Leichter Nieselregen hatte eingesetzt, seit sie vor gut 20 Minuten ihre Heimatstadt verlassen hatte. Die Dämmerung setzte ein und die Lichter im Abteil glommen auf. Der Zug ratterte über vereinsamte Gleise. Noch gut fünf Stunden Fahrt lagen vor ihr. Sie bettete Ihren Kopf auf die mehr oder weniger bequeme Kopfstütze ihres Sitzes, lächelte traurig und nachdenklich.
Ob ihr das Seminar fachlich weiterhelfen würde? Zwar kostete sie die Teilnahme nicht übermäßig viel Geld, schließlich war sie in einem Berufsverband, aber vor allem Zeit musste sie dennoch investieren. Zeit, die sie eigentlich nicht hatte. Zeit, die ihr für ein erfüllendes Privatleben schon lange fehlte. Sie zuckte mit den Achseln und versuchte sich zu überzeugen: Als Journalistin muss ich mich ständig weiterbilden und ein Seminar zum Thema „Recherche im Internet und Schreiben für das neue Medium“ ist für mich elementar. Immerhin will ich in diesem Bereich Fuß fassen.
Ihr Abteil in der 1. Klasse war leer. Überhaupt schien um diese Zeit kaum ein Fahrgast den Zug zu bevölkern. Sie wühlte in ihrem Rucksack und förderte einen kleinen Discman zu Tage und drückte die mit weichem Schaumstoff überzogenen Ohrstöpsel sanft in ihre Ohrmuschel. Sie löste ihre Spange und langes braunes Haar wallte ihr über die Schultern. Sie kuschelte sich in ihren Sitz und lauschte der Musik. Die träumerisch-verliebten Klänge machten ihr bewusst, wie einsam sie sich fühlte. Sie hatte keinen „Angel“, der zu Hause auf sie wartete. Ihre Augen glänzten traurig. Trübsinnig hing sie ihren Gedanken nach, als ihre Abteiltür plötzlich geöffnet wurde.
„Entschuldigen sie bitte, ist hier noch frei?“ Ein großer, schlanker Mann stand vor ihr und lächelte sie höflich an. „Natürlich“, antwortete sie verlegen und nahm ihre Beine von dem gegenüberliegenden Sitz.
Verstohlen musterte sie den Fremden. Er war gekleidet wie ein Geschäftsmann. Dunkelblaues Sakko, gewagte gelbe Krawatte, schwarze Hose mit passenden glänzenden Lederschuhen. Er stellte seinen kleinen Aktenkoffer auf den Sitz neben der Tür und ließ sich ihr schräg gegenüber nieder. Muskulöse Oberarme zeichneten sich durch sein seidenes Hemd ab, als er sein Jackett ablegte. Sein schulterlanges schwarzes Haar war am Hinterkopf zusammen gebunden. Der kleine Spitzbart wirkte verwegen. Seine grün-blauen Augen tasteten millimeterweise über ihren Körper und sie erschauderte innerlich.
Der Fremde im Zug
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