Bis zu jenem ungewöhnlichen Bibliotheksbesuch lebte Magnus Roth ein normales Leben. Er war knapp über dreißig, arbeitete sehr einträglich als Vertriebler für Computerhardware, was ihm in den zurückliegenden Boomjahren des Internets und des Neuen Marktes enorme Erlöse eingebracht hatte und fortlaufende Prämien auf Jahre hinaus sicherte. Seine Wohnung lag im begehrtesten Viertel der Stadt, nahe der Universität. Von seinem Balkon blickte er über die Pappelallee direkt in die kräftigen Baumkronen der Eichen und auf die mit Strauchpassagen durchmischten grünen Wiesenflächen des Nordparks. Roth wohnte als Single für sich allein. Er war athletisch gebaut, verfügte über einen eisblauen Schlafzimmerblick, dem Frauen nur selten widerstanden, und besaß noch dazu eine Leidenschaft für Kunst und teure Restaurants.
So brachte er häufig attraktive Frauen mit nach Hause, die sich im Bewusstsein über den Status des heiratsfähigen, gut verdienenden Mannes sehr erregt und offen präsentierten und die während des Liebesaktes eine kraftvolle, Roths Willen zur Freiheit betäubende Verführung verströmten.
Doch Roth blieb standhaft, blieb allein, genoss lieber die wechselnden Temperamente: die gut erzogene, leise wimmernde Hingabe; das mühsam unterdrückte, aber desto stärker hervorbrechende Stöhnen; die selbstbewusst ihr Recht fordernde Frau ...
Das reiche Angebot dieser anziehenden Geschöpfe, ob langbeinig den stolzen Körper biegend oder kräftiger gebaut, mit vollem Busen und weichen, sich anschmiegenden Formen, ließ ihn vor jeder festen Bindung zurückschrecken. Viel lieber betrachtete er diese Körper, nahm Gelegenheiten wahr, blickte besonders den jungen Frauen, den reifenden Mädchen schwärmerisch nach.
Dann kam jener Tag im April. Roth war geschäftlich unterwegs in einer kleinen, ihm aus Jugendzeit vertrauten Stadt; hier hatte er seine erste Ferienarbeit als Verkäufer gefunden. Sein Termin ließ ihm noch eine Stunde freie Zeit. So schlenderte er bei klarem, sonnigem Himmel die altertümlichen Gassen entlang. Vieles erkannte er wieder: die alte Räucherei, den Marktplatz mit seinen blank gelaufenen Pflastersteinen, das Kirchentor, an dem der große Reformator einst seine Thesen angeschlagen hatte. Es war schön, die Erinnerungen aufleben zu lassen, den unbeschwerten Blick des Jungen, aber es stimmte ihn auch melancholisch, an all die verflossene Zeit zu denken.
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