Das Budget - Teil 1

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Das Budget - Teil 1

Das Budget - Teil 1

Gero Hard

Leonie hatte mich angeklingelt und stand schon in der Aula, wo wir verabredet waren. Sie fiel mir auf, weil sie nervös nach rechts und links schaute. Aber auch, weil sie traurig aussah, so, als hätte sie gerade geweint. Ok, das konnte viele Gründe haben und ging mich rein gar nichts an.

Ich ging direkt auf sie zu, weil sie die, als Erkennungszeichen, vereinbarte Clownsnase auf ihre Nasenspitze geklemmt hatte. Meine leuchtete auch feuerrot und deshalb winkte sie mir schon von Weitem zu.

„Hi, du bist Leonie? Freut mich dich zu sehen. Alles gut bei dir?“

„Ja, bei dir auch?“

„Bei mir ist auch alles bestens, aber du siehst traurig aus. Und du interessierst dich für mein Projekt?“

„Ja, mein Freund ist wohl doch bald mein Ex. Lassen wir das. Dein Projekt klingt toll, dein Aushang hat mich neugierig gemacht.“

„Steckt alles noch in den Kinderschuhen. Wollen wir uns nicht irgendwo setzen, dann erkläre ich dir alles.“

Ich schnappte mir die Kleine, legte ihr meinen Arm einfach so um die Schulter und zog sie mit mir mit. Diese Geste hatte sie merklich überrascht, vielleicht sogar verunsichert. Aber sie sah mich nur kurz an, lächelte schüchtern und ließ ihn dort, wo er war. Ich wollte sie nicht bedrängen, eher überkam mich so etwas wie ein Beschützerinstinkt, mit dem ich sie trösten wollte. Beziehungsprobleme sind immer doof. Ich wusste das, weil meine auch gerade nicht so dolle lief.

Nur, wenn’s einem eh schon nicht so gut ging, brauchte man nicht auch noch schlechte Informationen. Deswegen wollte ich sie mit meinen Problemen nicht auch noch belasten, wo sie doch augenscheinlich genug Eigene hatte.

„Hast du heute noch Vorlesungen?“, fragte ich sie kurzerhand.

Das Wetter war erstklassig und ich fand meine Idee, sie in eine Eisdiele einzuladen, perfekt. Erstens würde es sie ablenken, wovon auch immer, und zweitens könnten wir dort ungestört reden.

„Nö, nichts Wichtiges.“, gab sie zurück.

„Na dann los.“, zog ich sie einfach mit mir.

„Wohin entführst du mich?“

„Lass dich überraschen!“

Von Anfang an passte es irgendwie mit uns. Nun war das bei mir nicht besonders schwer, weil ich von mir behaupten konnte, ein sehr umgänglicher Typ zu sein. Und ich konnte mich schon immer ganz gut auf mein Gegenüber einstellen. Deshalb war es von Anfang an locker und anscheinend hatte sie sofort Vertrauen zu mir.

Kurze Zeit später saßen wir vor unseren Eisbechern und ich erzählte ihr, was ich vorhatte. Vom Budget, das ich in Geschenke, Aufmerksamkeiten und Equipment investieren wollte, von den Kinderstationen in den Krankenhäusern, von den Hospizen, in die ich gehen wollte. Aber auch, von dem unfassbaren Leid auf diesen Stationen und in den Häusern.

Ich hatte mal für zwei Tage in einem Hospiz hospitiert und dann gab es noch ein Ereignis innerhalb der Familie. Deswegen wusste ich, wovon ich redete.

Sie hörte mir sehr aufmerksam zu, kommentierte erstmal nichts. Von ihrem Gesicht konnte ich allerdings genug stille Kommentare ablesen. Die Palette reichte von herzergriffen bis erschrocken.

„Was muss ich als deine Assistentin denn tun?“

„Du begleitest mich zu den Terminen, reichst mir die Sachen zu. Und schön wäre es, wenn du auch ein paar Späße mitmachen könntest, oder sogar selbst welche vorführst, wenn du dich sicherer fühlst.“

„Meinst du, ich kann das?“

„Ich denke, das werden wir sehen, wenn du ein- oder zweimal mitgekommen bist. Dann kannst du dir ein Bild davon machen und selbst entscheiden, ob das was für dich ist. Das Problem ist bestimmt die Umgebung. Was man dort sieht, macht es nicht gerade leicht, lustig zu sein. Vor allem dann, wenn es einem selbst nicht so gut geht.“

„Du meinst, wie mir gerade?“

„Auch. Aber das geht mich nichts an. Es sei denn, du möchtest es loswerden. Vielleicht geht’s dir dann auch besser.“

„Ich weiß nicht. Wir kennen uns nicht, na ja, noch nicht. Ist was Privates.“

„Ok, kein Problem! Am besten ist, ich gebe dir meine Handynummer, für den Fall, dass was ist. Ansonsten treffen wir uns dann übermorgen um 3 vor der Diakonie, ist das ok?“

„Klar, das richte ich ein. Muss ich was Bestimmtes anziehen?“

„Nö, möglichst bunt. Deine Clownsnase hast du ja schon und schminken machen wir dann zusammen.“ 

Das war Leonies und mein erstes Treffen. Mein erster Eindruck mochte täuschen, aber ich war mir nicht sicher, ob das was für sie sein würde. Abwarten! Vielleicht würde es besser, wenn sie ihr privates Problem in den Griff bekommen hatte.

****

Zwei Tage später, fast 18 Uhr und wir sind durch für heute. Verdammte Hitze! Wieder und wieder tropfte mir der Schweiß von der Stirn und lief mir in die Augen. Es brannte fürchterlich. Die Polyesterhaare der roten Perücke machten es nicht besser, die juckte grausam. Die künstliche, rote Gnubbelnase kniff, die Schuhe, mindestens Größe 70 viel zu lang und schwer. Clown sein ist nicht immer leicht.

Wenn ich wenigstens selbst gute Laune gehabt hätte, wäre es bestimmt leichter. Es ging mir eine Menge durch den

Kopf, was dem Spaß im Wege stand und das bei vollem Programm.

Das Wetter war aber auch kaum auszuhalten. Dazu die vollsynthetischen Klamotten, eine Tortur. Es gab eben solche Tage, da mochte ich einfach alles hinschmeißen und fragte mich: Warum tue ich mir das überhaupt an?‘

Dafür gab es selbstverständlich einen guten Grund. Aber das erklärt sich später …

„Hast du diese strahlenden Augen gesehen? Und wie herzlich sie gelacht haben.“, tanzte Leonie, die ich zum ersten Mal dabei habe, aufgeregt um mich herum.

„Deswegen mach ich das ja, Leo.“, antwortete ich erschöpft.

Völlig ausgelaugt riss ich mir die Perücke vom Schädel. Was für eine Wohltat, weil endlich wieder Luft an die Kopfhaut kam. Raus aus den dünnen Handschuhen und den riesigen Schuhen. Ich musste mich setzen, war am Ende meiner Kräfte, nach einer guten Stunde Kinderprogramm bei dem Wetter. Und das schon das dritte Mal an diesem Tag.

Die Oberschwester kam vorbei und gab uns zwei Flaschen gut gekühltes Mineralwasser. Obwohl ich glaubte, dass jeder Tropfen davon verdampft sein würde, bevor er in meinem Magen landete, sollte es mich vor der drohenden Dehydrierung retten und meinen Durst löschen. Sie war einfach die Beste.

„Und wie bist du dazu gekommen, Max? Ich meine, überhaupt, das ganze Projekt, das Budget und alles.“

„Ich hatte Stress mit meinem Vater. Er ist Anwalt mit eigener Kanzlei. Natürlich will er, dass ich mit einsteige. Ist aber nicht mein Ding. Dann hat er gedroht, mir den Geldhahn zuzudrehen. Dann kam mir die Idee mit dem Budget. Das ist die Kurzgeschichte dazu.“

„Und was ist das für ein Familienereignis gewesen, das mit den kranken Kindern verbunden ist? Oder magst du das nicht sagen?“

Ich öffnete das Fotoalbum in meinem Handy und zeigte ihr ein Foto.

„Och, die ist ja süß, wer ist das?“

„War …! Es muss ‚war‘ heißen, Leoni! Das war meine Schwester, 11 Jahre alt und unheilbar krank, Lungenkrebs. Die Ärzte konnten nichts mehr machen. Zu dem Zeitpunkt ging es ihr noch gut. Sie war so fröhlich und lebhaft, ein Sonnenschein. Ich habe sie geliebt, als wäre sie meine eigene Tochter gewesen. 6 Monate und 9 Tage nach diesem Foto mussten wir sie beerdigen. Es war der bisher schlimmste Tag in meinem Leben.“

„Das tut mir sehr leid! Wie lange ist das jetzt her, oder ist das zu indiskret?“ 

Ich bekam feuchte Augen, die Sache ging mir noch immer sehr nah. Leonie, die meinen Stimmungswandel bemerkte, legte mir freundschaftlich ihren Arm um meine Schulter.

„Tut mir leid Max, ich wollte keine Wunden aufreißen.“

„Schon ok und nein, ist nicht zu indiskret. Knapp 2 Jahre. Sie ist der Grund dafür, warum ich mich hier zum Clown mache.“

„Aber das machst du gut, alle Kinder lieben dich, sogar die Schwestern und Ärzte freuen sich, wenn du herkommst, das habe ich sofort bemerkt.“

„Ja, ich weiß, aber es ist so unglaublich schwer, immer fröhlich zu sein, wenn man die Schicksale der kleinen Mäuse kennt. Kein Kind auf dieser Station, wird das übernächste Weihnachten überleben, weißt du das? Und das tut weh, sehr weh sogar. Manchmal kann ich nachts nicht schlafen und weine oft, wenn ich alleine zu Hause bin.“

„Hilft dir deine Freundin nicht damit klar zu kommen?“

„Doch, das macht sie. Bianca ist klasse! Aber sie versucht auch, es mir auszureden, weil sie mit ansehen muss, wie sehr es mich belastet.“

„Kann man nicht Geld sammeln, um so den Kindern und /oder den Eltern irgendwie zu helfen? Klar ist das naiv. Aber man muss doch irgendetwas tun können. Die Medizin, die Forschung sind heutzutage so weit. Und doch steht man manchen Dingen immer noch machtlos gegenüber.“

„Leoni, was glaubst du denn, wieviel Geld man bräuchte?“

„Keine Ahnung Max, Millionen?“

„Leo, kein Geld der Welt könnte hier helfen! Deswegen versuche ich es ja mit ein wenig Ablenkung, diese Kinder etwas von ihrem Leid abzulenken. Weißt du, die Kinder wissen, dass sie schwer krank sind und dass es keine Rettung für sie geben wird. Und dennoch haben sie ihren Lebenswillen nicht verloren und ihr strahlendes Lächeln. Das bewundere ich so an ihnen.“

„Für sie bist du nicht nur ein Clown, sondern so etwas wie ein Held.“

„Aus diesem Grund habe ich den Aushang gemacht und suche nach Kommilitonen, die mich unterstützen.“

„Und ich finde die Idee ganz toll und möchte unbedingt dabei sein, darf ich?“ 

„Leo, oder soll ich dich lieber Leonie nennen? Bist du dir wirklich sicher, dass du das willst? Du wirst schlimme Dinge sehen und es wird nicht immer so fröhlich wie eben sein. Ist dir das klar?“

„Nenne mich bitte Leo, das finde ich schöner. Und ja, ich bin mir im Klaren darüber. Aber ich denke auch, zusammen, in einer Gruppe, können wir das schaffen, wenn wir zusammenhalten.“

„Mmh, na dann … bist du herzlich willkommen, vielen Dank.“

Leonie fing an, das Durcheinander in der Kiste zu sortieren. Darin lagen unsere Kostüme, Schminke, die Blumen, aus

denen Wasser spritzen konnte, einige Bälle, Kartenspiele für einfache Zaubertricks und vieles andere mehr, was unseren wunderbaren Patienten ein Lachen ins Gesicht zauberte. Ich hatte zwar meine Ordnung, aber die kannte sie natürlich noch nicht. ‚Das erkläre ich ihr mal in Ruhe zu Hause. Es wird das Beste sein, wenn ich sie mal zu mir einlade. Dann kann sie auch Bianca, meine Freundin, kennenlernen‘, ging mir durch den Kopf.

Leo war ne kleine Süße. Eine junge Frau mit Ecken und Kanten, obwohl es doch eher Rundungen waren. Gute 1,60m groß, blond. Ob naturblond wusste ich nicht. Kein Modeltyp, nicht knochig, aber doch schlank. Hübsch war sie, hatte markante Wangenknochen und sinnlich geschwungene Lippen. Soweit ich wusste, hatte sie einen festen Freund.

„Wie machen wir denn jetzt weiter?“, fragte sie, während sie weiter einräumte und sich jedes Teil staunend ansah.

„Was hältst du davon, wenn wir uns Freitag Abend bei mir treffen? Dann kann ich dir die „Ordnung“ in der Kiste erklären und dir bei der Gelegenheit gleich noch Bianca vorstellen.“

„Das sollte gehen. Wenn es so kommt, wie ich denke, habe ich ab heute Abend alle Zeit der Welt.“, erklärte sie kryptisch.

Immer diese Anspielungen auf ihr Privatleben. So langsam wurde ich neugierig. Aber wenn sie nichts erzählen wollte, dann eben nicht.

Leonie: Der erste Nachmittag mit Max, an den ich ihn auf seiner Runde durch die Kinderstation im örtlichen Hospiz, heute probehalber begleiten durfte. Ich hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust, als ich mit ihm durch die erste Glastür ging. Es war gut, dass er bei mir war, alleine hätte ich das nie geschafft. Ich bewunderte ihn dafür, wie er das hinbekommt.

Alles war hell und freundlich, mit hübschen Farben gestrichen, man hatte sich wirklich viel Mühe gegeben, um den

Kindern ein angenehmes Ambiente zu bieten. Zum Wohlfühlen, soweit das, wenn überhaupt, irgendwie möglich war.

Manche Kinder waren so schwach, dass sie nicht mehr selbst gehen konnten und mit einem Rollstuhl geschoben werden mussten, andere schoben einen Ständer mit einem Tropf neben sich her, einige hatten keine Haare mehr und waren fast stolz auf ihre Glatze. In dieser Umgebung waren sie damit keine besonderen Kinder und gehörten einfach zu dieser Gemeinschaft, als wäre es völlig normal. Hier zeigte kein Kind hämisch grinsend, oder gar verächtlich, mit dem gestreckten Zeigefinger auf ein anderes, oder machte sich über die ungesunde Gesichtsfarbe lustig. Hier waren sie in ihrer eigenen Welt zu einer eingeschworenen Gemeinschaft geworden. Und egal welches Schicksal sie zu ertragen hatten, keines dieser Kinder hatte sein Lachen verloren.

Mir, Leonie Teuber, zerriss es mein junges Frauenherz. Schlagartig war mein Mutterinstinkt geweckt worden. Mit gerade mal 23 Lenzen hatte ich meine Zukunft noch vor mir, zu der ganz sicher auch irgendwann Kinder gehören sollten. Wenigstens zwei, besser noch drei. Mein Freund und ich waren uns auch einig darüber. Allerdings hatte er zur Bedingung gemacht, erst mein Studium über die Bühne gebracht zu haben. War nun auch egal, hatte sich mit ihm sowieso erledigt. Wieso? Weil er ein Schwein war, deshalb.

Wie war ich dahin gekommen und was machte ich dort, in diesem Krankenhaus, mit Max an meiner Seite? Wer bin ich überhaupt?

Was die Schule anging, war ich eine Spätzünderin. Abi ein Jahr später als allgemein üblich, weil ich damals in der Orientierungsstufe eine Ehrenrunde drehen musste. Wie blöd, aber da war ich gerade 12, meine Brüste begannen zu wachsen, ich bekam Schamhaare und meine Periode. Von da an hatte ich täglich öfter Finger in meiner Muschi, als es volle Stunden auf der Uhr gab. Ok, das war übertrieben, aber eigentlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit.

Es war ein düsterer Abschnitt in meiner schulischen Karriere. Irgendwann machte es allerdings „klick“ in meinem Kopf und von da an ging’s bergauf. Das letzte Zeugnis war der sichtbare Beweis dafür, dass ich verstanden hatte, wie Lernen sich auszahlen konnte. Dann, ein Jahr als ‚Backpacker‘ und Nanny nach Australien. Ein Erlebnis, dass ich niemals bereuen würde.

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