Wir tanzen. Es ist schwarz hier, dunkel, im Raum.
Ich sehe nichts.
Wir sind blind. Die Augen geschlossen. Wir öffnen sie nicht. Oder sie sind verbunden, fest, mit einem Tuch.
Ich taste mich vor, in das Dunkel. Meine Hände nach vorne gestreckt, spürend, in das Schwarz.
Ich begegne einem Körper. Ich ahnte ihn schon, bevor er da war. Was ist das, das einen Körper spürend macht?
Flüchtige Schatten im Raum, meine Haut sieht sie.
Ich taste den Körper ab. Unter meinen Händen spüre ich ihn. Spüre Füße, Beine, Bauch, Hände. Zart umgreife ich den Kopf, streiche über die Haare, massiere die Kopfhaut. Ich spüre, die Berührungen werden gebraucht, werden hungrig verschluckt von dem nach Berührungen sehnenden Körper, der sich im Tanz unter meinen fühlenden, sehenden Händen bewegt.
Wir tanzen.
Ich fühle die Bewegungen des Körpers unter mir und bewege mich im Tanz, im Tanz, der aus der Improvisation entsteht, mit ihm. Lege mich auf seinen Rücken, wenn er sich biegt, drücke mich unter seinen Bauch, um meinen Rücken in die geborgene Höhlung zu schmiegen, verschlinge mich mit dem tanzenden Körper, und dann trennen wir uns.
Hände greifen nach mir, suchen meine Füße, meinen Rücken, meinen Kopf, Finger, die mich betasten, die mich im Spiel betasten, suchend, erforschend, Augensinn ersetzend, Augensinn überbietend. Körper, die mit mir tanzen, ich komme in ein Geknäul aus Menschen, suchend ergreife ich Füße, Hände, Köpfe und weiß nicht, zu wem was gehört.
Wir sehen uns nicht.
Sechzig nicht sehende Menschen in einem Raum, die sich nicht treten, auch wenn viele am Boden liegen, am Boden tanzen, am Boden wühlen, der Körper wird sensibel, wir spüren die Nähe des anderen, noch mehr, wenn wir nicht sehen.
Uns sehen ist Kontrolle. Die Kontrolle fällt durch die Blindheit, ich fühle mich sicher in meiner Unsichtbarkeit. Wenn Kontrolle fällt, ist Leichtigkeit da und Schranken fallen, die das Sichtbare verhindert.
Weißt Du noch, wie wir als Kinder gespielt haben?
Wir haben fremde Stimmen angenommen, die waren hoch oder tief, wir haben unsere Stimmen verstellt und aus den Fingern wurden Figuren. Wir haben mit Zeigefinger und Mittelfinger die Beine gespielt und die Hand war der Körper. Dann sind wir mit den Figuren über die Bettdecke gelaufen, oder über den Tisch, und haben eine andere Hand getroffen, und wir haben mit ihr gespielt.
Blind dürfen wir wieder Kinder sein.
Wir haben das Kindsein nie verloren.
Ich höre die spielenden Stimmen aus der Mitte des Raumes. Da will ich ihn. Die Stimmen sprechen keine bestimmte Sprache, sie murmeln in Silben. Hier im Raum, wir sind aus vielen Ländern, aus Japan kommen wir, aus Finnland, aus Deutschland und aus Griechenland, aber in der Kindersprache das sprechen wir alle Esperanto.
Weißt Du, wie die Kinder sind, die sich anfreunden, auch wenn sie nicht die gleiche Sprache sprechen?
Ich finde die Gruppe, ich spüre viele Menschen um mich herum, ich weiß nicht, wie viele es sind, ich weiß nicht wer da ist, ob ich welche kenne darunter, aber ich fühle mich geborgen in dieser dunklen Menschenwärme der spielenden Stimmen.
Meine Hand wird zur Figur, und Zeige – und Mittelfinger laufen über einen Rücken und treffen eine andere wandernde Hand.
Wir spielen. Wir lachen. Wir albern. Wir sind befreit.
Ich kann das Spiel anleiten. Ich spüre einen Mann. Ich taste seinen Körper ab. Er ist schlank und muskulös.
Schön, so ein Mann. Wunderschön. Ach, wie ich das liebe, einen männlichen Körper zu spüren. So fest, so sicher.
Ich ertaste mit den Händen seinen Kopf. Ich finde dichte Locken, ich finde volle Lippen, ich finde eine Einkerbung im Kinn. Ich habe viel Zeit ihn zu begreifen. Ich lege den Kopf des Mannes in meinem Schoss und brabbel in meiner Kinderstimme und er antwortet mit einer tiefen Kinderstimme und wir lachen und spielen.
Plötzlich werde ich ruhig. Und lerne die Macht des Einzelnen kennen.
Sechzig Menschen im Raum, die sich nicht sehen.
Ich singe einen Ton.
Mein Ton beginnt leise, er wird lauter, er kommt ungehindert und frei aus meinem Körper und dehnt sich in das weite Dunkel.
Ich singe einen weiteren Ton. Ich schiebe ihn laut hinaus, in das sanfte Schwarz. Ich fühle mich frei, einfach meinen Ton in die Welt zu schicken.
Weitere Stimmen aus dem Dunkel stimmen mit ein, sie haben auf einen Impuls gewartet, glücklich, mit einzustimmend, aus der Einsamkeit heraus durch den Ton sich zu vereinen. Jede Stimme findet ihren eigenen Ton, jeder Körper bildet seinen eigenen Ton, und die Töne der sechzig Menschen bilden eine Kathedrale.
Das ist das Heiligste, was ich in meinem Leben erlebt habe.
Ich sitze im Dunkel und mein Körper bildet Laute, die er nach außen trägt, und vermischt sich mit den Mantren der unsichtbaren und doch so präsenten Menschen, und die Klänge erfüllen den Raum, und die Klänge sind nicht mehr in einem Raum, wir sind alle nur noch in Weite und Unendlichkeit. Durch unsere Stimmen werden wir eins mit uns und Raum.
Das ist Kontakt.
Jeder hört für sich auf zu bestehen, wir sind nur noch Teil des Ganzen und doch prägt jeder Einzelne das Ganze. Eine Stimme beeinflusst die andere und so ist der Gesamtton wie ein Ozean, der sich bewegt und senkt.
Dann verebbt der Ton, eine Stimme nach der anderen entzieht sich dem Gesamtton und verstimmt, bis auch der Gesamtton verebbt wie eine Welle und dann ist es ganz still.
Die Locken unter meiner Hand.
Ich lege den schweren Kopf des Mannes in die Schale meiner rechten Hand, ich gebe ihm Geborgenheit, ich halte ihn sicher darin, meine Hand umschliesst ihn fest, und mit der Linken massiere ich seinen Nacken, streiche fest über den Hals von den Schultern zum Kopf, nach oben und übergebe den leichten Kopf an die linke Hand, nein, nicht einen Moment darf der Kopf ohne die Geborgenheit meiner Hand sein, ich halte ihn fest. Wenn der Kopf gehalten wird, sicher gehalten wird, dann entspannt der Nacken und Gefühle werden frei.
Ich gebe meine ganze Liebe an diesen Kopf der unter meinen Händen zur Feder wird.
Ich streiche sanft über das Gesicht, die Brust, den Bauch des Mannes, ich gebe ihm Glück, ich gebe ihm meine ganze Liebe in diesem Moment der Dunkelheit, ich spüre, ich habe den Körper gefunden, der hungrig danach ist, und zwischendrin lachen wir wieder wie Kinder und lockern des Spiel auf.
Es gibt keine Regeln in diesem Raum.
Warum ergibt sich das dann wie von selbst, durch die Dunkelheit, dass wir nicht nur nicht sehen, sondern auch nicht so sprechen, so dass wir uns verstehen?
Wir spüren nur, wir tasten nur, und sprechen keine lebende Sprache.
Wir sprechen nicht mit unseren Worten, weil wir nur noch sind.
Wir sprechen nur in der Kindersprache.
Weißt Du, wie die Kinder Freunde werden, auch wenn sie nicht die gleiche Sprache sprechen?
Wenn wir nicht mehr auf den Inhalt unserer Worte achten, dann wird die Stimme allein zum Gefühl, das Gefühl strömt direkt aus unserem Innern, ohne die wachende Instanz der Gedanken, durch den Mund, und dann sind wir verbunden mit dem Anderen, dessen bloße Stimme auch Gefühl ist. Und dann müssen wir nicht mehr achtsam auf die Worte sein, deren Inhalt uns vom Gefühl ablenkt, und wir spüren durch die bedeutungslosen Worte die Seele des anderen direkt.
Das passiert, wenn wir wieder Kinder sind.
Das ist Kontakt.
Der Mann in meinen Armen.
Ich finde es spannend, ihn zu ertasten und nicht zu wissen, welche Sprache er spricht.
Ich habe Angst vor dem Moment, wenn das Blindsein aufhört und mein Augensinn mir einen Schreck einjagen könnte, weil ich vielleicht die ganze Zeit einem Menschen nahe war, der durch das Sehen meiner Augen mir niemals interessant gewesen wäre, der durch das Sprechen niemals mir hätte nah sein können.
Und ich denke, wir schwer wir es uns machen, durch das Sehen, und durch das Sprechen, und dass das Tasten uns glücklicher macht, weil es keine Anforderungen an uns und den anderen stellt, außer dem Glück der Berührungen.
Jetzt gibt es keine anderen Menschen mehr, sondern nur noch mich und diesen Mann. Ich lege meinen Kopf in die Kuhle seines Armes, wie schön ist die Geborgenheit, die ich mir so sicher nehmen kann, und er streichelt mich.
Ist es sinnlich?
Es ist sinnlich.
Ich rieche seine Haut, ich spüre seine Haut, die dunkle, die fühlende, die Hände, die sich sehen, die Hände und die Haut, das sind unsere Organe, der Intellekt setzt aus und wir sind nur noch im Jetzt.
Irgendwann wird der Raum leerer.
Ich will keine Nähe mehr, ich will gehen, denn ich habe Angst vor dem Moment, wo das Licht angeht und ich meinen dunklen Partner sehe, und ich möchte das nicht, ich möchte nicht gesehen werden und ich rolle über den Boden von meinen Partner fort und suche den Ausgang.
Er muss mich gesehen haben. Er hat die Augen kurz geöffnet, einen Spalt, um mich am Fortgehen zu hindern. Denn er findet mich wieder. Er ist Mann, er nimmt mich und bringt mich zurück in die Umarmung und ich bleibe passiv seitlich angeschmiegt an seinen Körper liegen.
Ich will Ruhe.
Neben uns wälzt sich ein Paar. Sie rollen über den Boden, eng ineinander verschlungen wälzen sie sich über den Boden, ich höre das laute Atmen der beiden und dann schlage ich die Augen auf, ich kann meine Neugier nicht mehr bremsen und sehe einen Schein Licht, der in den Raum drängt.
Und ich sehe die Konturen des Knäuls, es ist ein Mann und eine Frau, er hat den Kopf sehnend in die Kuhle ihres Halses gelegt und rollt mit ihr über den Boden. Dann sitzen sie eng umschlungen, sie breitbeinig auf seinen Schenkeln, in tiefer Umarmung und bewegen sich im Takt. Ich liege neben meinem Mann und beobachte das Paar, das sich gegen den leichten Lichtschein im Dunkeln liebkost, und es ist wunderschön.
Dann rollen sie wieder über den Boden, verknäult in einer leidenschaftlichen Umarmung und ich denke, was ein leidenschaftlicher Mann, und es macht mich an und ich umarme mich mit meinem Mann in einer leidenschaftliche Umarmung und rolle mit ihm wild über den Boden.
Ich breite meine Beine breit aus und er legt sich auf mich, drückt sich zwischen mich und drückt seinen Unterleib fest gegen mich.
Ich spüre Liebe.
Er sieht mich nicht, ich sehe ihn nicht, nein, ich mache die Augen nicht auf, um ihn zu sehen. Ich drücke mich fest an ihn, hebe und senke mein Becken und ich komme, ich kann es nicht glauben, ich habe immer solche Probleme mit dem Kommen, aber jetzt ist es ganz leicht, ganz sanft, geht die Welle durch meinen Unterleib und ich stoße ein lautes Stöhnen aus und ich merke, das Paar neben uns bekommt das mit.
Dann liege ich neben meinem Mann, mit dem ich im Dunkeln einen Orgasmus hatte und schlafe auf dem Boden ein.
Ich spüre Liebe.
Ich schließe die Augen.
Als ich sie aufschlage, sehe ich wieder das Paar. Sie liegt auf dem Bauch und er auf ihrem Rücken. Er drückt seinen Oberkörper mit den Armen nach oben und bewegt seine Hüften, mimt den Akt nach, indem er seinen Unterleib an ihr Gesäß drückt und stößt. Die Bewegungen des Mannes sind weich und männlich zugleich.
Ich bewundere die Schönheit der dunklen Schatten, der sanften und doch fordernden Männlichkeit, begehrend, fordernd, stark.
Langsam geht das Licht an und ich erkenne den Mann, den ich gerade bewundert habe.
Es ist der Mann, mit dem ich kürzlich selbst eine Nacht verbracht hatte. Ich spüre keine Eifersucht, nur Wunder über die Schönheit seiner Bewegungen.
Und ich frage mich, was gewesen wäre, wenn ich ihm in Dunkeln begegnet wäre und ihn nicht erkannt hätte.
Ich sehe noch heute die sehnenden Bewegungen seiner Hüften gegen ihr Gesäß vor mir.
Schön.
Contact Tanzen im Dunkeln
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