Der Alte hatte den Umschlag mit dem Geld der Fliehenden nachgeworfen, als letztes Zeichen seiner Wut und Verachtung. Der Fotograf hob ihn auf und wollte ihn zurückgeben, doch der Alte bedeutete ihm mit einer ärgerlichen, verächtlichen Handbewegung, er solle ihn behalten. Das tat er dann auch und nachdem er die letzten seiner aufregenden Bilder in das Internet geschickt hatte, wollte er auch gehen, aber die Ikebanafrau beschwor ihn unter Schluchzen zu bleiben. Sie habe Angst, wolle nicht allein hier sein und sie müsse ja noch aufräumen, doch sie wage nicht, ihre Gehilfinnen an diesen Ort des Grauens zu rufen. Der Alte, nun wieder sichtlich ruhiger, hörte, was sie sagte und rief, sie solle gehen, beide sollen gehen, er wolle allein sein und er werde am nächsten Tag schon für Ordnung sorgen. Dann gab er ihnen die Briefumschläge mit dem Honorar, auch dem Fotografen, obwohl der das Geld der Geisha schon an sich genommen hatte. Beide bedankten sich mit tiefen Verbeugungen, wie es sich gehörte, wie es die Etikette forderte und trotz allem, was vorgefallen war. Dann war der Alte allein, ein wenig verstört, ein wenig traurig, aber auch trotzig. Er wollte nicht begreifen, dass aus dieser lieblichen, kindlichen, raffinierten, herzlosen, unverschämten Maiko, wie er sie in Erinnerung hatte, eine solche alle Vettel und Spielverderberin geworden war.
Der Mann am Computer hatte andere Probleme. Die Datenmenge, die ihm der schrille Fotograf zugeschickt hatte, war wieder sehr groß. Hinzu kam, dass er mit den ersten Bildern wieder nur recht wenig anfangen konnte. Sie waren konventionell, nicht aufregend und schon gar nicht anregend. Was sollte er aus diesen Blümchenbildern machen? Wie diese hübsch arrangierten Blumenbestecke, die prächtige, großzügige Blumenlandschaft in der Traumwohnung in aussagestarke Bilder umsetzen? Er konnte sich für diesen neuen Auftrag erst erwärmen, als die Geisha in dem Blumenmeer auftauchte. Erst als die schlanke Gestalt in ihrem hellblauen Gewand durch die weiße Pracht wandelte, tänzelte, sich bog, den Körper verrenkte, die Arme hob und senkte, ab und zu mit ihrem Fächer fächelte und dabei immer dasselbe, starre, dick geschminkte Gesicht, mit dem rote Mündchen und den schwarzen Augen zeigte, ohne sichtbare Regungen und anscheinend auch ohne Gefühle, stieg sein Interesse. Das war ein gutes Motiv, das war es Wert, weiter bearbeitet zu werden. Er überlegte, wie er die Bewegung des Tanzes in ein statisches Bild umsetzen könnte, wie er die Geschmeidigkeit und die Eleganz der Frau zum Ausdruck bringen könnte. Doch dann kam die nächste Serie und die faszinierte ihn noch mehr, besonders das Bild der alten, nackten, faltigen, mageren Frau, die mit unendlich traurigem, verängstigtem Blick und mit ausgestreckten Armen wie eine Gekreuzigte dastand. Ihm fiel sofort die Assoziation zu einer mittelalterlichen Schmerzensmadonna ein, einer Maria inmitten einer weißen Blumenpracht und vor einem geheimnisvollen, dunklen, glitzernden Hintergrund. Er war erstaunt, wie Grund verschieden die beiden letzten Serien waren, wie völlig anders diese Geisha auf ihn wirkte. Trotz der deprimierenden Botschaft fand er Gefallen an diesem rührenden, zutiefst melancholischen Bild. Doch als dann die letzte Serie eintraf, war er perplex. Diese Bilder waren grandios. Er musste die Kunst des Fotografen neidlos anerkennen. Die Szenen, die auf seinem Monitor erschienen, waren fulminant und aufregend. Erschreckend und faszinierend. Allerdings war ihm nicht klar, ob sie echt oder gestellt waren. Rannte der Alte mit verzerrtem Gesicht, ein Schwert über dem Kopf schwingend, tatsächlich in böser Absicht hinter der Geisha her, die ihren Kimono hinter sich herzerrte? Wenn sie inszeniert waren, mussten beide großartige Schauspieler sein. Aber das konnte nicht sein, dazu war die Wut in den Augen des Jägers und die Angst in denen der Gejagten viel zu echt, ihre verzerrten Mienen, ihr Blicke, in denen Angst, Wut und Hass eine fatale Symbiose eingegangen waren. Der digital artist war fasziniert von der Intensität der Bilder, die teilweise verschwommen, selektiv unscharf, farblich verzerrt in ihrer Aussage aber höchst präzise und ausdrucksstark waren. Es war eine wilde, gnadenlose Verfolgungsjagd in einer irreal schönen, jungfräulich reinen Blumenwelt, einer Welt, die auf jedem weiteren Bild mehr und mehr zerstört wurde. Das Motiv, die Angst einflößende Verfolgung eines Menschen, verbunden mit einem Gemetzel an unschuldigen, jungfräulichen Blüten und das sinnlose Zerstückeln eines kostbaren Kimonos war in den Augen des digital artists große Kunst, ob die Verfolgung nun real oder inszeniert war. Manchmal tauchte in den Bildern auch noch eine entgeistert dreinblickende Frau auf, die das grausige Geschehen vom Rande aus verfolgte und deren Rolle ihm nicht ganz klar war, die aber in dem Kunstwerk eine wichtige Rolle spielte, eine Zeugin, die dem Geschehen noch mehr Realität verlieh. Er würde reichlich zu tun haben, ehe aus diesem Rohmaterial die Kunstwerke entstanden, die ihm vorschwebten: Bilder in Schwarz-Weiß, Bilder voller Dynamik, voller Emotionen, Darstellungen der Abgründe des Lebens, Ikonen des Grauens und der Angst umgeben von Schönheit. Er richtete sich halb auf, fasste wieder über sich, griff nach der schon halb leeren Flasche, nahm einen tiefen Zug Whisky und wartete, dass ihn der Alkohol zu neuen, kreativen Höchstleistungen führen würde.
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