Clara und Leon

Eine nicht alltägliche Ehe - Teil 9

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Clara und Leon

Clara und Leon

Grauhaariger

Olivias Körpersprache sagte ganz klar, dass sie nicht scherzte.
Tränen liefen erneut über ihr Gesicht. Liv umarmte ihren Mann und drückte sich ganz fest an ihn.
Martin wusste überhaupt nicht, was los war. Hatte sich seine Frau tatsächlich in einen anderen verliebt? Oder in eine Frau? Erst einmal hielt er Olivia ebenso fest umarmt wie sie ihn.
„Ich habe mich unsterblich verliebt!“, wiederholte Liv, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.
„Willst Du mich verlassen?“ Martin schien ratlos.
„Nein, niemals! Wieso?“ Liv war entsetzt. Wie konnte Martin so etwas nur denken? Klar, überlegte sie weiter; das muss er ja annehmen! Er wusste doch von nichts.
„Die zwei,“ Olivia lächelte trotz der Tränen, „sind sowas von…!“ Ihr fehlten die Worte.
Ihr Mann nahm seine Liebste erneut fest in den Arm. „Beruhige Dich erst einmal!“
Nach und nach erfuhr Martin, was geschehen war und warum seine Frau so emotional reagiert hatte. Liv war im Flughafenterminal unterwegs gewesen und gönnte sich bei Claudio einen italienischen Kaffee. Ein Mädchen, fünf Jahre alt wie sie später erfuhr, mit ihrem dreijährigen Bruder an der Hand, schienen sich verlaufen zu haben.
„Kann ich euch helfen?“ sprach Liv die Kinder an.
„Hmmm,“ das Mädchen blieb stehen und bremste ihren Bruder ebenso ein. „Wir suchen Frau Müller!“
Olivia rutschte von ihrem hohen Hocker herunter und ging vor den Kindern in die Hocke. „Wo habt ihr sie denn zuletzt gesehen?“
„Da hinten irgendwo!“ Die Kleine deutete in eine Richtung. Olivia erfuhr, dass Leon, der kleine Bruder, etwas gesehen hatte und einfach losgelaufen war. „Und jetzt sind alle weg!“
Liv versuchte das Mädchen zu beruhigen und fragte nach ihrem Namen.
„Clara,“ meinte sie aufgeweckt.
„Und wer ist Frau Müller?
„Hach, da seid ihr ja!“ Eine Frau, so um die fünfzig stach um die Ecke.
Olivia, mit ihrer Uniform wirkte sie trotz des jungen Alters sehr seriös, kam mit der Frau ins Gespräch.
„Die Kinder sind allesamt Waisen!“ erfuhr Martin von seiner sichtbar betroffenen Frau. „Ich hab der ganzen Gruppe, alles in allem sieben Kinder und die Frau Müller, einen Kakao ausgegeben. Und als klar war („und was machst Du so?“), dass ich Pilotin bin, kam die Frage: „Dürfen wir dein Flugzeug mal sehen?“
„Ich hab meine ganzen Beziehungen spielen lassen und es tatsächlich geschafft, dass wir die A350, mit der ich gekommen war und die auf dem Vorfeld für ein paar Stunden geparkt wurde, besichtigen konnten.“ Olivia hatte sich ein wenig gefasst und nahm sich ein Fläschchen Wasser von dem Sideboard. „Martin, Du glaubst gar nicht, wie vorsichtig die Kinder waren. Keiner von ihnen ist jemals geflogen. Allein durch die Sicherheitsschleuse war schon ein Erlebnis. Einer vom Zoll hat uns begleitet. Paaaah ist der groß; haben sie gesagt als wir vor dem Flieger standen. Dann über die Gangway hoch in das Flugzeug. Vor allem die vier Älteren haben große Augen gemacht.“
Martin stellte sich seine Olivia vor, wie sie inmitten der Kindertraube Erklärungen abgab. „Weißt Du,“ fing Liv wieder zu erzählen an,“ die Clara mit ihrem kleinen Bruder an der Hand ist gar nicht mehr von meiner Seite gewichen. Die Frau Müller hat das natürlich auch gesehen und gemeint, dass die beiden mich mögen.“
„Wir wollten doch nach der Hochzeit sowieso über Kinder reden…!“ Olivia war ganz leise geworden. „Wenn Du willst…wir könnten die Beiden morgen besuchen!“
„Du denkst über Adoption nach?“ Martin war sofort klar, als Liv von dem Mädchen und ihrem Bruder erzählte und sie sich verliebt hätte, dass sie bald eine richtige Familie mit Kindern sein könnten. Er selbst hatte ja eine Adoption damals vorgeschlagen. Warum auch nicht?
„Ja, die Zwei musst Du einfach liebhaben!“ Martin sah natürlich, dass das Schicksal der Kinder seiner Frau sehr naheging.
„Die Frau Müller, die würde uns auch unterstützen…!“
Martin versuchte Olivias Euphorie ein wenig zu bremsen. „Unsere Wohnung ist für zwei Kinder zu klein. Und unser Leben würde sich grundlegend verändern.“
Olivia schossen erneut Tränen in die Augen. „Aber…Du hast sie nicht auf dem Arm gehabt.“


*****


Frau Müller empfing unser junges Ehepaar mit den Worten: „Clara hat schon sehnsüchtig auf Sie gewartet!“ Olivia war total gerührt und als Clara dann mit ihrem kleinen Bruder an der Hand ins Zimmer kam, hätte sie beinahe losgeheult. Nur beinahe denn Clara fragte gleich: „Ist das dein Mann?“
Frau Müller beobachtete die vier ein paar Minuten bevor sie meinte: „Ich kann Sie mir als Familie gut vorstellen.“ Sie hatte sogar eine Mappe zusammengestellt, mit Infos über die Voraussetzungen einer Adoption und auch gleich mit den Anträgen. Sie prognostizierte jedoch, dass Martins relativ hohes Alter von fast neunundvierzig Jahren durchaus zum Problem werden könnte. „Eine Adoptionspflegezeit,“ da war sich Frau Müller sicher, sollte schnell durchzusetzen sein, da Sie ja bereits ein eigenes Kind hatten.
Der Tag verflog. Auch Martin hatte seinen Spaß daran, mit dem Geschwisterpaar herumzutollen und später mit den Beiden zu malen.
„Musst Du wirklich schon gehen?“ Clara hing an Olivia nachdem sie Stunden miteinander verbracht hatten. Liv versprach, wiederzukommen. „Du weißt doch, ich bin Pilotin. Ich fliege morgen ganz weit weg und bin erst übermorgen wieder zurück. Und dann komme ich gleich zu Dir! Versprochen!
„Und zu Leon?“, hinterfragte Clara.
„Ja, natürlich zu euch beiden!“ Olivia wollte sich gar nicht trennen.
„Keine Angehörigen;“ betonte Frau Müller. „Die Beiden sind erst seit ein paar Wochen hier. Vater gab es nie und die Mutter ist vor Wochen verstorben. Die Adoption wäre ein absoluter Glücksfall für die Kinder!“
Martin sah eher die Probleme. Olivia mit den Langstreckenflügen oft zwei und drei Tage nicht zu Hause. Er selbst könnte sicher sein Engagement in der Firma ein wenig zurückschrauben. Aber aufgeben würde er seinen Betrieb nicht. Daniela, ja die würde sich bestimmt außerordentlich freuen. Und als gelernte Erzieherin sicher so oft es geht zur Verfügung stehen…
Auf dem Heimweg, Martin saß am Steuer, drängte Olivia: „Können wir nicht ein Haus kaufen?“


*****


„Spielen wir doch das Szenario einmal konkret durch!“ Unser Ehepaar saß nach dem Essen, welches sie kurzerhand beim Griechen geholt hatten, auf der gemütlichen Sitzecke draußen auf der Dachterrasse. Martin in kurzer Hose und T-Shirt und Liv nur in dem blauen Hänger, welcher ursprünglich wohl als sehr luftiges und halblanges Nachthemd hergestellt wurde. Martin überlegte: „An Tagen, an denen Du Dienst hast, würde ich also erst die Beiden (er sprach von Clara und Leon) auf den Weg bringen und dann zur Firma fahren. Sonst wäre das deine Aufgabe, ja?“
Olivia stimmte ihrem Mann zu. „Und nach der Kita beziehungsweise der Schule?“
„Wenn ich zu Hause bin,“ überlegte Liv, „dann betreue ich die Kinder! Und an den Tagen, wenn ich fliege, da brauchen wir jemand.“ Olivia war durchaus bewusst, dass es nicht einfach werden würde.
„Und Daniela hilft sicher gerne auch mal aus!“
„Aber eines sollten wir nicht vergessen…!“ Martins Hand schob sich am Schenkel der blonden Schönheit, natürlich unter dem Hemdchen an der Außenseite nach oben. Dazu legte er seinen Kopf in ihren Schoß. Olivia gefiel die Hand ihres Mannes an ihrer Hüfte. Subtil berührte sie mit ihren Fingern sein Gesicht
„Meine Frau trägt nicht einmal ein Höschen…“ brabbelte Martin vor sich her und kam dann auf seinen ursprünglichen Gedanken zurück: „Wir dürfen uns dabei nicht vergessen!“
„Nein, auf keinen Fall!“ Olivia träumte davon, wie es sein könnte: Martin, sie und die zwei Kinder.
„Ich könnte ja auch das Fliegen aufgeben…?!“ Olivia gefiel der Gedanke zwar nicht, aber in Anbetracht des Wohles der Kinder war sie an dem Punkt, wo ihre junge Familie, koste es was es wolle, Vorrang vor allem anderen haben würde.
Nach Minuten des Träumens schwenkte Olivia um. „Wollen wir nicht versuchen, ein Haus zu kaufen oder vielleicht sogar selbst eines bauen?“
„Das werden wir tun müssen!“ Martin war Realist und dachte an das fehlende zweite Kinderzimmer. Ihre Wohnung ist zwar supertoll! Und mit der Dachterrasse…
„Können wir uns das hier im Münchener Raum überhaupt leisten? Olivia hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht.
„Wir verkaufen das hier und dann wird das schon reichen…!“ Martin war zuversichtlich.
Olivia hielt dagegen: „Die Wohnung gegen ein ganzes Haus? Du träumst!“
„Wir müssten natürlich mit Ela und ihrem Mann reden;“ überlegte Martin laut.
„Was sollten die dagegen haben, wenn wir die Wohnung hier verkaufen?“ Olivia sah das sehr gelassen. „Aber es wird nicht reichen…“
Martin schmunzelte. „Wir würden ja auch das ganze Haus verkaufen!“ Er hatte Olivia immer in dem Glauben gelassen, dass nur diese exklusive Wohnung ihnen gehören würde. Selbst als Martin seiner damals noch Verlobten Firmenanteile überschrieben hatte, war das nicht zur Sprache gekommen.
„Wie? Dir gehört der ganze Komplex?“ Olivia blieb der Mund offenstehen.
„Uns, meine Liebe, uns! Sieben Wohnungen inklusive dieser hier.“ Martin blieb ganz cool.
„Wie viele Immobilien hast Du sonst noch?“ Olivia war schon etwas derangiert darüber, dass Martin ihr das nie erzählt hatte.
„Außer unserem Firmenimperium;“ Martin lachte, „keine.“
„Ela hat mal fallenlassen, dass die Miete ausgesprochen human sei.“, überlegte Olivia laut.
„Man könnte durchweg bei allen mehr an Miete verlangen…“ Martin schien das Thema nicht weiter vertiefen zu wollen. Aber es hat ihn doch sehr gefreut, seine Liv mal wieder so richtig überraschen zu können.
Martin lenkte ihr Gespräch auf eine andere Schiene: „Wie würden denn deine Eltern auf Leon und Clara reagieren?“
„Die würden sich ungemein freuen!“ Doch noch Enkelkinder! Und gleich zwei! Olivia hörte ihre Mutter schon vor Freude ausflippen! Und ihr Papa erst…
„Meinst Du, sie würden hierher umziehen?“
Mit dieser Frage überforderte Martin seine Frau. „Ich weiß nicht! Vielleicht!?“
Die Hand, die während der letzten Minuten Haut an Haut an Olivias Hüfte lag und diese streichelte, war plötzlich weg. Gleichzeitig erhob sich Olivias Mann und ehe sie sich versah, nahm Martin seine Frau hoch und trug sie von der Terrasse in die Wohnung hinein.
„Was wird das?“ fragte Olivia lächelnd.
„Ich hab jetzt Lust auf meine sexy Frau!“ Martin achtete sorgfältig darauf, dass Olivia beim getragen werden nirgends anstieß. „Und damit keiner die Polizei ruft, solltest Du auf die Idee kommen zu schreien, bringe ich Dich hinein und ins Bett.“
Schreien. Ja schreien würde sie vielleicht schon; überlegte Olivia. Aber wenn, dann nur vor lauter Lust!


*****


Um möglichst keinen Fehler in Sachen Adoption zu begehen, hatten die Anderssons einen Anwalt für Familienrecht konsultiert. Dieser stellte durchaus in Aussicht, gewisse Procederes verkürzen zu können, da Martin bereits ein eigenes Kind hatte. Auch stand fest, dass ausschließlich die Kinder Clara und Leon für die Adoption in Frage kämen.
Der Papierkram war schon enorm. „Sie wollen von mir ein Gesundheitszeugnis?“, empörte sich Olivia. „Glauben die echt, dass ich ein Passagierflugzeug führen darf, wenn ich nicht fit bin?“ Ganz schwierig zu erstellen war auch das Bewerbungsschreiben, in welchem die Adoptionseltern begründen, warum sie ein Kind adoptieren wollen. Der Anwalt war dabei eine große Hilfe.
Es zog sich halt.
Dazu das Eignungsprüfungsverfahren. Im Eignungsprüfungsverfahren werden die Eltern, wie es der Name verrät, in Gesprächen mit dem Jugendamt auf ihre Eignung als Adoptiveltern geprüft. Es finden Einzel- und Paargespräche mit einem Sozialarbeiter statt, in denen Fragen zur eigenen Kindheit gestellt werden, zur Beziehung zueinander, zum Kinderwunsch und zu den Zukunftsvorstellungen.
Wichtig ist es, die persönlichen Grenzen der potentiellen Adoptiveltern herauszufinden, denn ein nicht leibliches Kind, dass unter Umständen einen schwierigen Start ins Leben hatte und möglicherweise ganz anders als die Adoptiveltern ist, kann zu Ablehnung führen. Es ist wichtig herauszufinden, was Eltern wichtig ist und vor allem, was ihnen zuzumuten ist.
Tatsächlich dauert das Eignungsprüfungsverfahren zwischen vier und neun Monate. Wurde die Eignung des Paares festgestellt, dann besteht diese für 2 Jahre.
Olivia brach es jedes Mal beinahe das Herz, wenn sie Clara und Leon wieder im Heim abliefern musste. Aber, und das machte sie sehr geschickt, die Kinder fassten mehr und mehr Vertrauen zu Liv. Ja, Clara erzählte sogar von ihrer Mama und zeigte ihr Fotos und Briefe, die sie in einer Schachtel aufbewahrte.


*****


„Vom Jugendamt wurden uns die Kinder bereits überstellt, als ihre Mutter ins Krankenhaus kam.“, erzählte Frau Müller auf Olivias Nachfrage. „Frau Riedl, die Mutter von Clara und Leon, hat mir persönlich glaubhaft versichert, dass der Vater ihrer Tochter ein One-Night-Stand war und sie nicht einmal seinen ganzen Namen kannte. Und den Erzeuger von Leon, Frau Riedls eigene Worte, hat sie bis zu ihrem Tod verschwiegen. „Dass der ein Kind hat, braucht er nicht zu wissen“ meinte sie verbittert.“
„Hier: Martina Riedl“. Selbst der Name stand noch an der Türglocke. Nachdem es keine weiteren Angehörigen gab, hat man dem Vermieter den gesamten Hausstand vermacht. Und dieser hatte sich bis heute nicht um die Räumung der Wohnung bemüht. Glück für die Anderssons. Martin bekam, nach einem gewissen „Handgeld“, den Schlüssel ausgehändigt und betrat nun mit Olivia zusammen die Wohnung am Hasenbergl.
„Ob es klug ist, die Kinder einmal herzubringen, bevor das Ganze aufgelöst wird?“ Auf diese Frage fanden weder Martin noch Olivia eine Antwort.

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