:
„Jawohl, ich möchte wirklich nicht auf dieses dumme Internat! Aber es soll ja keiner glauben, dass ich mir alles gefallen lasse. Ich bin bereits 17 Jahre alt, und in spätestens einem Jahr werde ich mein Abitur in der Tasche haben. Diese Zeit bringe ich hinter mich, da können sie ganz beruhigt sein!“
Hermann lächelte amüsiert. Diese starrköpfige, junge Frau wird sich umsehen! Er entgegnete ihr:
„Die Frage ist: wie sie dieses Jahr verbringen, Charlotte? Es herrschen gewisse Regeln auf Schloss Ruteberg, die sie besser einhalten sollten. Die Direktorin, Frau Dr. Streich ist…wie soll ich sagen…sehr streng in diesen Dingen. Wenn sie keine Schwierigkeiten machen, wäre das für sie am besten.“
Nun fühlte sich Charlotte erst richtig herausgefordert. Sie widersprach Hermann sofort:
„Das werden wir ja sehen! Diese Frau Doktor wird akzeptieren müssen, dass ich eine junge Frau bin und kein albernes Schulmädchen. Lassen sie das also ruhig meine Sorge sein. Ich komm schon gut alleine zurecht. Sagen sie mir lieber, wann wir da sind. Die Sitze ihres Autos sind nicht sehr bequem.“
Nun schlich sich ein ironischer Zug um seine Mundwinkel. „Warte nur, Mädchen…“, sagte er zu sich selbst, „…bis du einmal mit Frau Doktor aneinander geraten bist. Dann sehnst du dich nach solch unbequemer Sitzgelegenheit zurück!“ Gegenüber Charlie schlug er freilich andere Töne an.
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