Der Zettel

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Der Zettel

Der Zettel

Yupag Chinasky

Den Tag verbrachte er mit einem Besuch im Thermalbad. Es war zwar voll, aber da es ziemlich groß war, störten ihn die Menschen nicht. Ein paar Saunagänge, ausgiebig schwimmen in der Halle und im Freiluftbecken, ausgiebig ruhen. Dann wieder in die Stadt, wieder etwas Sightseeing, zwei Museen, eine Sonderausstellung mit bemerkenswerten Fotos und natürlich noch einmal ein Besuch des Stadtfestes. Immer wieder musste er an die Frau beim Frühstück denken und über ihre rätselhafte Bemerkung. Er hoffte, dass er sie tatsächlich noch einmal sehen würde, dass sie nicht doch schon abgereist sei. Er malte sich aus, wie er mit ihr ins Gespräch kommen würde, wie er vorschlagen würde, am nächsten Tag ein paar Dinge gemeinsam zu machen. Mehr wagte er sich gar nicht vorzustellen, vor allem nicht, dass sie auch die Nacht zusammen verbringen könnten. Am Abend beschloss er, nicht zuletzt aus diesem Grund, im Hotelrestaurant zu essen. Er hatte sich die Speisekarte angeschaut, die beim Frühstück ausgelegt war, und war recht angetan, sowohl vom Angebot als auch von den Preisen. Es sollte ein gutes Menü sein mit reichlich Wein und dem großen Vorteil, anschließend nur noch ein paar Schritte bis in das Zimmer machen zu müssen. Das Restaurant machte einen besseren Eindruck als das Hotel selbst. Der Raum war nicht groß, aber mit modernen Möbeln geschmackvoll eingerichtet. Seltsamerweise hing an der Eingangstür ein Schild, das er erst jetzt bemerkte. „Nur für Hotelgäste oder nach Reservierung“. Das Restaurant war gut besucht, einige Männer in Begleitung von auffallend jungen Frauen, manche aber auch allein und auch ein paar Frauen ohne Anhang, die aber ausnahmslos schon gegessen zu haben schienen. Er war enttäuscht, dass seine Frühstücksfrau nicht unter ihnen war. Er wählte das Menü sorgfältig aus, bestellte. Aperitif, Vorspeise und Hauptgang, dazu passende Weine, das Angebot war gut sortiert, wie er mit Kennerblick feststellte. Später würden auch noch Nachtisch und Kaffee dazu kommen und ein Digestif oder ein schwerer Rotwein, je nach Gusto. Und dann trat doch noch das ein, was er erhofft und sich gewünscht hatte oder besser gesagt, sie trat ein, die Frau vom Frühstück, unverändert, in der gleichen Kleidung, mit dem gleichen etwas verträumten Gesichtsausdruck. Sie ging, ohne sich groß umzuschauen zu einem Tisch am anderen Ende des Raums, an dem schon eine andere, einzelne Frau saß und beide begannen sogleich, intensiv miteinander zu reden. Er war etwas enttäuscht, dass sie sofort in Beschlag genommen war und dass es kaum eine Möglichkeit geben würde, mit ihr ins Gespräch zu kommen, geschweige denn, ihr Vorschläge zu machen. Vielleicht, so hoffte er, ergab sich nach dem Essen noch eine Gelegenheit, aber, gestand er sich ein, eigentlich war er nicht der Typ, der Frauen ansprach, sie anmachte, sie aufriss. Er war eher jemand, der angesprochen werden wollte, was leider sehr selten geschah, doch gerade an diesem Abend geschah etwas, das zumindest sehr ähnlich war. Er war schon beim Dessert und spürte die Wirkung der Alkoholika, die seinen Verstand leicht eingenebelt und ihn in eine recht gute Stimmung versetzt hatten, als die Frau aufstand. Er bemerkte es sofort, weil er gerade in ihre Richtung geschaut hatte und nun schien sie ihn auch zu bemerken, denn sie kam auf ihn zu, ging aber leise lächelnd an seinem Tisch vorbei, genauso wie schon beim Frühstück, nur das sie diesmal nicht zum Ausgang ging, sondern zu den Toiletten, obwohl sie, um dorthin zu gelangen, nicht an seinem Tisch hätte vorbeigehen müssen. Aber sie hatte es getan, weil sie noch etwas anderes getan hatte, das ihn wieder sehr überraschte. Diesmal war es nicht eine Bemerkung, sondern der eng gefaltete Zettel, der neben seinem Teller lag.

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