Cosi fan tutte?

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Cosi fan tutte?

Cosi fan tutte?

Niclas van Schuir

Der Geschichte, die ich mich hier anschicke zu erzählen, muss vorsichtshalber jener Vorspann voran gesetzt werden, mit dem so mancher Film beginnt, der aus dem wahren Leben erzählt, nämlich: Die Geschichte ist frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufälliger Natur und keineswegs beabsichtigt. Demjenigen Leser, der sich also bei der Lektüre etwas denkt, hinterfragt oder gar hinein interpretiert, sei mit aller Deutlichkeit gesagt: "Honi soit qui mal y pense!" Ein schönes Sprichwort, das zu jeder unpassenden Gelegenheit passt! Was ich jedoch mit dem Verfassen dieser Geschichte wirklich beabsichtige, steht auf einem völlig anderen Blatt.
Vorab muss ich als Erzähler dieser Geschichte konzedieren, dass ich mich hierbei auf ein Terrain wage, bei dem ich mir nicht unbedingt eine uneingeschränkte Kompetenz zugestehen kann. Als männliches Geschöpf, das selbst nach einem bereits länger gelebten Leben die Psyche und Wesenart des anderen Geschlechtes - weder wissenschaftlich noch mental - immer noch nicht begriffen hat, sollte ich gerade über diese für mich unergründlichen Wesen besser nicht schreiben. Doch manchmal juckt es halt ein wenig in den Tasten. Ich versuche es also, selbst auf die Gefahr hin, von Reich-Radnicki einmal wieder in der Luft zerrissen zu werden, und zudem noch völlig. Daher verfasse ich diese Geschichte als einen Bericht und enthalte mich jeden weiteren Kommentars.
Wir befinden uns in einem Badezimmer eines Reihenhauses in einer Großstadt. Anna, meine Hauptdarstellerin, eine Mittvierzigerin, der jeder objektive Zeitgenosse gerne zugesteht, sich gut erhalten zu haben und durchaus begehrenswerte Attraktivität auszustrahlen, entsteigt ihrer Wanne, wo sie in einem aromatischen Kräuterbad eine Weile relaxt hatte. Sie ist dabei, sich auf einen abendlichen Opernbesuch vorzubereiten. Nachdem sie sich schnell ein wenig abgerubbelt hatte, um nicht zu viel Feuchtigkeit im Raum zu vernebeln, setzt sie sich auf den Hocker vor dem Spiegel und betrachtet sich zweifelnd und argwöhnisch, jedes Detail in ihrem Gesicht, an ihrem Hals, ihrer Schulter, ihren Brüsten sorgfältig in Augenschein nehmend. Hatte ihr Leben schon so viele Spuren hinterlassen, dass ihr Mann Grund hatte, jegliches Interesse an ihr verloren zu haben? Diese Frage stellte sie sich stets, nachdem einmal wieder eine ihrer sexuellen Pflichtübungen stattgefunden hatte. Diese Ereignisse gestalteten sich von Mal zu Mal übler und entwickelten nichts als Frust in ihr. Offensichtlich brachte er keine rechte Begierde nach ihr mehr auf, sondern suchte eher nach einer schnellen Befriedigung, die er sich ebenso durch Handanlegen auch selbst verschaffen könnte. Und sie verspürte Lust schon lange nicht mehr. Nichts funkte mehr zwischen ihnen hin und her. An Zärtlichkeit mangelte es vollends, zumal ihm - dem Paragrafenreiter, der er als Jurist von Berufs wegen war - jegliche Fantasie bei dem Akt der Liebe abging. Annas Erziehung schränkte ebenfalls die Erweiterung des Repertoires ein, und da eine offene Kommunikation über das heikle Thema zwischen ihnen nicht stattfand, fand eben nichts statt. Nichts, außer Langeweile oder geduldigem Sich-nicht-Verweigern, folglich in Frust endend.
"Scheißkerl", dachte sie und verspürte erneut den Widerwillen, der sie am Abend zuvor erfasst hatte. Zum wiederholten Male hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er mit ihr keine Lust mehr verspürte, dass ihre Passivität ihn anöde und er vom Leben anderes erwarte, bei sexuellen Aktivitäten insbesondere. Dabei brachte er selbst überhaupt nichts ein, was er als Betroffener jedoch nicht objektiv beurteilen konnte. Der Jurist in ihm beschäftigte sich schon längere Zeit mit dem Gedanken, ein Sexgesetzbuch zu schaffen, in dem die Regeln des Zusammenlebens, unter anderem die des Beischlafes, festgelegt werden könnten. So zum Beispiel, wie oft, wo, auf welche Weise und welcherlei Strafen beantragt werden können, wenn die Spielregeln nicht eingehalten werden. Die Aufstellung solcher Festlegungen faszinierten ihn inzwischen dermaßen, dass er beim Geschlechtsverkehr oder gar beim Orgasmus - falls ihm überhaupt gelang, annähernd in diesen Bereich vorzustoßen, was ausnahmsweise in diesem Zusammenhang wörtlich genommen werden darf - keine Sterne sah sondern nur noch viele kleine Paragrafenzeichen.
"Ich will nicht mehr", sagte sich Anna, "Leben stelle ich mir anders vor." Aber da waren viele Jahre gemeinsamen Erlebens, da war der gemeinsame Sohn, Freunde und Bekannte und all jene Kriterien, die es jedem Menschen in einer derartigen Situation so schwer machen, eine einschneidende Entscheidung zu treffen, die das Leben letztendlich grundlegend ändert. Während sie sich mit Sorgfalt und noch mehr Gefühl eincremte - sie genoss stets das Berühren ihrer eigenen Haut - gingen ihr tausend Gedanken durch den Kopf. Ein Beobachter dieser Szene - allerdings hatte niemand etwas in ihrem Bad zu suchen, wenn sie sich landfein machte - hätte unschwer erkennen können, wie es in ihrem Kopf arbeitete, und ihre Augen blitzten verschmitzt in Erwartung dessen, was in ihrer Gedankenwelt gerade Gestalt annahm. "Ja, ich gebe ihm - gebe uns noch eine Chance. Ich werde über meinen Schatten springen und etwas ganz Verrücktes tun, einen letzten Versuch wagen. Ich werde voll und ganz für ihn bereit sein. Wenn aber auch das nicht hilft, kann ich unser Problem nicht lösen, dann sind Konsequenzen wohl unausweichlich", machte sie sich Mut, als sie ihren Plan zu Ende entworfen hatte.
Inzwischen hatte sie das Eincremen ihrer Haut beendet. Sie duftete gut, ein dezentes Parfüm half noch ein bisschen nach. Sie erhob sich, betrachtete sich im Spiegel von vorne, von der Seite, von hinten. Sie hatte noch ein wenig Zeit, die sie nutzte, noch ihre Achselhaare zu entfernen, "sieht besser aus, wenn ich das neue Theaterkleid anziehe", dachte sie sich. Und durch einen plötzlichen Gedankenblitz ließ sie sich sogar von einer ihr unbekannten Macht verführen, erstmals in ihrem Leben ihre Schamhaare zu stutzen und zu stylen, wie sie dies in einem erotischen Film neulich im Fernsehen beobachtet hatte. "Hm", zweifelte sie nach vollendetem Werk, "sieht - na ja - ungewöhnlich aus. Sie zog sich an, schwarzer Seiden-BH, knapp sitzender String, Strapsgürtel, Strümpfe, Abendkleid, jetzt noch die Haare gekämmt: sie konnte sich unters Volk wagen, sie konnte sich sehen lassen! Nicht nur subjektiv.
Schnell noch eine große Einkaufstüte von Karstadt gesucht, die später ihren Dienst zu verrichten hatte, ihren Pelz über die Schulter geworfen und schon war sie mit ihrem Stadtwagen unterwegs Richtung Opernhaus. Mozarts "Cosi fan tutte" stand auf dem Programm. Cosi fan tutte? "Machen es wirklich alle so?" fragte sie sich. "Warum muss ich nur immer alleine in die Oper fahren, warum geht Jan nie mit? Gibt es eigentlich wirklich nichts, was wir auch gemeinsam unternehmen können außer hin und wieder eine Runde Golf zu spielen?" Sie hatte sich ihr Leben mit ihm einmal völlig anders vorgestellt. Es war früher auch anders gewesen. Mehr und mehr hatte sich jedoch heraus kristallisiert, dass ein trockener Jurist, der auch nur in juristischen Dimensionen zu denken in der Lage war, nicht zu ihr passte. Zumal er sich als Egomane der schlimmsten Art entpuppte, er stellte sich in den Mittelpunkt der Welt und erwartete, dass alle Welt dies akzeptierte und ihm schon zu Lebenszeiten dort ein Denkmal setzte.
Die beiden Akte, einschließlich der Pause, gingen fast unbemerkt an ihr vorüber. Gut, sie kannte die Oper bereits, aber es war vielmehr ihr Plan, der sie vom Musikgenuss, vom Sich-fallen-lassen in die Musik ablenkte. Sie zweifelte noch ein wenig. Ihr Plan war zu außergewöhnlich, zumindest in ihren Augen. Cosi fan tutte? Machen es andere auch? Sie wusste es nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Diese Erfahrung musste sie selbst erleben, wenigstens ein einziges Mal. Ein Erlebnis, das sich als Rettungsanker herausstellen könnte, allerdings genau so gut im Sturm des Lebens einen Riss in den Segeln bewirken könnte.
Nach Beendigung der Vorstellung herrscht nur noch ein Gedanke in ihr: "Jetzt wird's vollendet!" Im Fluge wird ihr Mantel von der Garderobe und der Wagen aus dem Parkhaus geholt, die erste Ampel bei dunkelgelb überfahren und der schnellste Weg heimwärts eingeschlagen. "Aber wo kann ich..?" fragt sie sich auf der Suche nach einem Parkplatz, wo sie ungesehen… Denn das fehlte ihr gerade noch, dass sie dabei gespannt wurde. Dann fällt ihr aber ein Plätzchen ein, und sie lenkt ihr Auto dorthin. Angekommen vergewissert sie sich, dass niemand in der Nähe ist, kein Pärchen in einem anderen Fahrzeug herumknutscht, kein Hund gerade sein Geschäft zu verrichten hat. Noch ein Blick in den Spiegel: "Willst du wirklich?". "Ja, ich will!" Und schon entledigt sie sich ihres Kleides, - gar nicht so einfach in einem Mini, hatte sie doch diese Künste nicht in einem VW-Käfer gelernt, wie Generationen vor ihr - knöpft den BH auf, trennt sich von ihrem Slip. "Strümpfe, Gürtel auch, oder?" "Nein, die lass ich an, das sieht geil aus. Geil? Ein Wort, das sonst nie ihren Lippen entfuhr, gehörte nicht zu ihrem Sprachschatz. Aber nun fühlt sie sich dem horizontalen Gewerbe ziemlich so nah, dass sie das Wort als durchaus der Situation angemessen einstufte. Pelzmantel angezogen, Kleidung in die Einkaufstüte. "Auf ins Gefecht!" "Puh, erst noch eine Zigarette, ist schon ganz schön hart, was ich hier treibe!" Die Zigarette scheint kürzer zu sein als gewöhnlich. "Es nutzt nichts, jetzt muss ich dadurch."
Zuhause angekommen parkt sie den Wagen in der Einfahrt. Der oberste Knopf ihres Pelzmantels bleibt offen, so dass bei genauerem Hinsehen offensichtlich wird, dass sie nichts darunter trägt als nackte Haut, eine Kleidung, die durchaus ihren Gefallen findet. Schon steht sie an der Haustür und klingelt. Das Warten scheint unendlich zu dauern bis Jan endlich erscheint, Jan, der gewöhnlich allen Damen aus dem Mantel hilft, denn auch die meisten Juristen haben eine Art von Grunderziehung genossen. Er schaut sie verblüfft an. "Wieso klingelst du, hast du keinen Schlüssel?" fährt er sie an. Und schon eilt er zurück ins Haus, immer noch korrekt mit Krawatte bekleidet, lediglich sein Jackett hat er durch eine Strickjacke ersetzt. "Du weißt doch, dass heute Bayern spielt, und gerade gab's Elfmeter", rief er ihr noch zu, bevor er sich wieder dem Fernsehgerät, seinem Glas Rotwein und einer Tüte Erdnüsse widmet. Und noch ehe Anna sich versah, hatte er schon wieder in seinem Fernsehsessel Platz genommen, ohne sich den ersten Geboten seiner Grunderziehung erinnert zu haben.
Anna stand in der Diele, angewurzelt wie eine Jahrhunderte alte deutsche Eiche, konsterniert, sprachlos. Schamröte und Tränen bemächtigten sich ihres Gesichts. Eine ungeheure Wut brachte ihr Inneres zum Kochen. Sie fühlte sich elend wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte retten wollen durch einen neuen Impuls. Sie hatte hoch gespielt… und sie hatte verloren.
Das Schicksal hatte ihr einen deutlichen Wink gegeben, ein unausweichliches Schicksal forderte, seinen Lauf nehmen zu dürfen…

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