Die Nachricht

Chef mailt nach Feierabend - Teil 1

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Otto Eric Riess

Die Nachricht

„Endlich Feierabend“, seufzt Dörte erschöpft, als sie am Nachmittag ihre Wohnung betritt. Der Arbeitstag war anstrengend. Sie geht in die Küche und setzt Wasser auf, um sich einen Tee zu kochen. Als das Wasser kocht und sie den Tee aufgießen will, vibriert ihr Smartphone. Der Klingelton lässt erkennen, dass eine E-Mail eingegangen ist. Sie stellt den Wasserkocher ab und öffnet das Mailprogramm, um einen Blick auf die Nachricht zu werfen. Eine Markierung weist sie als wichtig aus. Absender ist „Chef“. Der Betreff lautet schlicht: „Heute Abend.” Dörtes Herz macht einen Sprung. Sie ahnt, dass der Tag ihr noch etwas zu bieten haben wird. Mit einem Schlag ist ihre Müdigkeit verflogen.
„Chef“ ist Olav, Dörtes Lebensgefährte. Den Namen “Chef” hat sie ihm nicht nur in ihrem Adressbuch gegeben. Auch in ihren Gedanken nennt sie ihn oft so. In Wahrheit ist er kein Chef, jedenfalls kein richtiger. Als Beamter im höheren Dienst leitet er zwar eine kleine Abteilung und hat eine Sekretärin, die ihm zur Seite steht. Trotzdem ist er nur ein Rädchen im Getriebe seiner großen Behörde. Mehrere Vorgesetzte machen ihm Vorgaben, die er umsetzen muss. Dörte weiß über diese Verhältnisse Bescheid. Doch für sie ändert sich dadurch nichts. Olav ist ihr “Chef”, wann immer er es sein will. Seit er weiß, dass Dörte es schätzt, wenn er ihr gegenüber in diese Rolle schlüpft, kommt es zunehmend häufiger vor. Dörte hat es mit Wohlgefallen registriert. Sie genießt es, wenn er ihr Geschick in die Hand nimmt, ihr vorgibt, was sie zu tun hat und sie sich seinem Willen unterordnen kann.
Ohne die Mail gelesen zu haben, ist sich Dörte sicher, dass er heute wieder als ihr Chef auftreten will. Sie bekämpft ihre Neugier, gießt den Tee auf und trägt ihre Tasse ins Wohnzimmer, wo sie sich in einen Sessel fallen lässt. Sie hält kurz inne, um tief Luft zu holen, bevor sie die Nachricht öffnet. Mit wachsendem Herzklopfen liest sie den Text. Ohne sich mit einer Anrede aufzuhalten, kommt “Chef” direkt zur Sache: „Bade, mach dich schön. Zieh den langen schwarzen Mantel an, Deine High Heels. Sonst nichts. Nimm den Bus um 20:03 Uhr. Während der Fahrt stellst Du Dich in die Nähe des Ausstiegs. Ich erwarte Dich um 20:30 Uhr in meinem Büro. Klingele am Gebäudeeingang. Ich werde öffnen.“
Olavs Instruktionen sind wie immer klar und präzise. Dörte liest sie drei Mal. Hitze wallt in ihr auf, ihre Wangen glühen. Stets bleibt sie an der gleichen Stelle hängen: „Deine High Heels. Sonst nichts.“ Wie ein Mantra graben sich die fünf Worte in ihre Hirnrinde.
Ihre Gedanken wirbeln durcheinander. Was denkt er sich dabei? Er weiß doch, dass sie keinerlei Neigung zu exhibitionistischen Handlungen hat. Wie kann er da erwarten, dass sie erfüllt, was er verlangt? Um sich nahezu nackt in die Öffentlichkeit zu begeben, würde sie Mut benötigen. Mut gehört aber nicht zu ihren hervorstechenden Charaktermerkmalen. Glaubt er wirklich, dass sie in der Lage ist, ihre Skrupel zu überwinden? Und wenn sie es wagte: Welche Risiken ginge sie ein?
Ratlos starrt Dörte auf das Smartphone in ihrer Hand, während sie hin und her überlegt, wie sie reagieren soll. Dass sie ihrem Chef vertrauen kann, bezweifelt sie keinen Augenblick. Er wird ihren Gehorsam nicht missbrauchen. Davon ist sie felsenfest überzeugt. Bisher hat er auch immer erstaunlich gut eingeschätzt, was er ihr zumuten kann, und sie hat es nicht einmal bereut, seinen Wünschen entsprochen zu haben. Trotzdem ist ihr unbehaglich, wenn sie sich vorstellt, nur mit einem Mantel bekleidet das Haus zu verlassen.
Je länger sie nachdenkt, desto wichtiger erscheint ihr, Olav nicht zu enttäuschen. Ihn zu entmutigen, will sie unbedingt vermeiden. Wenn er ihr zuliebe die Rolle als Chef übernimmt, muss er sich auf ihren Gehorsam verlassen dürfen. Feigheit ist kein akzeptabler Grund, sich zu weigern und der ernsthafte Versuch, seine Vorgaben zu erfüllen, das Mindeste, was er erwarten darf. Daher wird sie sich überwinden und ihre Bedenken ignorieren müssen. Als sie diesen Beschluss gefasst hat, erfüllt sie eine undefinierbare Mischung aus Stolz, Angst, Aufregung und Vorfreude.
Ihre Erwägungen haben Dörte den Tee völlig vergessen lassen. Als sie ihn trinkt, ist er sehr stark und nur noch lauwarm. Doch sie merkt es kaum. Ihre Gedanken kreisen beständig um das bevorstehende Abenteuer.
Der Nachmittag vergeht langsam. Dörte isst eine Kleinigkeit und macht etwas Hausarbeit. Die meiste Zeit vertrödelt sie, weil sie unfähig ist, sich auf sinnvollere Tätigkeiten zu konzentrieren. Gegen 19:00 Uhr badet sie. Anschließend stylt sie ihre Haare und trägt Make-up auf. Nackt schlüpft sie in ihren langen Mantel und stellt sich vor den Spiegel. Was sie sieht oder vielmehr, was sie nicht sieht, beruhigt sie. Der Mantel verbirgt ihren Körper perfekt, nichts zeichnet sich ab. Nur ihre schlanken Fesseln schauen hervor. Wenn sie ihn vollständig zuknöpft, ist nicht zu erkennen, dass sie auf Kleidung verzichtet.
Einige Minuten früher als nötig, steigt sie in die High Heels und macht sich auf den Weg. Als sie aus dem Haus tritt, hüllt Dunkelheit sie ein, da die Straße nur von wenigen Straßenlaternen beleuchtet wird. Auch Passanten sind kaum noch unterwegs. Dörte registriert es mit Erleichterung. Weil sie die hohen Schuhe nur selten trägt, geht sie langsam und vorsichtig. Das Geräusch der bei jedem Schritt auf den Straßenbelag klackenden Absätze kommt ihr unangenehm laut vor. Es schürt ihre Sorge, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mehrfach schaut sie sich um und ihr Blick wandert von einer Straßenseite zur anderen. So bemerkt sie vor sich einen jungen Mann, der sich nach ihr umgedreht hat. Beunruhigt beobachtet sie ihn, während er weitergeht. Erst, als er in einer Seitenstraße verschwindet, atmet sie auf.
Dörtes Nervenkostüm ist angespannt, ihre Sinne reagieren äußerst sensibel. Mit jedem Schritt, den sie macht, bewegt sich der Stoff ihres Mantels und streicht über ihre Brustspitzen. Je mehr sie sich darauf konzentriert, desto deutlicher spürt sie die Reibung. Von dem stetigen Reiz haben sich ihre Nippel bereits aufgerichtet. Als Dörte es realisiert, schaut sie alarmiert an sich herunter. Doch es ist nichts zu sehen. Nichts drückt sich durch. Der Mantel verbirgt auch dieses kleine Geheimnis.
In dem Versuch, ihre Aufregung zu bekämpfen, atmet Dörte betont ruhig und setzt kontrolliert einen Fuß vor den anderen. Immerhin ist die Bushaltestelle nicht weit entfernt und das Ende ihres Spießrutenlaufs absehbar. Trotzdem kann sie nicht verhindern, dass sie die Reibung an ihren verhärteten Brustspitzen mit jedem Schritt intensiver wahrnimmt. Bis in ihr Geschlecht setzt sich die zarte Stimulation fort, die der Mantel bewirkt. Überrascht stellt Dörte fest, dass sie bereits feucht ist.

Busfahrt

Um den Bus auf keinen Fall zu verpassen, ist Dörte früh losgegangen. Als sie die Haltestelle erreicht, wartet dort noch niemand. So kann sie sich aussuchen, wohin sie sich stellt. Weil sie möglichst unbeachtet bleiben möchte, wählt sie einen Platz etwas abseits, der auch nur spärlich erhellt wird. Nach und nach treffen weitere Personen ein. Es sind vor allem junge Leute, die ins Kino oder zum Feiern in die Innenstadt wollen und kaum von ihr Notiz nehmen.
Als der Bus hält, lässt Dörte allen den Vortritt und steigt als Letzte ein. Obwohl genügend Sitzplätze frei sind, geht sie zu den Stehplätzen im hinteren Drittel des Busses. Nach kurzer Zeit erkennt sie, warum Olav eine Vorgabe gemacht und ihr für die Busfahrt diesen Ort zugewiesen hat: Er bezweckt, ihr ungewollte Aufmerksamkeit zu verschaffen. Weil sich die Stehplätze direkt gegenüber von den Ausstiegstüren befinden, sind sie besonders gut beleuchtet. Jedes Mal, wenn sich an einer Haltestelle die Türen öffnen, steht Dörte im Lichtschein. Wer zusteigt und sich nach einem Sitzplatz umschaut, erblickt sie, und wer aussteigen möchte, muss an ihr vorbeigehen.
Dörte kann nicht verhindern, dass Olavs Plan aufgeht. Schnell kommt sie sich an ihrem Platz vor wie auf einem Präsentierteller. Ständig ist sie Blicken ausgesetzt. Sie nimmt sie quasi körperlich wahr, wenn sie auf ihr ruhen. Unter anderen Umständen hätte sie die Beachtung kaum bemerkt, die sie erfährt. Doch so erlebt Dörte sie bewusst. Außerdem erscheint ihr die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zieht, sexuell aufgeladen. Denn, obwohl es lächerlich ist, wird sie das Gefühl nicht los, die Leute durchschauten ihren frivolen Aufzug. Jedes Lächeln oder Schmunzeln wirkt auf sie verdächtig. Zu wissen, dass ihr Mantel ein effektiver Schutzschild ist, hilft ihr wenig.
Dörte versucht, sich beherrscht und gleichgültig zu geben, auch wenn sie am Erfolg zweifelt. Sie ist zu nervös. Still zu stehen, fällt ihr enorm schwer und sich zu entspannen, gelingt ihr nicht. Die Frage, was die Leute von ihr denken, beschäftigt sie. Überlegen sie, warum sie als Einzige steht, statt sich auf einen der vielen freien Plätze zu setzen? Das scheint ihr naheliegend. Welche Erklärung haben sie dann für ihr Verhalten? Halten sie sie für eine Tussi, die sich aufgetakelt hat, weil sie bewundert werden will, oder ahnen sie die wahren Beweggründe? Beide Alternativen gefallen ihr nicht.
Verstohlen mustert sie die Fahrgäste, die ein- oder aussteigen. Mehrfach glaubt sie, Interesse in den Mienen von Passagieren aufflackern zu sehen, wenn sie sich ihr zuwenden. Aber dann setzen sich die fremden Menschen auf ihre Plätze oder gehen an ihr vorbei, ohne sie weiter zu beachten. Jedoch meint Dörte, zwei Ausnahmen entdeckt zu haben: Ein einzelner älterer Mann, der in der letzten Reihe des Busses sitzt, hat sie ungeniert angestarrt, als sie zu ihrem Platz gestöckelt ist. Sie glaubt, immer noch von ihm beobachtet zu werden. Weil es hinten im Bus dunkler ist als an ihrem Platz, kann sie den Mann nicht gut genug sehen, um Gewissheit zu haben. Deswegen kann sie nicht völlig ausschließen, dass ihre überreizten Sinne ihr einen Streich spielen.
Keinen Zweifel gibt es dagegen bei einem anderen Fahrgast. Er ist mittleren Alters, sitzt Dörte schräg gegenüber und wird von einer Frau begleitet. Er hat schon so oft zu ihr herübergeschaut, dass seine Begleiterin aufmerksam geworden ist. Dörte hat gesehen, wie sie ihm einen Knuff mit dem Ellenbogen verpasst hat. Danach ist er vorsichtiger geworden. Doch sie fängt nach wie vor heimliche Blicke von ihm auf.
Das kaum verhohlene Interesse der fremden Männer nimmt Dörte als aufdringlich wahr. Aber gleichzeitig fühlt sie sich auch geschmeichelt. Sie kann es nicht fassen, doch ihr gefällt die Vorstellung, die Männer in ihren Bann gezogen und in gewissem Sinne Macht über sie zu haben. Seltsam verwegen kommt sie sich vor. Ob sie genauso empfände, wenn sie Alltagsklamotten tragen würde? Dörte bezweifelt es. Sie kommt nicht umhin, ihren Chef dafür zu bewundern, wie es ihm gelingt, sich Szenarien auszudenken, die ihre Erfahrungswelt auf erstaunliche Weise bereichern.
Als der Mann, der schräg vor ihr sitzt, aufsteht, weil er aussteigen will, nutzt er die Gelegenheit, um Dörte erneut mit seinen Blicken zu fixieren. Er sagt nichts, sondern starrt sie nur sehr eindringlich an. Prompt fühlt Dörte sich ertappt. Eine irrationale Furcht erfasst sie, seine Augen könnten ihren Mantel durchdringen und ihr so auf die Schliche kommen. Als seine Begleitung ihn am Ärmel zieht und er seinen Blick von ihr losreißen muss, um den Bus zu verlassen, ist sie zunächst erleichtert. Doch das Erlebte lässt sie noch nicht los. Beunruhigende Gedanken brechen sich Bahn. Dörte quält die Vorstellung, der Mann wäre allein unterwegs gewesen und hätte die körperliche Nähe genutzt, um zudringlich zu werden und sie zu betatschen. Hätte sie sich gewehrt? Hätte sie es riskiert, ihn zurückzuweisen? Hätte sie die Gefahr auf sich genommen, dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, ihn durch ihre frivole Aufmachung provoziert zu haben? Bei einem lautstarken Disput hätten sich sicherlich alle Fahrgäste nach ihnen umgedreht und sie hätte plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden. Ein kalter Schauer läuft ihr bei diesem Gedanken über den Rücken.
Mühsam gelingt es Dörte, den verstörenden Überlegungen Einhalt zu gebieten. Warum sich damit beschäftigen, was im ungünstigsten Fall hätte passieren können? Das Sprichwort, ‚Den Mutigen gehört die Welt‘, drängt sich in ihr Bewusstsein. Zu diesen Mutigen möchte sie gehören. Sie denkt daran, wie couragiert sie bisher gemeistert hat, was der Chef ihr aufgetragen hat. So schafft sie es schließlich, ihre unerfreulichen Gedanken zu verscheuchen. Trotzdem ist sie froh, als der Bus endlich ihre Zielhaltestelle erreicht und sie aussteigen kann.

Ankunft

Dörte ist euphorisiert und stolz, ihrer Feigheit getrotzt und sich auf das Abenteuer eingelassen zu haben. Eine Mischung aus Auf- und Erregung hat sich ihrer bemächtigt, die sie so nicht kennt und sie zuversichtlich macht, genießen zu können, was auch immer Olav noch mit ihr vorhat. Ihre Pfennigabsätze klackern geräuschvoll über den Bürgersteig und erneut streichelt der weiche Mantel bei jedem Schritt ihre nackte Haut, während sie auf das Behördengebäude zu stakst. Um sich davon abzulenken, widmet Dörte ihre Aufmerksamkeit dem großen Bürohaus, in dem Olav seinen Arbeitsplatz hat. Tagsüber geben seine tiefen Fenster den Blick frei auf die Beschäftigten, die wie in einem Schaufenster arbeiten müssen. Doch jetzt herrscht fast überall Dunkelheit. Nur im zweiten Stock sieht man Licht. Trotz der Entfernung erkennt Dörte hinter der Fensterfront ihren Chef, der vor einem Computerbildschirm sitzt.
Als sie vor dem Haupteingang steht, schaut sie auf ihr Smartphone. 20:28 Uhr. Ihre Vorgaben will sie exakt einhalten. Sie hat also noch Zeit und schaut an der Fassade nach oben bis zu Olavs Bürofenster. Weil sie sich dabei streckt, strafft sich ihr Oberkörper, so dass das Mantelfutter intensiver als zuvor über ihre aufgerichteten Nippel streicht. Der Reiz elektrisiert ihre Nervenenden und verursacht ein lustvolles Kribbeln, das bis in ihren Unterleib zieht. Dörte staunt ein weiteres Mal, wie sensibel ihr Körper reagiert. Es wirkt auf sie, als seien alle Sinne auf maximalen Empfang eingestellt. Die Ursache ist ihr nicht klar. Ob es davon herrührt, was sie schon erlebt hat oder von der Ungewissheit, was ihr bevorsteht, kann sie nicht unterscheiden. Sicher ist nur, dass der Auftakt vielversprechend war. Ihre Busfahrt wird sie so schnell nicht vergessen.
Dörte steht zu dicht vor dem Gebäude, um in die oberen Etagen hineinsehen zu können. Nur einen schwachen Lichtschein kann sie erkennen. Er dringt aus einem Fenster der zweiten Etage und zeigt ihr an, dass der Chef wartet, sie zu empfangen. Als sie erneut die Uhrzeit kontrolliert, ist es exakt halb neun. Auf geht es!
Dörte steckt das Smartphone in die Manteltasche und drückt auf die Klingel. Nach wenigen Sekunden öffnet sich die Tür. Sie gelangt in ein großzügig gestaltetes, einer Halle ähnelndes Treppenhaus. Auf dem marmorartigen Bodenbelag hallen ihre Schritte besonders laut. Sie bleibt kurz stehen. Augenblicklich wird es gespenstisch still. Kein Geräusch dringt mehr von draußen herein und auch aus dem Inneren des Gebäudes ist kein Laut zu hören. Angesichts dieser vollkommenen Ruhe um Dörte herum wirkt der Lärm, den jeder Schritt von ihr verursacht, besonders obszön auf sie. Daher entschließt sie sich, auf den Gang über die Treppe zu verzichten und den Aufzug zu nehmen. Auch wenn offenkundig niemand in der Nähe ist, den das Klappern ihrer hohen Absätze stören könnte, will sie ihre angespannten Nerven nicht unnötig strapazieren.
Im Inneren des Fahrstuhls blickt sie in eine Spiegelwand. Sie nutzt diese Gelegenheit, ihr Aussehen zu überprüfen. Dörte ist zufrieden mit ihrem Spiegelbild. Der lange Mantel und die hohen Schuhe schmeicheln ihrer Figur. Ihr ohnehin eher winziges Bäuchlein wird verdeckt und sie wirkt außerdem zierlicher als in Jeans und Sneakers. Die frisch gewaschenen dunkelblonden Haare, die ihr in sanften Wellen auf die Schulter fallen, betonen ihr feminines Erscheinungsbild. Durch das Make-Up werden ihre strahlend blauen Augen und ihre vollen Lippen dezent, aber wirkungsvoll hervorgehoben. Sie hat “sich schön gemacht”, wie Olav es verlangt hat. So kann sie sich zweifellos sehen lassen.
Im zweiten Stock steigt sie aus und drückt auf den Klingelknopf der Etagentür. Der helle Ton der Türglocke hallt durch das Treppenhaus. Wieder wird ihr nach kurzer Zeit geöffnet. Dörte tritt in einen dunklen Flur, der im selben Moment durch das Signal eines Bewegungsmelders erleuchtet wird. Sie blickt den langen Gang entlang. Links vom Gang sind die Mitarbeiterbüros, rechts die Toiletten sowie Küchen-, Abstell- und Besprechungsräume. Mit langsamen Schritten schreitet sie voran. Sie ist nicht zum ersten Mal hier und kennt sich aus. Das vierte Büro gehört ihrem Chef. Sie bleibt davorstehen. Mit Ehrfurcht liest sie das Schild, das neben der Tür angebracht ist: „C 2.4 Olav Meidick, Verwaltungsdirektor“. In einer Art von Ritual hält sie noch kurz inne, um ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass sie sich anschickt, in den Herrschaftsbereich ihres Chefs einzudringen. Sie holt tief Luft und strafft sich. Bauch rein, Brust raus. Dann klopft sie. Aus dem Inneren des Büros hört sie eine vertraute Stimme: „Herein!“
Als Dörte eintritt, sieht Olav von seiner Arbeit hoch. Während sie die Tür hinter sich schließt und auf ihn zugeht, erhebt er sich. Sie stoppt in respektvollem Abstand vor seinem Schreibtisch und mustert ihren Chef. Imposant und sehr chic steht er vor ihr. Er trägt einen feinen dunkelgrauen Anzug, den sie noch nie gesehen hat und in dessen Brusttasche ein farbiges Tuch steckt. Unter der Jacke schaut ein hellblaues Seidenhemd hervor. Die Füße stecken in edlen schwarzen Lederschuhen. Seine distinguierte Erscheinung lässt Dörtes Herz höherschlagen. Offenbar hat er sich extra für sie so herausgeputzt! Erwartungsvoll lächelt sie ihn an.
Doch Olavs Miene bleibt ausdruckslos. Im Ton und Gestus geschäftsmäßiger Distanziertheit spricht er Dörte an: „Einen Augenblick. Ich bin gleich fertig mit meiner Arbeit. Leg doch bitte schon ab.“ Mit dem Arm deutet er auf einen Garderobenständer, der neben der Tür in der Ecke steht. Ohne eine Erwiderung abzuwarten, setzt er sich und widmet sich wieder seinem Computer.
Ernüchtert schaut Dörte ihren Chef an. Sie fühlt sich ungerecht behandelt. Mit einem derart kühlen Empfang hat sie nicht gerechnet. Kein „Schön, dass Du da bist“, ja, nicht einmal ein Wort des Grußes hat er für sie übrig. Stattdessen lässt er sie unbeachtet stehen, obwohl sie über ihren Schatten gesprungen ist und alle seine Instruktionen akkurat befolgt hat. Warum ist er so undankbar? Was hat sie falsch gemacht, dass er sie behandelt wie eine lästige Angestellte, die ihm seine kostbare Zeit zu stehlen droht?

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