Deutsche Weihnacht 2000

4. Episode

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Deutsche Weihnacht 2000

Deutsche Weihnacht 2000

Matthias von Schramm

Erst auf dem Schoß von Tante Mathilde gesessen, dann am Tisch. Meine Zähne leuchteten. Dazwischen der Metallpart der Spange. Geschmack der Suppe körnig. Die kurzen Lederhosen saßen stramm. Vater zitierte aus Weisheiten von Mutters Brautführer damals. Dieser Kerl war Vaters Schwiegervater gewesen und ein Schlappschwanz. Hatte keinem guten Gespräch über die Wehrmacht standgehalten. Es dudelten die Fußballergebnisse aus England herein über den Lautsprecher des Volksempfängers. Vater meinte, dass der einfach keine Haltung habe der Tommy, recht verweichlicht dieses Inselvolk. Mathilde nickte höflich und hielt ihren geblümten Hut fest.
„Alte Fregatte!“, murmelte Vater leise und schenkte mir ein gutes Glas Braunbier ein.
„Hol den Schinken, Weib! Wir wissen auch zur heiligen Nacht, wo wir stehen!“, geruhte er im Befehlston mit Mutter zu sprechen. Mit blitzblanker Schürze umwickelt machten sich die dünnen Stelzen von Mutter auf den Weg. Josephine und Arnold, meine beiden älteren Geschwister beschossen sich mit der Munition ihrer ausgedrückten Pickel.
„Dem Feind fest ins Auge blicken!“, kommentiere dies Vater. In der Pause der Sportberichterstattung erklang Britney Spears aus dem Radio. Ich bewegte meinen Fuß zum Rhythmus der angelsächsischen Musik.
„Mach doch den Niggerjazz aus“, sagte Vater, „musst Du doch selber merken, Junge.“ Nach den Schinkenbroten wurde Pudding gereicht. Tante Mathilde verabschiedete sich. Es sei schön gewesen wie jedes Jahr, wie sie meinte. Vater bot ihr an, sie zu fahren, schließlich wäre ja dieses ganze Türkenpack draußen, die vorzugsweise ältere Damen überfallen würden mit ihren Knoblauchwürsten und ihrem Fetakäse.
Doch die Türken hätten wenigstens noch Mumm, wie Vater meinte und das mensch ihnen das zugestehen müsse. Ein stolzes Volk eben. Freundlich wollte Tante Mathilde Vater nicht zumuten, dass er sie im dunklen fährt. Sie würde schon aufpassen.
„Ein herrlicher Baum!“, schnaufte Vater und schüttete den dritten Korn die Kehle hinab, dabei spiegelten sich seine alkoholisiert glänzenden Augen in den Lamettafäden.
Ich sah nach draußen aus der großen Thermopanescheibe unseres wunderbar warmen Wohnzimmers. Vater formulierte weiter an einem Brief für den Bundespräsidenten gegen das NPD Verbot. Der humanistische Gedanke wäre gar nicht zu verachten, wie Vater immer meinte. Draußen lag der Schnee fingerdick wie Wundsalbe auf den Straßen. Vor unserem Garten spielten ein paar türkische Kinder aus meiner Klasse. Die meisten Freunde von mir. In der Ferne war Susann auszumachen, die sich schüchtern von unserem Haus fern hielt. Sie war Zigaretten für ihren Vater holen. Ich mochte sie, aber mehr nicht. Sie war von Vater dazu auserkoren für mich später mal, wenn wir Heiratsreif sind, die Haxen breit zu machen.
Mein Vater berührte sanft meine Schulter.
„Kennst Du jemanden der Creutzfeldt-Jakob hat?“, fragte er. Ich schüttelte traurig mit dem Kopf.
„Siehst Du mein Junge!“, sagte Vater.

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Im Parterre wohnen, bedeutet der direkte augenhohe Blick auf das Fleisch des Bürgersteiges. Rupert wohnte seit einem Jahr so in Hamburg-Wellingsbüttel.
Nach innen hatte er die Fenster leicht vergittern lassen, damit sich der Blick von der auslaufenden Stadt abgeschottet fühlen konnte. Der Schneefilz wucherte über den Vorgartenpilzen und Dornen. Es war sein achtzehntes Weihnachten alleine. Er hatte sich einmal vorgenommen mit vierzig am Heiligen Abend vor das Haus zu gehen und in den Himmel zu blicken. So wie Silvester, wenn der Rentner von nebenan seinen fortwährend vor Angst scheißenden Rauhaardackel ausführte und dieser Gebirge fabrizierte zwischen dem Raketenabfall.
Im langen Ledermantel machte sich der Hausmeister vom Hof. Er war ein Mensch der widerborstig erschien und Rupert skeptisch machte. Das Gerücht ging um, er würde die Ehefrauen im Block auf den Dachboden verschleppen und wenn diese sich sanft zu Wehr setzten und in ein hohes Kichern verfielen nackt in Fesseln legen, selbst dabei lange schwarze Handschuhe tragend. Der Tee war alle, Wachs hatte sich auf die Weihnachtssterne von Ruperts Mutter gelegt. Ihr letzter Anruf klang vielversprechend, dass sie es mit der Liebe zu ihrem Sohn endlich ernst meinen würde. Drum haben sich beide zum Abschied angeschrien, wie immer vor Weihnachten, woraus der Vorwurf der Mutter hervorging, dass er sie immer allein ließe. Zum ersten Mal hatte das ehrlich geklungen.
Als gegen 15 Uhr die Türglocke zu hören war, erbebte Rupert innerlich. Er schaltete das Radio ab, schlich zur Tür und öffnete. Stimmlos begrüßte er die junge Nachbarin. Sie trug eine rote Weihnachtsmütze, lächelte aus ihrem blonden Wuschelkopf und schenkte Rupert eine Tafel Schokolade. Sie sagte, dass sie frohes Fest wünschen wolle und sich auf diese Weise mal vorstellen mochte bei den Hausbewohnern. Rupert dachte an die drei Öffnungen, die ihm bezüglich einer Frau sofort einfielen: Mund, Vagina und After.
Der Mund: Ausdruck der Sprache, freundliche Leistung und Anerkennung im Respekt zum andern. Die Sehnsucht, dass glänzender Lippenstift süß wie seine Erdbeerfarbe schmeckt. Das die Haut darüber Falten wirft und die lachenden Zähne leuchten und besagen, dass doch alles gut werden möge.
Die Vagina: Gesicht gegenüber Gesicht beim kopulieren. Zuwendung durch die Einstichpunkte der Welten Lohn. Dabei der Blick aneinander vorbei und in Höhe der Lenden brennender Schnee. Weihnachtsbaumnadeln auf der Haut. Das Gegengewicht zweier satter Bäuche - Der After: Das Ende vom Mittelpunkt des Leibes, der schier den falschen Liebesblick verdaut. Darum nur rudimentäre hautenge Schönheit. Der Einlauf als Gegenfluß zwischen Ohr und Arsch.
„Frohe Weihnachten!“, sagte Rupert flüsternd. Die Nachbarin zog sich mit ihrem Busen zurück, nachdem sie für eine Sekunde geglaubt hatte, dass sie eine Berührung wünsche.

Die Gesamthochschule Essen galt im Schnee von Nordrhein-Westfalen als berührte Landschaft. Das Gebäude erinnerte mich an meine ehemalige Gesamtschule, nur größer. Franz erklärte mir, dass mensch hier keine Psychologie studieren kann, nur in Bochum oder in Köln, schließlich sei das ja eine Gesamthochschule. Draußen standen ein paar Jungstudenten in Bonbonjacken die ganz aufgeblasen waren, da der Wind auch kontinentale Ebenen erreichen konnte und schließlich hatte mensch ja auch die Ruhr und den Hafen, ha ha ha. Die Jungstudenten unterhielten sich in Weihnachts SMS und wärmten sich an finnischen Handys wie an finnischen Saunen. Wir warteten auf Karita, Franz seine Freundin, die in der Gesamthochschule Sozialpädagogik studierte. Dadurch hatte sie viel Zeit zum jobben neben dem Studium, wie Franz augenzwinkernd bemerkte.
Karita kam ein gläsernes Treppenhaus herunter geeilt. Ihre Haare standen vor der Tür augenblicklich tiefbraun im Wind. Sie lud uns silberblickend in die Mensa ein, denn schließlich gab es heute die Gänsekeule mit Rotkohl und Kartoffelpampe. Darüber eine hellbraune Soße, die in etwa wie Speisestärke und Angebranntes schmeckte. Über der Keule war so eine Glasur, die an Schweinskopf erinnerte. Ich war sehr begeistert, denn ersma vom Knochen gelöst, wurde eine wirklich appetitliche rosa Fleischfarbe sichtbar. Das Fleisch schmeckte nach nichts, wir ließen es auf dem Teller in der fettäugenden Soße schwimmen, gegen die schon demonstriert wurde, wegen der Farbe in der Hauptsache. Wir langten dafür in der Salatbar reichlich zu. Ein streitbarer Kommilitone setzte sich mit Weihnachtsmütze an den Tisch und verteilte Schokolade. Er stritt mit Karita heftig über die Erbärmlichkeit der Weihnachtsrituale im Unibetrieb. Karita streckte ihm den Mittelfinger entgegen, sprang wütend auf und erklärte uns, dass sie kotzen gehen müsse. Karita kam so schnell nicht wieder. Franz erzählte mir überaus gutmütig lächelnd, dass mensch bei der Tablettabgabe nicht ohne Anschiß davon käme. Da stand eine füllige Schwester Oberin mit militärischem Blick. Prompt wurde ich angeblafft, dass ich das Tablett falsch rum auf das Fließband gestellt hätte, obwohl das ganz offensichtlich scheißwurstegal war.
„Hurra, ich hab meinen Anschiß!“, rief ich vergnügt aus. Die Schwester Oberin warf mit meinen Essenresten samt Soße erzürnt nach mir, verfehlte mich aber und traf die weiße Bluse einer zart besaiteten Musikstudentin, die sofort sehr melodiös weinte.
Plötzlich stand Karita wieder bei uns, worüber wir sehr froh waren und so gaben wir ihr beide synchron einen Schmatz auf die Wangen.

Die Spazierwege in Kleinflottbek konnten lang und verwinkelt sein. Der erste Schnee war gefallen und ich wußte ausgesprochen sicher, dass dies Nina freuen würde. Ich hatte sie von ihrem Elternhaus abgeholt, wie ich es einst täglich tat, als sie noch in den Kindergarten ging. Der Vater grüßte mich sparsam. Sie trug einen Muff für die Hände und eine Sturmkapuze mit Fell drin. Ihre rosa Bäckchen glühten. Sie gab mir die Hand. Wie kalt es ist, merkten wir beide jetzt erst. Und Nina war seit dem Tod ihrer Mutter auch viel ernster geworden. Ich wollte die Rolle als ihr väterlicher Freund schon aufgeben, obwohl ich gerade genau doppelt so alt war wie Nina, dieses Jahr. Sie war tatsächlich achtzehn geworden. Sie hatte mir Gedichte berühmter Literaten in bunten Umschlägen geschickt.
Gerade als ich dachte, sie wäre so erwachsen, meinte sie zu mir, ich solle doch auf sie aufpassen. Schließlich ging ihr die zerstrittene Familie nicht nur ungeheuer auf den Wecker, sondern ihr ging das auch nah.
„Warum bist Du aus der Kirche ausgetreten, Jonathan?“, fragte sie mich ernst, „jetzt wo Weihnachten ist, da müßte Dich doch diese Entscheidung quälen?“ Ich schüttelte mit dem Kopf und kam mir in diesem Moment auf eine sehr blöde Weise überlegen vor.
„Es ist nicht die Kirche, es ist die Atmosphäre!“, sagte sie. Das wußte ich natürlich. Nina rauchte eine Zigarette und fragte mich dabei, ob ich mit ihr auf der Straße tanzen möchte.
„Warum sind manche Menschen so dumm und andere so schlau?“, meinte sie, als wir eine Runde Walzer tanzten und sie ihre Kapuzenwange an meine Schulter lehnte. Mich beklemmten diese Fragen in dieser Grundsätzlichkeit.
„Ruf Doderer an!“, sagte ich. Sie reichte mir beide Hände nackt und knochig und lächelte fast froh. Adventskerzen schienen aus ihren Augen zu flimmern. Aber sie sagte mir, als ihre rosa Wangen immer runder wurden, dass sie so alleine wär. Dieses Weihnachten wollte sie ihrem Vater zu verstehen geben, dass sie ihn nie verstehen will.

(für Doderer)

(Deutsche Weihnacht 2000 wurde gesponsert von © MVS Litera-Tour)

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Gedichte auf den Leib geschrieben