Das rote Haus mit dem Schieferdach

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Das rote Haus mit dem Schieferdach

Das rote Haus mit dem Schieferdach

Matthias Brockmann

Eine dieser langen, nicht endenwollenden Nächte. Robert liegt wach neben seiner schlafenden Frau, hat die Augen geschlossen und wartet. Wartet auf Schlaf oder einen Einfall zu einer Geschichte, die er sich erzählen kann, um sich die wache Zeit zu vertreiben. Wartet auf ein Bild, ein Bühnenbild eines Traumtheaterstücks, in welchem er auftreten, als Held agieren kann.
Eine dieser Nächte. Seit seiner Frühpensionierung erlebt er sie immer öfter. Wach neben seiner ruhig schlafenden Frau. Nur selten schnarcht sie, erst ein leises Röcheln, dann ein Schmatzen, drauffolgend ein rasselndes Gurgeln. Ein leichtes Berühren ihrer Bettdecke genügt und sie verstummt, atmet leise weiter, so als wäre nichts gewesen. Es wundert ihn jedes Mal aufs Neue, daß diese leichte Berührung der Decke von seiner Frau erspürt wird. Er schmunzelt, hört noch einige Züge ihrem Atmen zu, dann kehrt er zu der Suche nach einem geeigneten Traum zum Einschlafen zurück.
Gebirge. Ein weitläufiges Tal. Grau. Grau die Steine, die entfernt aufragenden Felswände, der Himmel. Kein Alpenwerbebild. Ein Mann wandert einem Holzsteg zu. Der Mann, das weiß Robert, ist er. Dumpf hallen die Schritte auf den Bohlen. Das Wasser des Baches ist grau wie die Pflanzen an seinem Rand. Auch die Blüten sind klein und grau. Mit geschlossenen Augen wach im Bett neben seiner schlafenden Frau verfolgt Robert die eigenen Schritte auf dem schmalen Pfad, der sich in unzähligen Windungen den Talhang hinaufzieht. Am Ende des Hangs, dicht vor einer steil aufragenden Felswand, steht eine Almhütte. Aus dicken Balken grob gezimmert, braunschwarz verwittert, mit weit ausragendem Dach aus Steinplatten, duckt sie sich unter dem mächtigen Fels. Für den einsamen Wanderer strahlt sie Geborgenheit aus, wird ihm Schutz in der Nacht geben.
In der Dunkelheit der Hütte schneidet kalter Rauch in die Lungen des Wanderers. Jahrhundertelang betriebenes Holzfeuer im Kamin hat die Steine mit einer dicken Rußschicht überzogen, Holzwände und Decke geschwärzt. Alles verströmt Stickigkeit. Das Feuer ist aus. Doch in der Hütte ist genügend Wärme für die Nacht. Vor dem einzigen Fenster, klein und die Scheiben seit Jahren ungeputzt, steht ein Tisch, davor eine Holzbank. Der Mann setzt sich. Robert spürt die Härte des Holzes. Der Mann legt seinen Kopf auf die aufgestützten Hände, schaut durch das Fenster in die Dunkelheit. Die Tischplatte riecht nach Speck. Erinnert den Mann, daß er Hunger verspüren müßte. In seinem Rucksack ist Proviant, Brot und Speck. Doch er ist zu faul, sich zu bewegen. Starrt weiter hinaus in die Dunkelheit, die für ihn durch die Gewöhnung durchdringlicher wird. Erst ist es nur ein kleiner Punkt, der größer wird, sich auf die Hütte zubewegt. Aus dem Punkt wird eine schwarze Fläche, die sich vor dem Hintergrund abhebt. Wird größer, länglicher, wird eine Gestalt, eine menschliche Gestalt. Wird größer, unterscheidbarer. Zwei Beine, der Kopf. Langes gelocktes Haar. Eine Frau. Deutlich hebt sie sich jetzt von der Umgebung ab. Sie muß schönes Haar haben, denkt der Mann, noch immer seinen Kopf in den aufgestützten Händen. Mit dem nächsten Schritt verschwindet die Frau aus seinem Blickfeld. Die Tür schreit in den verrosteten Angeln. Ein kühler Zug klarer, kalter Luft umweht ihn für den kurzen Augenblick bis zum nächsten Quietschen der Tür, läßt ihn erschauern. Die Silhouette der Frau steht kurz vor dem äußeren Grauschwarz der Nacht. Einige dumpfe Schritte. Ein Rascheln. Wahrscheinlich vom Rucksackabnehmen. Wieder Stille. Robert sieht den Mann weiter unbeweglich vor dem Fenster sitzen und hinausschauen. Die Frau hat sich auf eine Bank im hinteren Teil der Hütte gesetzt. Sie sitzt im Rücken des Mannes, ist für ihn nicht sichtbar. Der Mann hört ihren Atem und nimmt einen fremden, warmen Geruch in seiner Nase wahr.

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