Das Duell

47 5-9 Minuten 0 Kommentare
Das Duell

Das Duell

Jürgen Lill

Es mag den Anschein gehabt haben, dass meine Freundin und ich uns auseinandergelebt hatten. Aber das war eigentlich nicht die richtige Interpretation der Situation. Wir haben ganz einfach irgendwann festgestellt, dass wir keine Gemeinsamkeiten, keine gemeinsamen Interessen hatten, dass es nichts gab, worüber wir uns miteinander unterhalten konnten oder wollten und dass es auch nicht wirklich etwas gab, was wir miteinander unternehmen wollten, nicht einmal Sex. Und so hat es mich trotz aller Gefühle, die ich noch für sie hegte und trotz aller Gewohnheit, nicht sonderlich getroffen, als sie mir irgendwann eröffnete, dass sie einen anderen Mann getroffen hatte, mit dem sie all das erleben konnte und der ihr all das gab, was sie bei und mit mir immer vermisst hatte. Meine Trauer über den Verlust hielt sich also ziemlich in Grenzen und wich sehr schnell dem berauschenden Gefühl der Freiheit und der Erkenntnis, dass ich mich nicht länger in meinem Wesen einschränken musste. Ich hatte endlich wieder das Gefühl, frei durchatmen zu können. Ich hatte endlich wieder Zeit für mich und konnte sie auch genießen.
Freitag Abend war ich seit ungefähr einem halben Jahr in einem Fechtkurs; ein Sport, dem meine Freundin beim besten Willen überhaupt nichts hatte abgewinnen können, und das auch noch an einem Tag, an dem sie prinzipiell immer in der Disco war; einem Ort, dem ich auch heute noch nichts abgewinnen kann. Und diesmal nun ging ich endlich einmal zum Fechten, ohne das Gefühl zu haben, mich dadurch befreien zu müssen. Ich war frei und das genoss ich.
Der Fechtkurs bestand aus zwei Gruppen; den Damen und den Herren. Und überheblich, wie die Herren oftmals in sportlichen Disziplinen sind, hatten sich einige von ihnen schon des Öfteren über die Damen lustig gemacht, obwohl ich nicht fand, dass sie erheblich schlechter fochten, als wir, auch wenn zugegebenermaßen einige von ihnen doch lieber beim Nudelholz hätten bleiben sollen, anstatt jemals ein Florett in die Hand zu nehmen. Aber ganz ehrlich: Auch von uns Herren waren einige dabei, deren Begabung für diesen Sport weit geringer war, als ihre große Klappe jemals hätte vermuten lassen. Jedenfalls kam es wie es kommen musste: Die Damen fühlten sich ernsthaft in ihrer Ehre gekränkt, nachdem wieder einige Herren sich dazu berufen gefühlt hatten, sie während des Trainings auslachen zu müssen. Und zur großen Verwunderung der vorlauten und plötzlich sehr verunsicherten Herren forderten uns die Damen am Ende der Stunde tatsächlich zum Duell. Unser bester Mann gegen ihren besten; bzw. ihre beste Fechterin. Ich fand die Situation sehr amüsant und sah mich selbst auch nur als unbeteiligten Zuschauer und Zeugen. Schließlich hatte ich mich niemals in irgendeiner Weise abfällig über die Damen geäußert. Aber als wir Männer uns in unsere Garderobe zur Beratung zurückzogen, waren sich plötzlich alle einig, sogar unser Trainer, dass ich unsere Gruppe vertreten sollte.
„Oh nein, Freunde; mich geht das Ganze nichts an. Ihr habt Euch die Sache eingebrockt, jetzt seht auch zu, wie Ihr da wieder rauskommt. Ich schlage mich jedenfalls nicht mit einem Mädchen.“
Hank, unser Trainer, stoppte den Redeschwall all der anderen, die auf mich einredeten, nahm mich bei der Schulter und zog mich ein wenig auf die Seite.
„Hör zu, Michael“, begann er „hier geht es nicht darum, eine Schuldfrage zu klären, sondern ganz einfach nur um einen sportlichen Wettstreit. Und die Regeln besagen: Unser Bester gegen ihre Beste.“
„Warum trittst Du dann nicht an?“
„Erstens bin ich der Trainer. Und zweitens glaube ich nicht, dass ich Dir noch etwas beibringen kann.“
„Du willst mich bei meinem Stolz packen, ja!?“
„Muss ich das? Du bist von der Gruppe einstimmig gewählt worden. Die Frage ist jetzt nur, ob Du genug Teamgeist besitzt.“
Okay, damit hatte er meine schwache Stelle gefunden. Also fragte ich nach kurzem Zögern: „Wie sind die Regeln?“
„Drei Treffer! Und der Sieger darf sich vom Besiegten was wünschen.“
„Na super; Und wenn ich verliere?“
„Hey, was habe ich Dir beigebracht? Denke niemals ans Verlieren!“
Da stand ich also, ließ mir auf die Schulter klopfen und die guten Ratschläge derjenigen, die zu feige waren, selbst ihre Ehre zu verteidigen, über mich ergehen, ohne ihnen meine Aufmerksamkeit zu widmen. „Teamgeist!?“
Meinen Fechtanzug hatte ich noch an. Also streifte ich nur wieder meine Maske über, genauso, wie alle anderen es taten, damit nicht zu erkennen war, wer kämpfte. Und dann begab ich mich mit meinem Florett auf die Fechtbahn, wo meine Gegnerin mich schon erwartete. Auch sie hatte ihre Fechtmaske schon auf, wie auch die ganze Damenriege, so dass ich nicht erkennen konnte, gegen wen ich antrat. Nach der ersten Abschätzung konnte ich ungefähr ein Drittel der Damen nach Größe und Statur ausschließen. So gut kannte ich sie aber nicht, dass ich mir darüber hätte ein Urteil erlauben können, wer von ihnen nun genau so groß war wie mein Gegenüber, mit genau dieser Statur und Haltung. Nein Stopp, die Größe: Meine Gegnerin war klein, kleiner als die meisten anderen Damen und dabei aber sehr gut proportioniert, wie man unschwer durch den enganliegenden Fechtanzug erkennen konnte. Wer kam denn da überhaupt in Frage? Ich hatte keine Zeit mehr, mir länger den Kopf darüber zu zerbrechen, gegen wen ich fechten musste, denn das Zeichen wurde gegeben und es begann.
Grundstellung, Gruß, Engarde! Meine Gegnerin bewegte sich geschmeidig und schnell, wie eine Katze und fast hätte sie mich schon ganz zu Beginn des Kampfes überrumpelt. Ein Scheinangriff und sofort ein blitzschneller Ausfall, den ich gerade noch reflexartig parieren konnte. Puh, das war knapp. Wer steckte nur hinter dieser Maske? Wer konnte sich so schnell bewegen und war eine so gute Technikerin? Bei ihrem zweiten Angriff wurde ich getroffen. Da hatte ich keine Chance mehr für irgendeine Reaktion. Der erste Punkt ging also an meine Gegnerin. Und mit ihm ging für den Bruchteil einer Sekunde auch all meine kühle Selbstbeherrschung und wich unter dem Jubel der Damen und dem weniger erbauenden Gemurmel der Herren, tiefster Verzweiflung und Selbstverachtung. Aber in diesem Sekundenbruchteil war es mir plötzlich klar: Ich focht gar nicht gegen ein Mädchen aus der Gruppe, sondern gegen die junge, hübsche Trainerin aus Frankreich, deren Perfektion ich schon oft bewundert hatte. Wir hatten sogar schon einige male lange, intensive Blicke miteinander gewechselt. Und Gott allein weiß, warum ich nie den Mut aufgebracht hatte, sie anzusprechen. Wahrscheinlich hatte es daran gelegen, dass ich bisher eine Freundin gehabt hatte. Und abgesehen davon, dass ich längere Zeit in dieser Beziehung verbracht hatte, war ich doch auch immer noch gnadenlos schüchtern, wie ich mir jetzt selbst eingestand. Aber ich hatte keine Zeit, um mich weiter diesem Gedankengut hinzugeben. Das Duell ging weiter.
In jeder Art von Kampf ist es von Vorteil, seinen Gegner zu kennen. Und ich fühlte mich durchaus in der Lage, diesen Vorteil für mich zu nutzen. Ich war kein Anfänger mehr. Ich focht, wie schon erwähnt, seit einem knappen halben Jahr und hatte diesen Sport für mein Gefühl absolut verinnerlicht, ohne dabei aber der Meinung zu sein, dass ich nicht noch etwas dazulernen konnte. Jedenfalls konnte ich die Gefährlichkeit und den Stil meiner Gegnerin ganz gut einschätzen. Und als es in die zweite Runde ging, war ich wieder voller Ehrgeiz, die soeben erlittene Scharte wieder auszumerzen. Der Kampf ging weiter, schneller als das Auge, und bei ihrem nächsten Ausfall ließ ich Sophie, so hieß die schöne Lehrerin, voll in mein Florett laufen. Der Punkt ging an mich. Sie nickte anerkennend und ich antwortete in der gleichen Weise. Auch der nächste Punkt ging an mich. Doch dann konnte Sophie wieder ausgleichen. Jetzt ging es um den dritten, alles entscheidenden Punkt. Wir waren jetzt beide vorsichtiger, wollten uns keine Blöße geben und keinen Fehler begehen. Diese letzte Runde dauerte sehr lange. Es war ein Spiel, ein Abtasten, ohne sich dabei in Gefahr begeben zu wollen, sich gegenseitig immer beobachtend und belauernd, darauf wartend, dass der andere einen Fehler macht. Aber keiner von uns ließ sich provozieren oder aus der Deckung locken. Doch plötzlich sah ich meine Chance. Ich machte einen Ausfall und ich traf. Im gleichen Moment war ich mir aber auch bewusst, dass ich auch getroffen worden war. Und die Auswertung zeigte, dass wir uns absolut gleichzeitig getroffen hatten. Es konnte also keiner von uns diesen letzten Punkt für sich verbuchen. Vereinbart waren drei Treffer und dreimal hatten wir getroffen – jeder von uns! Eine Verlängerung gab es nicht, obwohl sich einige der vorlauten Herren dafür stark machen wollten. Aber andere stellten dann doch die Möglichkeit, dass ich verlieren könnte, in den Raum, und so verstummten auch die Antragsteller für die Verlängerung wieder. Nachdem auch Sophie und ich auf eine Verlängerung verzichteten, hatten wir also ein klassisches Unentschieden.
Sophie trat zu mir heran und wir reichten uns die Hände. Dabei fragte sie mich mit ihrer samtweichen Stimme und ihrem bezaubernden Akzent leise hinter ihrer Maske hervor: „Und, was wünscht Du Dir?“
„Ich habe nicht gewonnen“, antwortete ich unsicher, worauf sie entgegnete „Ich wünsche mir aber etwas!“
„Und was wäre das?“ fragte ich.
Sophie kam nah an mich heran, bis unsere Fechtmasken sich berührten und flüsterte: „Ich weiß, wer Du bist und möchte heute die Nacht mit Dir verbringen!“
Fast hätte es mir die Sprache verschlagen und mein Herz pochte mir bis in den Hals, als ich ebenfalls flüsternd antwortete: „Dann haben wir denselben Wunsch, Sophie!“
Wir nahmen die jetzt überflüssigen und lästigen Masken ab und sahen uns tief in die Augen. Unsere Lippen kamen sich langsam immer näher. Aber gerade, als ich Sophie küssen wollte, stürmten die beiden kompletten Fechtkurse, deren Anwesenheit ich im Moment vergessen hatte, auf uns ein und bombardierten uns mit Fragen, Glückwünschen und den Meinungen, selbst besser gefochten haben zu würden. Nur Hank nickte mir still anerkennend zu. Ich nickte zurück, dann flüsterte ich Sophie ins Ohr: „In fünf Minuten am Ausgang!“
In der nächsten Sekunde hatten wir uns schon den Weg in die Garderoben erkämpft und es waren wirklich noch keine fünf Minuten vergangen, als wir uns am Ausgang trafen, in Sophies Wagen stiegen und zu ihr fuhren. Keiner von uns hatte die obligatorische Frage gestellt: „Fahren wir zu Dir oder zu mir?“ Es hatte sich einfach so ergeben, dass wir zu ihr fuhren.

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 4412

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben