Danching art

Lost in transformations - Teil 3

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Danching art

Danching art

Yupag Chinasky

Beim dritten Happening herrschte Weiß vor, die Farbe der Unschuld, der Hochzeit und, in diesem Teil der Welt, die der Trauer. Am Ende würde dann auch Trauer herrschen, denn diese Aktion sollte erneut in einem Ausbruch von Gewalt und Chaos enden. Doch das ahnten die Anwesenden nicht, die in der Wolkenwohnung versammelt waren. Es regnete und durch die großen Fenster sah man die glitzernden Farben eines Wasser-Lichter-Meeres. Zu den tausenden hellen Fenstern, die auf gelbe Punkte reduziert waren und zu den verwischten Straßenlampen, Autoscheinwerfern und Leuchtreklamen, gesellt sich diesmal das Funkeln unzähliger Tropfen auf den Fensterscheiben, in denen sich all die Lichter der nächtlichen Stadt brachen. Ein hellerer Streifen am Himmel zeigte, an welcher Stelle des Horizonts die Sonne versunken war, aber den Horizont selbst konnte man nicht erkenne, er ging unter in Nacht und Dunst und Regenschleiern und natürlich war auch kein weißer Kegel in der Ferne zu erkennen, ja nicht einmal zu erahnen. Die Blicke der Anwesenden schweiften ohnehin nicht in die Weite dieser unwirtlichen Nacht, sie blieben im Raum, sie wurden gefangen von einem alles beherrschenden Weiß, von einer sanften, das Auge schmeichelnden Ansammlung von Weißtönen vor dem Dunkel der glitzernden Fensterfronten. Die Wohnung hatte sich verändert, drastisch verändert. Sie hatte sich in ein grandioses Blütenmeer verwandelt, in einen Hochzeitstraum, in eine surreale Landschaft. Diese phantastische Gestaltung war das Werk einer älteren Dame, die, klein und korpulent, in einem schlichten, weißen Kimono, zufrieden lächelnd auf ihr Werk schaute. Die Meisterin des Ikebana hatte mit ihren Gehilfinnen einen Nachmittag lang an der ausufernden Komposition gearbeitet und nun war die Wohnung voller Blumen, einzelne Blüten in schlanken, kleinen Sträußen in bauchigen Vasen, solitäre, weißblühende Zweigen und ausgeklügelte Gestecke in unterschiedlichen Höhen und raffinierten Formen. Zwischen den Blumen waren Kerzen in kleinen Laternen platziert, die dem vorherrschenden Weiß eine warme, gelbe Nuance hinzufügten. Die Ikebanameisterin verwendete keine anderen Farben, nur diese Nichtfarbe. Weiß war für sie das Symbol der Reinheit und die angemessene Form, um Schönheit und Vergänglichkeit zum Ausdruck zu bringen. Dies war ihr auch an diesem Abend gelungen, die Wirkung dieser monochromen, lebenden Installation war überwältigend, die Ästhetik der Vielfalt in einer scheinbaren Gleichförmigkeit höchst beeindruckend.

Der Alte, wieder auf seinem Sofa sitzend und der schrille Fotograf, der erneut beauftragt worden war, das Happening abzulichten waren sehr angetan und lobten die Raumkunst einhellig. Auch die Ikebanameisterin war stolz, zeigte ihren Stolz aber nicht, denn Anerkennungen war sie gewohnt. Ungewohnt, auch für sie, waren allerdings die Dimensionen, in denen sie hier hatte schwelgen dürfen. Eine solche Fülle an floraler Kunst in einem Wohnraum hatte sie noch nie erschaffen. Sie war sehr zufrieden und verbeugte sich. Dann schickte sie ihre Helferinnen aus dem Raum, sie würden später wieder kommen, zum Abräumen und Abbauen und zum sorgsamen Abtransport all der kleinen Kunstwerke. Die Vorbereitungen waren getroffen, das Happening konnte beginnen. Die Ikebanafrau, auch für die Beschallung zuständig, schaltete die Musik ein.

Aus den in der Dekoration versteckten Lautsprechern erklang Debussys „Nachmittag eines Fauns“. Es war der Wunsch des Hausherrn gewesen, den Abend mit westlicher Musik zu beginnen, denn er demonstrierte gerne seine Weltläufigkeit mit Anleihen aus der westlichen Kultur. Die Auswahl hatte er, mangels konkreter Kenntnisse, jedoch der Blumenfrau überlassen. Diese wählte üblicherweise klassische fernöstliche Weisen als akustische Untermalung ihrer Arrangements und verstand auch nicht viel von diesen fremden Klängen. Rein zufällig hatte sie einmal eine CD mit Debussy bekommen und der musste den Abend retten. Dem Alten war es recht, ihm wäre alles recht gewesen, den von Musik verstand er nicht viel, aber Musik war an diesem Abend ein Teil der Performance und daher sehr wichtig. Nachdem die ersten Takte erklangen, trat die zweite Hauptperson in Erscheinung: eine Geisha, die sich bisher dezent im Hintergrund aufgehalten hatte. Diese Geisha wandelte nun langsam, mit den typischen kleinen Trippelschritten, die ihre Getas, die hölzernen Sandalen, zuließen, durch das Blumenmeer. Sie trippelte zu der Fensterfront, hin zu der großen, weißen Vase voller, wie könnte es anders sein, weißer Orchideen. Dort, wo etwas Platz für eine Tanzfläche gelassen worden war, blieb sie stehen und verbeugte sich vor dem Hausherrn. Die Geisha war klein und auf traditionelle Weise geschminkt und gekleidet. Ihr zartblauer Kimono mit eingewebten, hellen Kirschzweigen, zeigte ein dem Frühjahr angepasstes Muster. Der kunstvoll auf dem Rücken geknotete Gürtel, der Obi, war weiß und mit hellroten Ornamenten verziert. An den Füßen trug sie knappe, weiße Socken, die zuließen, dass bei jedem Schritt mit den Holzsandalen ein wenig Haut zu sehen war, für Kenner ein verstecktes erotisches Signal. Das Gesicht der Geisha war perfekt geschminkt, natürlich auch in Weiß, wie es sich gehörte, mit schwarzen Augenlidern und ausdrucksstarken Augenbrauen, die ins Rötliche tendierten und die, zusammen mit dem kirschroten, herzförmigen Mund das einzig Farbige in dem Gesicht darstellten. Die üppigen, pechschwarzen Haare waren kunstvoll aufgesteckt und wurden von einem großen, schillernden Kamm aus Perlmutt in Form gehalten. Im Nacken der Frau waren zwei helle Linien, die als stilisierte Schamlippen gedeutet werden.

Es war eine Geisha, wie aus dem Bilderbuch, die gleich nach der Begrüßung und nachdem sie ihre Sandalen abgelegt hatte, ihren Tanz begann. Zunächst wandelte sie noch einmal durch das Blumenmeer, doch dieses Mal mit eleganten, wiegenden Schritten und im Rhythmus der fremdländischen Musik. Sie setzte die Füße vorsichtig auf die freien Flächen zwischen den Blumen, den Gestecken und den Laternen, darauf bedacht, keines dieser Objekte zu berühren oder gar zu zerstören. Sie drehte sich langsam, wiegte ihren Oberkörper und von Zeit zu Zeit bewegte sie einen großen, roten Papierfächer, auf dem ein grüner Drache Feuer spie, ein Symbol, das Unglück verhindert und Angst verjagt. Dann, als sie den Raum umrundet hatte und wieder neben der Vase stand, legte sie den Fächer ab und nun setzten ihre Armen und Hände den Tanz fort, in dem sie komplizierte Bewegungen zu der traditionellen Musik durchführte, die den Debussy inzwischen abgelöst hatte, Geschichten, die von Kennern des klassischen Tanzes verstanden, wurde, doch der Alte war kein Kenner und sah nur mit mäßigem Interesse zu. Auch der schrille Fotograf war eher gelangweilt und eigentlich war es nur die Ikebanafrau, die die Kunst der Geisha zu würdigen wusste. Nachdem die Geisha eine ganze Weile ihre statische Kunst gezeigt hatte, setzte sie sich wieder in Bewegung und das Schreiten, mit dem sie begann, ging ganz allmählich, fast zögerlich, in Tanzen über. Sie tänzelte locker dahin, wie zur Entspannung, dann raffte sie ihren Kimono bis zu den Knien und erreichte so den Gipfel der klassischen Erotik. Schließlich wandelte sie wieder durch das Blumenmeer, ein paar gemessene Schritte in diese Richtung, ein paar eilige Schritte in jene. Sie schwebte elegant von Blume zu Blume, tanzte vor den Blumen, hinter den Blumen, zwischen den Blumen. Gehen, stehen, laufen, tanzen, Hände bewegen, manchmal den Fächer ergreifen, alles wechselte, nichts war beständig, aber mit jedem Schritt, mit jeder Geste, mit jeder Körperdrehung, mit jedem Fächerschlag vermittelte die Tänzerin den Eindruck von Harmonie und Wohlbefinden. Sie war in vollem Einklang mit sich, mit der Musik und der wunderbaren Dekoration.  
Dann endeten die klassischen Weisen, die Musik wechselte zu kitschigem Softpop, piepsende Frauen, röchelnde Männer, brummende Bässe, klirrende Gitarren, wimmernde Keybords, dröhnende Schlagzeuge.  Die intime Stimmung war dahin und der Zauber des klassischen Tanzes verflogen, denn die Geisha konnte mit dieser Popscheiße einfach nichts anfangen. Nach ein paar hilflosen, aber vergeblichen Versuchen, wieder Harmonie in ihre Bewegungen zu bringen, trippelte sie zu der weißen Vase und versuchte dort ein paar letzte Tanzschritte, ein paar mühsame Armbewegungen, versuchte sich diesem hektischen, tanzfeindlichen Rhythmus anzupassen, wollte wenigstens noch zu einem versöhnlichen Abschluss ihrer Darbietung kommen, doch was sie tat, erinnerte eher an Gymnastik oder Aerobic als an harmonische, verinnerlichte Tanzkunst. Schließlich sah sie ein, dass sie bei dieser Musik nichts mehr zustande brachte, blieb regungslos stehen und wartete, dass die Ohrenqual ein Ende haben möge.

Als sie eine Weile untätig dastand, merkte auch die Ikebanafrau, wie unpassend die Musik war und stellte sie ab. Die Geisha war erlöst und glaubte, dass nun auch ihr Auftritt beendet sei. Sie verbeugte sich vor dem Gastgeber, schlüpfte in ihre Sandalen, hob den Fächer auf und schickte sich an, den Platz vor der Fensterfront, zu verlassen. Aber das stieß bei dem Alten auf keine Gegenliebe. Erst winkte er ihr herrisch zu, weiterzumachen, dann unterstützte er seine Gesten mit ein paar heiseren, dahin gebellten Worten. Die Frau erschrak, verbeugte sich erneut und nickte ihm zu. In ihrem stark geschminkten Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen, weder Zustimmung noch Ablehnung, weder Freude noch Unwillen. Sie begann wieder zu tanzen, jedoch nur ganz kurz. Sie machte ein paar Schritte in eine, ein paar in eine andere Richtung, dabei hielt sie sich krampfhaft an dem großen Fächer fest und vollführte schließlich einige Drehungen. Mitten in einer Drehung blieb sie stehen, das Gesicht dem Fenster, den Rücken dem Alten zugewendet. Sie legte den Fächer auf den Boden und nestelte mit beiden Händen an ihrem komplizierten Gürtel, öffnete ihn und wickelte ihn sorgfältig ab, löst ihn von der Taille. Als sie fertig war, legte sie ihn sorgfältig neben den Fächer und dann, begann sie, für die Gaffer nur unzureichend einsehbar, ganz langsam den Kimono zu öffnen und streckte, statt ihn abzustreifen und ebenfalls auf den Boden zu legen, die Arme waagrecht zur Seite und zog so das schwere Gewandt in die Breite, bis der hellblaue Stoff mit den Kirschzweigen eine große Fläche bildete. Von der Geisha war hinter dieser Fläche nur wenig zu sehen. In der Mitte am unteren Rand schauten die Fersen in den knappen, weißen Söckchen, auf den hohen Holzsandalen hervor und in der Mitte des oberen Randes leuchtete der helle Nacken mit den stilisierten Schamlippen, darüber der Turm aus schwarzen Haaren mit dem schwach glänzenden Perlmuttkamm. In dieser Stellung blieb die Geisha einige Zeit regungslos stehen. In dem Raum war es still. Die Ikebanafrau hatte keine neue Musik aufgelegt, der schrille Fotograf hatte aufgehört, mit seiner Kamera zu klicken und der Alte auf dem Sofa starrte gebannt auf die hellblaue Fläche vor der Glitzerwelt und dem Regen verhangenen Himmel. Von dieser Fläche ging eine magische Wirkung aus. Die Betrachter ahnten, dass sich dahinter eine Veränderung verbarg, dass die Geisha ein Geheimnis enthüllen würde. Die Spannung stieg, als sie sich schließlich ganz langsam um die eigene Achse drehte, Grad für Grad, Zentimeter für Zentimeter. Die hellblaue Front mit den Kirschzweigen verschwand und stattdessen erschien eine tiefblaue Fläche ohne jegliches Muster. Die Farbe des Himmels wurde von der des Meeres ersetzt und in deren Mitte erschien nun, ebenfalls nach und nach, der kleine, helle, nackte Körper der Geisha. Als sie frontal vor dem Alten stand und ihn direkt, fixierte, hörte sie auf, sich weiter zu drehen und zeigte nun mehr als nur die Zehen in Socken und Sandalen, mehr als nur das weiße, reglose Gesicht einer Porzellanpuppe mit grellrotem Mund und schwarzen Augen. Sie präsentierte stumm und starr ihre bleiche, zarte Gestalt in voller Nacktheit, den schmalen Oberkörper, den kleinen Busen, die enge Taille, die nur wenig breiteren Hüften, die kurzen und dazu krummen Beine und natürlich die ausgestreckten Arme, die den Kimono, wie eine Gekreuzigte, ausgebreitet hinter ihrem Rücken hielten.  Hätte der Alte bei seinen Studien der westlichen Kunst sich mehr mit dem Mittelalter beschäftigt, wäre er zu dem Schluss gekommen, dass dort auf dem kleinen Berg Golgatha eine Symbiose aus Jesus und Maria stand. Obwohl es ihr inzwischen sichtlich schwerfiel, hielt die Frau den schweren Kimono weiterhin ausgebreitet hinter sich hoch, wie ein Schutzschild, das jedoch seine Aufgabe nur unzureichend erfüllte. Der Mantel schützte sie in keiner Weise vor den geilen Blicken des Alten, der ihre Nacktheit gierig und in allen Details abtastete und sie, als sie die Arme senken wollte, rüde anpfiff, dies nicht zu tun. Er schützte sie nicht vor dem schrillen Fotografen, der wieder mit seinem unaufhörlichen Klicken angefangen hatte und sie sensationslüstern durch den Sucher anstarrte und auch nicht vor der neugierigen Ikebanafrau, die sich die Hand vor den Mund hielt, um einen erstaunten Ausruf zu unterdrücken. Die Geisha zitterte, jedoch nicht nur wegen dieser unverhohlenen Blicke, nicht nur wegen der starren, ermüdenden Haltung, zu der sie der Alte zwang, nicht nur aus Angst, vor dessen herrischem, unduldsamem Gehabe, sondern auch vor Scham und Verlegenheit. Diese Geisha, die bisher ein Bild voller Ästhetik und voller Charme abgegeben hatte und die auch nun ihren Zauber hätte verbreiten können, eine helle, graziöse Silhouette, sanft angestrahlt von dem gelben Licht der Kerzen, malerisch drapiert vor der tiefblauen Fläche ihres Gewands, umgeben von zahlreichen, weißen Blüten und Lampions und den traumhaften Irrlichtern der Glitzerfenster im Hintergrund, diese Geisha bot solch ein verklärtes Bild keineswegs. Sie zitterte, weil sie wusste, dass ihr Anblick nicht angetan war, erotische Phantasien zu beflügeln, sexuelle Lüste zu steigern oder auch nur die Ästhetik eines wohlgeformten weiblichen Körpers zu bietet. Denn dastand, schüchtern, verlegen und ängstlich, eine Frau, die alles andere als jung und deren Körper weder schön noch wohlgefällig war. Eine Frau mit Falten auf dem mageren Leib, mit kleinen, schlaffen Hängebrüsten, mit hervortretenden Rippen, mit einem dicklichen Bauch und mit einem schwarz-grauen dünnen Geflecht darunter, das jegliche Lust abtötete und dazu noch diesen unsäglichen, kurzen O-Beinen. Die Schönheit einer elfenhaften Gestalt, die man, solange sie von dem edlen Kimono verhüllt war, durchaus hätte ahnen können und der Zauber eines Gesichts, das durch geschicktes Schminken und das warme Licht der Kerzen Jugend vortäuschte, waren brutal und radikal verschwunden, als sich die Frau, entblättert und entblößt hatte, als sie sich, erniedrigt und verkrampft, anstarren lassen musste. Ihr wahres Alter hätte man allenfalls an ihren dünnen, knochigen Händen abschätzen können, wenn man auf diese mehr geachtet hätte. Aller Camouflage beraubt, zeigte sich nun die hässliche, blanke Rückseite der Medaille, die der kunstvoll verhüllten und verbrämten Vorderseite in keiner Weise entsprach. Der nackte Körper der Geisha war nur hässlich und man mochte sich fragen, warum sie sich überhaupt so zeigte, warum sie das Geheimnis ihres Alters und ihrer verwehten Schönheit so ungeniert offenbarte. Man wollte kaum glauben, dass sie noch vor ganz kurzer Zeit elegant und grazil durch die Blumen schwebte und man konnte sich schon gar nicht vorstellen, dass diese alte Frau gezwungen sein sollte, sich immer noch als professionelle Stripperin vor geilen Männern auszuziehen und ihren Körper als Lustobjekt zu verkaufen.

Aber weder Jugend noch Schönheit waren dem Alten auf dem Sofa an diesem Abend wichtig. Es ging nur um diese eine, schon reichlich ramponierte Geisha, nicht um irgendeine beliebige Tänzerin und schon gar nicht um eine Stripperin oder Nutte. Der sexgeile Alte hätte sich mühelos jede schöne, attraktiv Frau, jedes anschmiegsame, junge Mädchen, jede reife, erfahrene Liebesdienerin kommen lassen können. Er hätte jede Geisha anheuern können, die mehr bot als Tanz und Gesang und er hätte sich jede Kokotte einbestellen können, die darauf spezialisiert ist, mit aller Raffinesse alten Männern Lust und Befriedigung zu verschaffen. Mit dem Geld, das er im Überfluss besaß, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, sich selbst, seiner Gespielin und allen, die es hätten wissen sollen, zu beweisen, wie jung und stark, wie geil und ausdauernd er immer noch war. Doch das alles wollte der Alte nicht, er wollte unbedingt diese alte Geisha und er hatte darauf bestanden, dass sie nicht nur vor ihm tanzt, sondern sich auch auszog und sich ihm nackt auf eben diese Weise präsentierte.

Nun hatte er sein Ziel erreicht. Die Wunschfrau stand vor ihm und sie hatte genau das getan, was der Alte gewollt hatte. Und zum zweiten Mal an diesem Abend glaubte die Geisha, dass nun ihr Auftritt beendet sei und sie nur noch auf einen Wink des Alten warten müsse, um die ausgebreiteten, verkrampften Arme endlich wieder sinken zu lassen, um sich den Kimono wieder um den Leib zu wickeln und sich so vor den lüsternen Blicken zu schützen. Sie sehnte sich danach, ihren entwürdigenden Auftritt abzubrechen, sich anzuziehen, ihr Geld in Empfang zu nehmen und dann diesen Ort zu verlassen, der sie einerseits faszinierte, durch die einmalige Lage, die grandiose Aussicht, die berauschende Blumenpracht, der sie aber andererseits wegen der anwesenden Personen vehement abstieß, wegen des geilen, gaffenden Alte, wegen des unverschämten Fotografen und nicht zuletzt wegen der unverschämt neugierigen Ikebanafrau. Sie war genervt und müde, als sie weiter auf das erlösende Zeichen wartete, und sich immer wieder fragte, warum gerade sie noch einmal die Kunst des Entblätterns zeigen sollte, eine Kunst die sie zwar immer noch beherrschte, aber schon seit Jahren nicht mehr vorgeführt hatte. Sie fragt sich, was an ihr noch so schön und attraktiv sein sollte, dass dieser Mann sie zu einem Privatauftritt in seine Wohnung hatte kommen lassen. Sie hatte dem Auftritt, den sie nun bitter bereute, wegen des Geldes und um Ärger zu vermeiden, zugestimmt, doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Das, was bisher geschah, war nichts im Vergleich zu den Ängsten und Demütigungen, die noch auf sie warteten und auf die sie in keinster Weise gefasst war.

Der Alte nahm sich sehr viel Zeit, um die alte, dürre, faltige Frau zu betrachten, die nach wie vor in der Stellung einer Gekreuzigten ausharrte. So viel Zeit, dass ihr die Arme immer mehr schmerzten, dass das Zittern überhandnahm und sie es schließlich nicht länger aushielt. Sie wollte den ausgebreiteten Kimono um ihren Leib wickeln, doch kaum hatte sie damit begonnen, schrie sie der Alte an und forderte sie auf, den Kimono abzulegen. Sie zögerte, doch nach einem weiteren gebellten Befehl gehorchte sie und stand nun wieder nackt und ohne Hülle, schutzlos vor ihrem Peiniger. Um sich nicht völlig zu erniedrigen, stemmte sie demonstrativ ihre Arme in die Hüften und unterstrich ihr neu erwachtes Selbstbewusstsein, indem sie den Blick hob, der die ganze Zeit schüchtern auf den Boden gerichtet war und den Alten böse anstarrte. Sie war voller Wut und Ohnmacht und hoffte, mit diesem Blick den Affen zu verunsichern, doch der dachte immer noch nicht daran, sein perfides Spiel zu beenden. Im Gegenteil, er raunzte die Geisha an, weiter zu tanzen und die Ikebanafrau, sie solle Musik machen. Während letztere sofort gehorchte und den „Nachmittag eines Fauns“ erneut auflegte, ihre Musikauswahl war eng begrenzt, zögerte die Geisha erneut und erst ein weiterer, heiserer Schrei brachte sie dazu, sich lustlos zu drehen und   sich zögerlich in den Hüften zu wiegen. Sie wusste, dass alles, was sie noch zu bieten hatte, reine Makulatur war, nur noch drittklassige Kunst und sie merkte auch sehr rasch, dass der Alte sie gar nicht mehr beachtete, dass er zwar zu ihr hin, aber zugleich durch sie hindurch blickte, dass er wie verträumt in eine ungewisse Ferne starrte und sie weder als Tänzerin und schon gar nicht als Frau wahrnahm.

Und so war es in der Tat, denn der tänzelnden Geisha galt die Aufmerksamkeit des alten Mannes in dieser Phase nicht mehr. Seine Gedanken schweiften ab, flogen viele Jahre zurück, in eine Zeit, als er jung war und die Zukunft vor ihm lag und all seine Träume schön waren und erfüllbar schienen. Sie konzentrierten sich auf den ersten Abend, den er in Gesellschaft von Kollegen und Vorgesetzten und auf Kosten der Firma in einer Bar verbracht hatte. Er, damals ein junger, schüchterner Spund, war mitgenommen worden, um in das Ritual der geselligen Nacharbeit und des fast ritualisierten Nachtlebens eingeführt und so in den Kreis der Angestellten aufgenommen zu werden. Die Männer, in der Firma arbeiteten ausschließlich Männer in verantwortlichen Positionen, gingen regelmäßig in eine Bar oder in ein Teehaus, um sich bei den Geishas mit Gesang und Tanz, mit eleganter Konversation und reichlich Sake verwöhnen zu lassen. Sie wurden freudig erwartet und genossen das teure Ambiente, die intime Atmosphäre, die Ruhe nach der Hektik des Tages und die Möglichkeit sich zu entspannen, aber auch das zu sagen, was sie in der strengen Hierarchie ihrer Firma sonst nicht loswerden konnten. Für ihn, den Lehrling, den Berufseinsteiger, war an diesem Abend alles neu und spannend, die Bar, die Geishas, die Gespräche, die derben Scherze, das dröhnende Gelächter, der ungewohnte Reiswein. Er war zu unbedeutend, als dass man sich um ihn gekümmert hätte und so geschah es, dass ihn an diesem denkwürdigen Abend zum ersten Mal in seinem Leben die Liebe überkam, und zwar mit großer Heftigkeit.

Neben den Geishas, es waren wohl drei oder vier, gab es noch ein blutjunges Mädchen, eine Gehilfin, ein Lehrmädchen, eine Maiko. Sie war hübsch und sanft und dennoch keck. Sie hielt sich weitgehend im Hintergrund oder in einem Nebenraum auf, schaute nur ab und zu vorbei, um etwas zu bringen oder abzuräumen. Aber die wenigen Augenblicke des Zusammenseins genügten, dass er sich in sie verguckte. Es war eine kurze, heftige Liebe, ein Strohfeuer, das nur ein paar Stunden lodern durfte und noch am selben Abend brutal ausgelöscht wurde. Er himmelte die Kleine an, obwohl er kaum die Augen zu heben wagte. Er beobachtete sie nur verschämt und sein Puls raste, wenn sie auftauchte. Erst allmählich wagte er es, sie schüchtern, von unten herauf anzusehen, in ihr weißes Gesicht und auf die rote, halbkreisförmig angemalte Unterlippe zu starren. Als sie ihn einmal kurz mit dem sehr weiten Ärmel ihres tiefblauen Kimonos streifte, drohte er vor Glück zu platzen. Ob sie seine Verliebtheit bemerkte und sich auch für ihn interessierte oder ihm nur professionell schöne Augen machte, weil er der einzige junge unter all den alten und ältlichen Männern war, wusste er damals nicht und hat es auch nie erfahren. Während er, aufgeregt und schüchtern, sich zum ersten Mal den Liebesträumen hingab, zum ersten Mal fühlte, was Liebe sein kann, genossen die anderen den Abend in vollen Zügen und gerieten in die übliche Art von Ausgelassenheit, die sich nach reichlich Alkoholgenuss einstellt. Als alle ziemlich betrunken waren, auch er, der keinerlei Übung und Erfahrung mit Derlei besaß, kam einer aus der Runde, es muss wohl sein damaliger Patron gewesen sein, auf die geniale Idee, ihn, den Frischling, den Newcomer, den Anfänger in jeder Hinsicht, auch in das letzte Geheimnis des Nachtlebens einzuführen. Es war bei diesen Vergnügungen nicht unüblich, den Abend angenehm enden zu lassen und auch die erotischen Dienstleistungen der Geishas in Anspruch zu nehmen und mit ihnen in einem kleinen Nebenraum das Kopfkissen zu teilen. Die geniale Idee des Patrons bestand nun darin, eine Initiation durchzuführen, dem unschuldigen Knaben seine Unschuld zu rauben und ihm ein Mannbarkeitsritual aufzunötigen. Er sollte beweisen, dass er zum Mann und damit für die Firma taugte, er sollte es hier und jetzt beweisen, indem er seine erste intime Begegnung mit einer Frau vor aller Augen absolvierte. Der Vorschlag wurde von der Runde johlend aufgenommen. Der Alte wusste noch heute, wie entsetzt und völlig durcheinander er damals reagierte, als ihm klar wurde, was die anderen von ihm verlangten. Aber die Regeln der Firma, der ungeschriebene Ehrenkodex, besagte, dass jeder Widerspruch zu unterbleiben habe. Wenn der Patron etwas wollte, gab es keine Auflehnung, keine Ablehnung, keinen Widerspruch. Sein Wort war Befehl und musste sofort und unbedingt in die Tat umgesetzt werden. Das wusste er, das wussten alle Anwesenden und auch die Mama-san, die ältliche Betreiberin der Bar, denn trotz ihres leisen Widerstands, fiel die Wahl der Partnerin für die Initiation natürlich auf die junge Maiko. Es war völlig selbstverständlich, dass die beiden Betroffenen erst gar nicht gefragt wurden. Kaum stand der unumstößliche Wunsch des Patrons im Raum, als die Mama-san ihren Protest auch bald einstellte und stattdessen, auf die Maiko einzureden begann. Viel Zureden war nicht von Nöten, sie rannte offene Türen ein, denn die Kleine war zwar in dieser Hinsicht noch unerfahren, noch eine absolute Jungfrau, aber sie war durchaus gewillt, diesen Zustand zu beenden. Sie hatte nichts dagegen, den Schritt in ihre Weiblichkeit mit diesem Jüngling zu machen und dass sogar unter Beobachtung. Sie war keck, die kleine Maiko, die so unschuldig aussah, keck und erpicht, einen guten Eindruck zu machen. Und sie handelte durchaus egoistisch, denn sie konnte hier und jetzt nicht nur ihre Neugier vor diesem Geheimnis der Liebe befriedigen, sie hoffte auch, dass sie einen Teil des Geldes erhalten würde, das die Mama-san für derart exquisite Dienstleistungen, eine Entjungferung, eine Mizuage, die nicht zum üblichen Programm gehörten, erhalten würde.

Doch es kam anders, als von den Beteiligten erhofft und den gespannten Beobachtern erwartet, es kam eigentlich, wie es kommen musste. Er, der junge Hüpfer, obwohl ganz verliebt und voller heißer Gefühle, viel zu vieler Gefühle, zugleich verängstigt und verunsichert, versagte im entscheidenden Moment. Er brachte nichts, aber auch gar nichts zu Wege, lag nur stocksteif da, aber das Körperteil, der steif wie ein Stock hätte werden müssen, schaffte die Auferstehung einfach nicht. Das war peinlich genug, aber zu allem Überfluss, machte sich die enttäuschte Maiko, deren Hoffnung auf Entjungferung und reichlichen Geldsegen darnieder lagen, über ihn lustig, statt ihm zu helfen und ihm beizustehen. Sie war, angesichts seines Unvermögens selbst immer unbeholfener und verklemmter geworden und da sie noch so jung und unerfahren war, hatte sie auch keine Mittel und Wege gekannte, ihn zu entspannen, ihn anzufassen, zu streicheln und sein bestes Stück sachkundig in die Hand zu nehmen. Das Mädchen war absolut ungeeignet den Jungen in die Liebe einzuführen. Sie lag genauso stocksteif neben ihm und wartete, dass sich etwas tue. Schließlich, als sich gar nichts regte, tat sie dann doch etwas, etwas sie als angehende Geisha nie hätte tun dürfen. Sie machte sich über ihren verhinderten Liebhaber und sein Unvermögen lustig, zwar dezent, aber doch so eindeutig, dass es alle mitbekamen und sich vor Lachen ausschüttelten. Vielleicht wollte sie damit auch von sich selbst ablenken, ihre Unsicherheit und ihre Enttäuschung bekämpfen. Die Schmähungen der Kleinen, das Gelächter der anwesenden Männer, die Untätigkeit der Mama-san, die vielleicht rettend hätte eingreifen können, es aber aus Angst, sich einzumischen und den Zorn des Patrons zu erregen, nicht tat, dass alles verwirrten den Jüngling, der noch längst kein Mann war. Die kleine Beleidigung kränkte und ärgerte ihn mehr als sein eigenes Unvermögen. Er hätte im Boden versinken mögen, er hatte sein Gesicht verloren, seine Würde war beschädigt, seine Zukunft in der Firma möglicherweise in Frage gestellt und auf jeden Fall waren seine Gefühle völlig durcheinandergewirbelt worden. Erst Neugier, dann Liebe, dann Angst, dann Unvermögen, dann Enttäuschung und schließlich abgrundtiefe Scham und Wut. Auf wen? Nicht auf sich selbst, auf seine Unerfahrenheit und sein Unvermögen, nicht auf die Lacher, die Kollegen, die sich köstlich über die Peinlichkeit amüsierten, nicht auf den Patron, der ihm das eingebrockt hatte, nicht auf die Mama-san, in deren Etablissement er so erniedrigt wurde. Nein, seine Wut war auf das schwächste Glied gerichtet, auf die Maiko, die erst durch ihre Untätigkeit alles versaut und ihn dann lächerlich gemacht hatte. Am Ende dieser Gefühlskaskade blieb nur der Wunsch nach Rache übrig.

Er schwor sich in diesem bitteren Augenblick, die erlittenen Demütigungen der frechen Maiko eines Tages heimzuzahlen, aber er fand keine Gelegenheit. Denn kurz darauf, wenige Tage nach diesem tragischen Abend, beorderte ihn die Firma in einen anderen, weit entfernten Teil des Landes. Seine Ausbildung begann und dann setzte seine Karriere ein. Das Ereignis in der Bar, die missglückte Initiation, hatte ihm keinerlei Nachteile gebracht. Er stieg in der Hierarchie auf, nahm wichtige Positionen ein und eines schönen Tages, wurde er sogar der Vorsitzende der Firma, der mächtigste Mann in diesem geschlossenen Universum, auf dessen Wort alle hörten. Er hatte in all diesen Jahren andere Probleme, als sich an einer dummen, kecken Maiko zu rächen, deren Namen er nicht einmal kannte. Aber vergessen hatte er die Schmach in der Bar nie und als er später, eines weniger schönen Tages, plötzlich wieder Zeit für sich selbst hatte, nahm er seinen Plan auf und nun stand das Mädchen von damals vor ihm. Er lachte bitter auf bei dem Gedanken Mädchen und noch bitterer, bei der Vorstellung, wie jung und hübsch und unschuldig die kleine Maiko damals gewesen war und was für eine dürre, hässliche, widerwärtige Alte sie mittlerweile geworden war.

Es hatte ihn in der Tat einige Mühe gekostet, diese Frau, die selbst Geisha geworden war, ausfindig zu machen. Aber die Firma hatte ihm geholfen, so wie sie ihm immer geholfen hatte. Dort gab es die notwendigen Experten und die spürten die Geisha auf und überredeten sie, für einen alten Mann, ein Name wurde nicht genannt, in dessen Wohnung erst zu tanzen und sich dann zu entkleiden und dabei sollte sie auch noch fotografiert werden. Sie hatte empört abgelehnt. Sie fühle sich zu alt für solch einen Auftritt, zu kurzatmig, außerdem hatte sie es nicht mehr nötig, sich zu entkleiden oder sich gar zu prostituieren. Kann man wissen, auf was für Ideen solche Männer kommen und fotografiert zu werden, ist ja schon ein Schritt in diese Richtung? Aber der Mann, der eines Tages bei ihr aufgetaucht war, ein kleiner, hässlicher Mensch mit Glatze, schwarzem Anzug und dicker Goldkette um den Hals, der zudem unangenehm nach viel zu viel und viel zu billigem Parfüm roch, duldete keinen Widerspruch. Er bot ihr ziemlich viel Geld. Geld, das sie bei allem Stolz doch gut gebrauchen konnte und er deutete auch noch ganz offen an, dass es Mittel und Wege gäbe, sie zu diesem Auftritt zu zwingen, falls sie nicht freiwillig käme. Die alte Geisha verstand zwar nicht, warum ausgerechnet sie tanzen sollte, sie, die schon lange nicht mehr in ihrem Beruf arbeitete, aber sie wusste aus langer Erfahrung, dass solche Männer, machten, was sie androhten. Sie kannte diese Typen, wusste, dass sie der Mafia angehörten und sie wusste, dass sie nicht entkommen konnte, ohne dass er seine Drohungen konkretisieren musste. Sie willigte notgedrungen ein und wunderte sich nicht einmal, als er weitere Einzelheiten ihres Auftritts festlegte und zur Bedingung machte, dass sie einen blauen Kimono tragen müsse und wie sie ihn am Ende des Tanzes ausziehen müsse. Auf die Frage warum blau und warum so kompliziert, gab er keine Antwort, er wusste wahrscheinlich selbst keine, aber die Bedingungen erschienen ihr durchaus erträglich und irgendwie war sie sogar gespannt, was der Abend bringen würde. Sie wurde kurz vor ihrem Auftritt abgeholt und in die Wohnung gebracht und ihr erster Eindruck dort, war sehr positiv. Eine solche Blumenpracht hatte sie nicht erwartet. Sie fühlte sich sogar ein wenig geschmeichelt, dass sie auserkoren war, in dieser Traumlandschaft zu tanzen. Den Akt des Entkleidens, würde sie auch noch überstehen, sie würde ihn rasch und ohne Zicken absolvieren und dann war sie wieder frei und konnte gehen. Den alten Mann, der im Halbdunkel auf seiner Couch saß, nahm sie erst war, als sie zu tanzen begann und sie erkannte natürlich den schamhaften, unerfahrenen Jüngling von damals nicht wieder. Viel zu viel Zeit war vergangen und aus dem unreifen Kerlchen, war ein Mann geworden, ein starker, unduldsamer, grausamer Mann, der immer wusste, was er wollte und der lange Zeit auch immer bekam, was er wollte. Aber dieser Mann war jetzt nicht mehr stark, sondern nur noch alt, doch immer noch unduldsam und grausam. Er erkannte sie sofort wieder, seine Maiko aus der Bar, sah in der alten, hässlichen Frau jedoch nicht die junge Lichtgestalt von damals, sondern nur das kleine, freche Luder, das ihn so fürchterlich gedemütigt hatte. Aber nun war die Zeit gekommen, sich zu rächen, nun war ihm die Frau ausgeliefert und niemand würde ihn dabei behindern, niemand würde es wagen, ihn in seine Schranken zu weisen. Er gab sich immer noch nicht zu erkennen, erwähnte weder die alte Bekanntschaft noch offenbarte er seine Schande. Er hätte, diesmal mit Gewalt, das Nachholen können, was ihm damals misslungen war, fürchtete aber, dass er sich ein zweites Mal blamieren könnte. So nahm ein anderer Plan in seinem greisen, rachsüchtigen Hirn Gestalt an. Doch zunächst einmal pfiff er den Fotografen an, der untätig herumstand und das tänzerische Gestammel der verunsicherten Geisha einfach ignorierte.

Der schrille Fotograf, der schon bei der kulinarischen Orgie anwesend war, trug diesmal eine Art Uniform, mit Goldknöpfen und Tressen vor der Brust und eine Militärmütze mit glänzendem Schirm. Die Uniform war in Pink und auch das Hemd, die Schuhe und sogar die obligatorische Sonnenbrille, die sich zu seinem Markenzeichen entwickelt hatte. Bevor die Geisha auftrat, hatte er akribisch, wenn auch ziemlich gelangweilt, die weiße Blumenlandschaft abfotografiert. Als die Geisha auf der Bildfläche erschien, stieg nicht nur sein Interesse, er änderte auch seine Arbeitstechnik. Nun kam es darauf an, viele Sequenzen aufzunehmen, schnell zu reagieren, beweglich zu sein. Er folgte ihr durch den Raum, suchte die besten Positionen, um die Dramatik der Bewegungen adäquat festzuhalten. Diese Art zu fotografieren, lag ihm weit mehr als das Ablichten von Blümchen. Er war in seinem Element, als die Geisha schwebte, rannte, tanzte, ihren Körper verrenkte. Er baute sich vor ihr auf, legte sich auf den Boden, stellte sich auf einen Tisch und seine Kamera klickte im Stakkato. Es würde viel Arbeit auf den digital artit zukommen, auf diesen Menschen, den er nicht kannte.

Der Spaß an diesem Auftrag nahm noch zu, als die Geisha begann, ihre Entkleidung effektiv in Szene zu setzten. Bei diesem Auftritt hatte auch ihn die Spannung und die Neugier gepackt. Doch als sie dann nackt vor ihrem blauen Kimono stand, verließ ihn der Spaß und die Neugier verwandelte sich in Wut. Keine Wut auf diese Geisha, auf diese alte Frau, die sich verlegen und schamhaft präsentieren musste, ein unwürdiges Bild des Jammers. Nein, Wut auf den Auftraggeber stieg in ihm hoch, auf diesen alten Sack, der für sein vieles Geld alles bekam, was er wollte. Der alle Puppen tanzen oder liegen lassen konnte, die fetten und dünnen, die blutjungen und die uralten. Der mit allen nach seinem Belieben verfahren konnte, der machen konnte, was er wollte. Doch zu der Wut, die zu äußern er selbstverständlich nicht wagte, gesellte sich auch ein wenig Bewunderung. Was war das nur für ein Typ, der solche Happenings in Szene setzte, solche abstrusen Kunstwerke inszeniert. Er bewunderte ihn, weil er nicht nur Ideen hatte, sondern diese auch umsetzte. Und irgendwie beeindruckte ihn auch das ungebrochene sexuelle Verlangen des Alten, seine eindeutigen Wünsche, die er zu befriedigen suchte. Denn so wie der Alte die Geisha anstarrte, hatte der Fotograf keinen Zweifel, dass er sich am liebsten auf sie stürzen und vor aller Augen vergewaltigen wollte, so wie er den drapierten Fleischberg beim letzten Happening bestiegen hatte. Ob er selbst in diesem Alter noch solche Wünsche haben würde, ging es dem Schrillen durch den Kopf, doch seine Gedanken wurden von dem unwirschen Ruf des Alten unterbrochen, seiner Arbeit nachzukommen. Er konzentrierte sich wieder, immer noch mit seiner Wut im Bauch, auf die hilflose Geisha und die perverse Situation, in der sie sich befand. Er hatte noch nie eine so alte, nackte, unwillige Frau aufgenommen. Seine Modelle waren jung und knackig und ganz wild darauf, fotografiert zu werden, von ihm, dem berühmten Künstler. Er musste nur mit den Fingern schnippen, damit sie ihm anschließend ihre Dankbarkeit bezeugten, genauso, wie er sich wünschte, nur, um erneut zum Shooting eingeladen zu werden. Aber jetzt, als er mitansehen musste, wie diese alte Frau sich bemühte, gefällig zu sein, wie sie sich hilflos abmühte, zu tanzen und zu posieren, fand er, dass es nicht richtig sei, sie noch zusätzlich durch seine Bilder bloßzustellen. Sie tat ihm leid, ein Gefühl, das in ihm selten aufkam. Und eigentlich war er auch fertig. Alles, was er jetzt noch aufnehmen konnte, waren Wiederholung und außerdem, wer wollte Bilder von senilen, alten Männern und ausgetrockneten Omas, wer konnte solchen Bildern irgend etwas abgewinnen, außer solch perverse Lüstlinge wie dieser Alte? Aber, resigniert zuckte er mit den Schultern und nahm die Kamera, die er auf den Boden gelegt hatte, wieder in die Hand, Auftrag ist Auftrag. Er arbeitete schließlich für diesen Typ und dessen Marotten hatte er ja bereits beim letzten Mal kennengelernt. Alt zu alt, dachte er und begann wieder auf den Auslöser zu drücken, mechanisch, uninspiriert und wegen des Anschisses, mit verdoppelter Wut.

Auch die Geisha hatte jegliche Inspiration verloren. Lustlos hatte sie sich fast nur auf der Stelle beweg, während der Alte vor sich hin stierte und sie gar nicht mehr wahr zu nehmen schien. Sie hatte den schweren Kimono aufgehoben und ihn wie den Mantel eines römischen Legionärs über die Schultern geworfen. Sie hielt ihn mit einer Hand fest, während die andere den Obi vor den Bauch presste. Während sie sich linkisch bewegte, unkonzentriert dahinschritt, redete sie sich ein, dass ihre Situation doch gar nicht so unerträglich sei. Bis jetzt war doch alles einigermaßen problemlos abgelaufen. Der erste Tanz zwischen den Blumengestecken war sogar wunderbar gewesen. Einen Tanz vor einer solchen Kulisse, in einem Blumenmeer, das war neu für sie gewesen. Und das Fallenlassen der Hüllen? Das sich nackt zeigen? Was war daran schon so schlimm? Im Gegenteil, sie hatte sogar die Spannung ein wenig genossen, die sie mit ihrer Inszenierung erzeugt hatte. Solche Auftritte waren ihr nicht fremd, so etwas hatte sie früher öfters gemacht, früher, als sie jung und attraktiv war und die Männer sie begehrten. Singen, Tanzen, Männer unterhalten, sich manchmal auch ausziehen und mit ihnen schlafen, das hatte schließlich zu ihrem Beruf gehört. Aber diese Zeiten waren längst vorbei. Jetzt war sie alt und die Lust auf fleischliches Vergnügen hatte sie verlassen. Ohne das Geld und ohne den Druck hätte sie sich auf das Angebot gar nicht eingelassen. Aber nun hatte sie es getan, alles hatte sie getan, was man von ihr gewollt hatte, und nun könnte endlich Schluss sein. Sie hatte keine Lust mehr, die Arme taten ihr immer noch weh, sie war sehr müde geworden und die barsche Art dieses widerwärtigen Alten ärgerte sie. Warum tanzte sie überhaupt? Er beachtete sie ja gar nicht. Sie wollte jetzt nur noch aufhören und diesen Ort verlassen, der allen Charme für sie eingebüßt hatte.

Aber genau das wollte der Alte nicht. Er war aus seiner versunkenen Haltung neu erwacht und merkte erst jetzt, wie lustlos die Geisha sich benahm. Mit schneidenden Worten befahl er erneut, sie solle weiter tanzen und sich gefälligst schneller bewegen. Nun gut, eine Zugabe, warum nicht, dachte sie und riss sich zusammen. Doch der alte Lüstling war nicht zufrieden, er drängte auf mehr, auf schneller, auf eleganter, obwohl er merken musste, wie müde sie war, dass sie nur noch unwillig und unkonzentriert herum torkelte, anstatt elegant dahin zu schweben. Als sie erneut erschöpft stehen blieb, forderte er sie unnachgiebig auf, nach noch einem Tanz und dann noch einen. Seine Stimme wurde immer lauter, immer harscher, er brüllte sie an, sie solle tanzen, weiter tanzen, dazu sei sie da, dafür habe er bezahlt, viel bezahlt. Und sie tanzte, stolperte, wankte durch die Blumen, verdrehte ihren Leib, hielt den Kimono fest, presste den Obi an den Bauch. Sie war nun völlig erschöpft, alles war nur noch Qual. Sie schwor sich, nur noch diesen einen Tanz und dann ist Schluss und genau das rief sie auch ihrem Antreiber zu, nur noch diesen einen Tanz, dann höre sie auf, dann gehe sie, dann habe sie genug geboten für sein Geld und für alles Geld dieser Welt würde sie nicht weiter tanzen. Der Alte lacht nur höhnisch.

Auch die Meisterin des Ikebana war ratlos, sie hatte für den erneuten Tanz nicht genug Musik dabei und musste Stücke wiederholen, den „Nachmittag eines Fauns“, die klassischen Weisen, sogar die Popscheiße. Musik, auf die es nun überhaupt nicht mehr ankam. Nur der Fotograf sah die Situation pragmatisch. Er hatte die kurze Phase des Mitleids mit dem Opfer und auch die Wut auf den Alten überwunden und fand perverser Weise sogar Gefallen an dieser unwürdigen Situation. Ein Mann hetzte eine Frau durch eine Blumenlandschaft, drängt sie, etwas zu tun, was sie längst nicht mehr wollte und konnte. Es waren Szenen der Verzweiflung und der Macht, die sich vor seiner Linse abspielten und die er in immer neuen Bildern festhielt. Bilder der Ausbeutung und der Gewalt, Motive aus den Niederungen menschlichen Verhaltens. Das lag ihm, das waren Szenen, die er wollte, das waren Bilder nach seinem Geschmack, Fotos, die zu machen, ihm schon immer vorschwebten. Das, was er hier aufnahm, war anders als des ewigen, dürren Modells oder gar die langweiligen Blümchen. Er war wieder ganz bei der Sache und verfolgte die verzweifelte Geisha mit seiner Kamera und hielt fest, wie dem wütenden Alten auf seinem Sofa nach mehr Tanz rief. Er näherte sich beiden, suchte die beste Perspektive, wollte die Gesichter einfangen, in denen sich die Gefühle spiegelten, nicht nur dass des geifernden Alten, auch die arme Frau bedrängte er ohne Mitleid und ohne Scham vor ihren Leiden. Diese war, nach den endlosen, sinnlosen Zugaben völlig erschöpft, eine atemlose, ausgebeutete, verhöhnte alte Frau, die nicht mehr wollte und nicht mehr konnte und sich schließlich endgültig weigerte, weiter zu tanzen. Sie blieb stehen, rückte den Kimono zurecht, presste den Obi noch heftiger gegen den Bauch und machte sich auf den Weg in Richtung Bad, den Ort der Zuflucht und der Rettung. Doch da rastete der Alte aus. Er sprang auf, sprang tatsächlich auf, wie nach einem Bad in einem Jungbrunnen, ein wieder jung gewordener Alter, eilte zu einem Gestell mit Samuraischwertern an der Wand hinter dem Sofa. Er packte das größte und rannte, es über seinen Kopf schwingend, auf die entsetzte Frau zu und versperrte ihr den Weg in das Bad. Dabei rief er unentwegt, die Hure solle tanzen, tanzen, tanzen. Und das tat sie dann auch, weglaufen hätte sie nicht können, wohin auch. Sie rannte vor dem Alten her, lief durch den Raum, immer an der Fensterfront entlang, lief durch die weißen Blumen, immer im Kreis. Und der Alte hoppelte hinter ihr her und ließ sein Schwert unablässig durch die Reihen der Blumen tanzen. Er köpfte die Gestecke, zerstörte die Blüten, warf die kunstvollen Gestelle um. Dann trampelte er auf den Resten herum und war dabei immer der Frau auf den Fersen, hielt aber doch Distanz. Er näherte sich ihr nur so weit, dass er auf den Kimono einhauen konnte, den sie hinter sich her schleifte. Er hieb und stach und zerfetzte das teure Stück. War es ein Wunder oder doch Absicht, dass er die arme Frau nicht traf und verletzte? Ein großes Wunder war, dass die entsetzte Geisha immer noch laufen konnte und ein kleines Wunder, dass ihre Frisur, der schwarze Turm mit dem bleichen Kamm, die Attacken und die Raserei des Alten bisher überstanden hatte. Der Alte tobte, fuchtelte, hoppelte und schrie, die Geisha rannte um ihr Leben, das Tanzen hatte sie längst aufgegeben. Der Fotograf knipste wie wild, er hörte gar nicht mehr auf, den Auslöser zu betätigen und hoffte dabei inständig, dass die Batterien durchhalten mögen. Er hüpfte um die beiden herum, passte sie ab, fing sie ein, mal von vorne, mal von hinten, mal von der Seite, mal ganz nah, dann wieder aus der Totalen. Er war nur bedacht, dieses Drama, dieses Inferno, diesen Höllenritt optimal festzuhalten. Er dachte keinen Moment daran, der Geisha in ihrer Todesangst zu helfen oder den Alten zur Vernunft zu bringen, mutig aufzubegehren, sich tapfer zwischen das Wild und seinen Jäger zu stellen und dem grausamen Spiel ein Ende zu bereiten. Doch das hätte er schon aus lauter Angst vor dem beständig geschwungenen Schwert nicht gewagt. Die Ikebanafrau schließlich, die auch noch da war und das Inferno mitansehen musste, jammerte lauthals und fiel fast in Ohnmacht, vor allem angesichts der brutalen Zerstörung ihres Werkes. Aber in Ohnmacht fallen durfte sie nicht, denn dann hätte sie ja das Geschehen nicht weiter beobachten können. Eingreifen wollte sie auch nicht. Da ging es ihr, wie dem Fotografen. Sie machte sich aus lauter Angst vor dem durchgeknallten Alten fast in die Hose.

So ging die Hatz durch die Wohnung weiter, die Geisha vorneweg, der mit seinem Schwert fuchtelnde Alte dahinter und in sicherem Abstand der Fotograf. Es ging immer im Kreis herum, immer in eine Richtung, immer an den Fenstern entlang, immer zwischen den Blumen hindurch, die schon fast gänzlich zerstört, verstreut auf dem Boden lagen. Auch die meisten Lampions waren zerstört und die Kerzen verloschen. Es war das reinste Wunder, dass nichts brannte, dass es nur hier und da schwelte und kokelte und Rauchgeruch sich verbreitete. Tanzen, rennen, Schwert schwingen, Blumen köpfen, Angstschreie, Gewimmer, Rauchwölkchen, Glitzerfenster und dazu das Klick, Klick, Klick der Kamera. Dann war aber doch Schluss. Die Geisha war am Ende und stolperte nur noch und auch der Alte röchelte und taumelte. Beide waren kurz vor dem Zusammenbruch. Die Geisha war mehrmals in die Nähe des Badezimmers gekommen, dem einzigen Ort, in den sie sich retten konnte, dessen Tür sie abschließen konnte, wo sie zumindest vorübergehend in Sicherheit gewesen wäre, aber der Alte hatte ihre Absicht immer durchkreuzt und ihr den Weg abgeschnitten und sein Schwert ganz besonders wild geschwungen. Jetzt konnte er nicht mehr und als die Tür erneut in greifbarer Nähe war, ließ sie den Kimono fallen, um den Verfolger abzulenken oder ihn stolpern zu lassen und verschwand in dem rettenden Raum. Sofort schloss sie die Tür, sank zu Boden und weinte bitterlich. Der Alte ließ das, was von seiner Wut noch verblieben war, an den Resten des einstmals kostbaren Kimonos aus, den er mit wuchtigen Hieben nun völlig zerfetzte und auch noch an einigen Gestecken, die die Apokalypse bisher überstanden hatten. Dann, endlich, endlich hatte auch er genug, dann war auch er völlig erschöpft, seine Rachegefühle verebbt und er wankte zu seinem Platz. Dort legte er das Schwert auf den Boden und streckte sich ermattet auf dem Sofa aus.

Diesmal endete der Abend nicht harmonisch. Die Geisha blieb lange im Bad. Erst als die Ikebanafrau mehrfach klopfte und ihr versicherte, der Alte habe sich beruhigt, kam sie heraus, ohne Schminke, mit aufgelösten Haaren, ohne Kamm und nur in ihren breiten Obi gehüllt. Ohne ein Wort zu sagen, zog sie ihren Mantel an, den die Ikebanafrau ihr reichte und schickte sich an, die Wohnung grußlos zu verlassen. Der Alte rief ihr zu, sie solle ihr Geld mitnehmen und schwenkte den Umschlag. Sich zu entschuldigen oder gar um Verzeihung zu bitten, kam ihm nicht in den Sinn. Die Frau achtete nicht auf ihn und das machte den Alten erneut wütend. Er empfand es als Beleidigung, dass diese, er bebte und brüllte, diese Hure, diese Schlampe, dieser Schandfleck seiner Jugend sein Geld zurückwies. Er tastete erneut nach dem Schwert, aber da war sie schon weg, war entsetzt aus der vermaledeiten Wohnung geflohen, war diesem Irrsinnigen endlich entkommen, hatte den Fahrstuhl erreicht und dann die Straße und zum Glück gleich ein Taxi gefunden und erst als sie wieder daheim war und ihre Wohnungstür verriegelt hatte, fühlte sie sich einigermaßen sicher.

Der Alte hatte den Umschlag mit dem Geld der Fliehenden nachgeworfen, als letztes Zeichen seiner Wut und Verachtung. Der Fotograf hob ihn auf und wollte ihn zurückgeben, doch der Alte bedeutete ihm mit einer ärgerlichen, verächtlichen Handbewegung, er solle ihn behalten. Das tat er dann auch und nachdem er die letzten seiner aufregenden Bilder in das Internet geschickt hatte, wollte er auch gehen, aber die Ikebanafrau beschwor ihn unter Schluchzen zu bleiben. Sie habe Angst, wolle nicht allein hier sein und sie müsse ja noch aufräumen, doch sie wage nicht, ihre Gehilfinnen an diesen Ort des Grauens zu rufen. Der Alte, nun wieder sichtlich ruhiger, hörte, was sie sagte und rief, sie solle gehen, beide sollen gehen, er wolle allein sein und er werde am nächsten Tag schon für Ordnung sorgen. Dann gab er ihnen die Briefumschläge mit dem Honorar, auch dem Fotografen, obwohl der das Geld der Geisha schon an sich genommen hatte. Beide bedankten sich mit tiefen Verbeugungen, wie es sich gehörte, wie es die Etikette forderte und trotz allem, was vorgefallen war. Dann war der Alte allein, ein wenig verstört, ein wenig traurig, aber auch trotzig. Er wollte nicht begreifen, dass aus dieser lieblichen, kindlichen, raffinierten, herzlosen, unverschämten Maiko, wie er sie in Erinnerung hatte, eine solche alle Vettel und Spielverderberin geworden war.

Der Mann am Computer hatte andere Probleme. Die Datenmenge, die ihm der schrille Fotograf zugeschickt hatte, war wieder sehr groß. Hinzu kam, dass er mit den ersten Bildern wieder nur recht wenig anfangen konnte. Sie waren konventionell, nicht aufregend und schon gar nicht anregend. Was sollte er aus diesen Blümchenbildern machen? Wie diese hübsch arrangierten Blumenbestecke, die prächtige, großzügige Blumenlandschaft in der Traumwohnung in aussagestarke Bilder umsetzen? Er konnte sich für diesen neuen Auftrag erst erwärmen, als die Geisha in dem Blumenmeer auftauchte. Erst als die schlanke Gestalt in ihrem hellblauen Gewand durch die weiße Pracht wandelte, tänzelte, sich bog, den Körper verrenkte, die Arme hob und senkte, ab und zu mit ihrem Fächer fächelte und dabei immer dasselbe, starre, dick geschminkte Gesicht, mit dem rote Mündchen und den schwarzen Augen zeigte, ohne sichtbare Regungen und anscheinend auch ohne Gefühle, stieg sein Interesse. Das war ein gutes Motiv, das war es Wert, weiter bearbeitet zu werden. Er überlegte, wie er die Bewegung des Tanzes in ein statisches Bild umsetzen könnte, wie er die Geschmeidigkeit und die Eleganz der Frau zum Ausdruck bringen könnte. Doch dann kam die nächste Serie und die faszinierte ihn noch mehr, besonders das Bild der alten, nackten, faltigen, mageren Frau, die mit unendlich traurigem, verängstigtem Blick und mit ausgestreckten Armen wie eine Gekreuzigte dastand. Ihm fiel sofort die Assoziation zu einer mittelalterlichen Schmerzensmadonna ein, einer Maria inmitten einer weißen Blumenpracht und vor einem geheimnisvollen, dunklen, glitzernden Hintergrund. Er war erstaunt, wie Grund verschieden die beiden letzten Serien waren, wie völlig anders diese Geisha auf ihn wirkte. Trotz der deprimierenden Botschaft fand er Gefallen an diesem rührenden, zutiefst melancholischen Bild. Doch als dann die letzte Serie eintraf, war er perplex. Diese Bilder waren grandios. Er musste die Kunst des Fotografen neidlos anerkennen. Die Szenen, die auf seinem Monitor erschienen, waren fulminant und aufregend. Erschreckend und faszinierend. Allerdings war ihm nicht klar, ob sie echt oder gestellt waren. Rannte der Alte mit verzerrtem Gesicht, ein Schwert über dem Kopf schwingend, tatsächlich in böser Absicht hinter der Geisha her, die ihren Kimono hinter sich herzerrte? Wenn sie inszeniert waren, mussten beide großartige Schauspieler sein. Aber das konnte nicht sein, dazu war die Wut in den Augen des Jägers und die Angst in denen der Gejagten viel zu echt, ihre verzerrten Mienen, ihr Blicke, in denen Angst, Wut und Hass eine fatale Symbiose eingegangen waren. Der digital artist war fasziniert von der Intensität der Bilder, die teilweise verschwommen, selektiv unscharf, farblich verzerrt in ihrer Aussage aber höchst präzise und ausdrucksstark waren. Es war eine wilde, gnadenlose Verfolgungsjagd in einer irreal schönen, jungfräulich reinen Blumenwelt, einer Welt, die auf jedem weiteren Bild mehr und mehr zerstört wurde. Das Motiv, die Angst einflößende Verfolgung eines Menschen, verbunden mit einem Gemetzel an unschuldigen, jungfräulichen Blüten und das sinnlose Zerstückeln eines kostbaren Kimonos war in den Augen des digital artists große Kunst, ob die Verfolgung nun real oder inszeniert war. Manchmal tauchte in den Bildern auch noch eine entgeistert dreinblickende Frau auf, die das grausige Geschehen vom Rande aus verfolgte und deren Rolle ihm nicht ganz klar war, die aber in dem Kunstwerk eine wichtige Rolle spielte, eine Zeugin, die dem Geschehen noch mehr Realität verlieh. Er würde reichlich zu tun haben, ehe aus diesem Rohmaterial die Kunstwerke entstanden, die ihm vorschwebten: Bilder in Schwarz-Weiß, Bilder voller Dynamik, voller Emotionen, Darstellungen der Abgründe des Lebens, Ikonen des Grauens und der Angst umgeben von Schönheit. Er richtete sich halb auf, fasste wieder über sich, griff nach der schon halb leeren Flasche, nahm einen tiefen Zug Whisky und wartete, dass ihn der Alkohol zu neuen, kreativen Höchstleistungen führen würde.

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