Der lange Flur des Hochhauses lag in tiefem Dämmerlicht. Wieder einmal waren diverse Birnen kaputt, funktionierten nicht einmal die Hälfte aller Lampen. Der Hausmeister schien sich einen Dreck darum zu kümmern. Ihm war es wichtiger, seine Werkstatt in Schuss zu halten und hin und wieder dumme Sprüche abzulassen oder uns Frauen blöde anzugrienen. Aber die Miete war billig, und niemand kümmerte sich um den anderen. Anonymität pur in einem Haus mit über 100 Bewohnern. Grotesk. Man sah sich am Morgen im Lift, oder am Abend in der Tiefgarage. Ansonsten verschwand man lieber in seiner Wohnung, schloss die Tür hinter sich und hatte seine Ruhe. Wen kümmerte schon das ältere Ehepaar aus dem dritten Stock? Oder die Schülerin im Fünften? Jeder für sich gegen den großen Rest. So wie ich es liebte.
In meinem Job konnte ich mir auch keinen zu großen Bekanntenkreis leisten. Als Callgirl hat man ohnehin nicht viele wirkliche Freunde. Jene, die nicht wissen, womit man seinen Lebensunterhalt verdient, müssen in Watte gepackt werden. Sofern sie es Wert sind. Und jene die es wissen, halten meist eine gewisse Distanz. Vor allem im Zeitalter von AIDS. Was bleibt, ist ein kleiner Rest wackerer Menschen, die einen nehmen, wie man ist. Ohne Vorurteile oder Ablehnung. Meist sind es Leute, die weder an einen Gott noch an sonst eine höhere Gerechtigkeit glauben. Menschen eben.
Es war kurz vor fünf, als ich an jenem Morgen zu meinem kleinen Appartement ging. Eine stressige Nacht lag hinter mir. Eine Nacht voll Champagner und Erdbeeren, Sex und Leidenschaft. Und Geld. Fast viertausend US-Dollar steckten in meiner kleinen Tasche. Lohn für geleistete Dienste, die nicht nur meinem Kunden gefallen hatten.
Es gibt einen Unterschied zwischen den Frauen auf der Straße, die Nacht für Nacht am Bordsteins stehen und nach potentiellen Kunden Ausschau halten, und Frauen wie mir. Dank meines Aussehens konnte ich es mir leisten, ein recht großzügig ausgestattetes Appartement zu bewohnen, in Wirtschaftszeitungen zu inserieren und Hotelbesuche zu machen. Das Wichtigste aber: ich suchte mir meine Kunden aus. Nicht umgekehrt. Wer mich wollte, zahlte einen hohen Preis. Fünfhundert pro Stunde Minimum. Und das war nur der Grundpreis, für den ich nicht einmal ins Hotel fuhr. Es durfte ruhig etwas mehr sein. Aber das nur nebenbei.
Demut
13 7-12 Minuten 0 Kommentare

Demut
Zugriffe gesamt: 11198
Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.