Ich, Anita: Wie ich in die Sache hineingeraten bin, vermag ich nicht mehr genau zu sagen. Jedenfalls habe ich Nina eines schönen Abends in einem Chat kennengelernt. Ich sass gemütlich vor einem Glas Weisswein auf meiner Veranda, mit einem prächtigen Blick auf Kephalonia, unsere Nachbarinsel, die eigentlich nur aus einem Hügel besteht. Die Heimat von Odysseus und Penelope. Dann hat mein Handy vibriert, ich erinnere mich noch genau – aber eben. Es vibriert ziemlich oft in letzter Zeit. Normalerweise kontaktieren mich Männer mit eindeutigen Absichten, oder dann sind es Frau-Männer, sprich Männer, die sich als Frauen ausgeben, um rascher an mich ranzukommen. Sex mit Fremden gegenüber bin ich keineswegs abgeneigt – aber ich bin in den letzten Jahren zurückhaltend geworden, weil ich ja nicht nur als Frau, sondern auch als Autorin begehrt werde. Mir ist es jedes Mal wichtig zu wissen, ob ich jetzt mein Gegenüber als Frau oder als relativ bekannte Autorin beglücken, bespassen oder gar befriedigen soll.
Bei Nina, dieser neuerlichen Chat-Anfrage, wusste ich aber sofort, dass es sich um eine echte Frau handelt, eine, die ziemlich genau Bescheid wusste über meine letzten im Internet veröffentlichten 350 Kurzgeschichten. Für mich sind es mittlerweile gefühlte 1'000 Stories – aber Nina hat mich eines Besseren belehrt. «Ach, weisst Du, Anita», hat sie mich angetextet, «es sind nicht ganz alle Deiner Erzählungen nach meinem Geschmack, vor allem die früheren nicht. Aber Du wirst immer besser, und ich befriedige mich so gerne in Gedanken an Dein literarisches Biotop».
Literarisches Biotop. Damit hatte mich Nina. So spricht nur eine, die sich für Literatur interessiert, wie ich auch – noch immer verdiene ich mir zwischendurch ein Zubrot an einer von Athens Bibliotheken. Ein Vorteil ist, dass ich in einer klimatisierten Umgebung arbeiten kann – in Griechenland wird das von Jahr zu Jahr wichtiger, solange wir denn noch Strom haben, der unsere Kühlanlagen versorgt. Der Sommer kommt nämlich wieder. Und wieder. Und wieder. Er beschert uns immer radikalere Temperaturen, und wie wir mittlerweile alle wissen, sind auch die Permafrost-Gegenden gefährdet. «Der Sommer kommt wieder», war einst die B-Seite einer Single von Mireille Mathieu. Die B-Seite von «Akropolis Adieu», wenn Ihr es genau wissen wollt. Aber Mireille, die ich im Übrigen sehr liebe, hatte in den 1970er Jahren noch keine Ahnung, dass wiederkehrende Sommer nicht nur Schmetterlinge im Bauch verursachen, sondern eines Tages zu einer realen Bedrohung werden könnten. Aber lassen wir das. Es geht nun um Nina, meine neue Chat-Freundin.
Ich, Nina: Lange, sehr lange habe ich mir überlegt, ob ich meine Lieblingsautorin einfach so anchatten soll. Ich bin bestimmt nicht ihr einziger Fan. Aber ich bin ziemlich fix im Recherchieren, und bin irgendwann einmal auf Anitas Handynummer gestossen – in einer dieser zahlreichen Chat-Apps. Ob das die «richtige» Anita war? Es würde sich zeigen. Oft, allzu oft, hatte ich in den letzten Jahren Zweifel, ob es diese Frau wirklich gibt – oder ob sich hinter «Anita Isiris» ein Literatur-Konsortium verbirgt, ein Konsortium aus Menschen, die einfach aus purer Lust fürs «Anita»-Label schreiben? Aber ich sollte eines Besseren belehrt werden. Anita ist real existierend, und so sind es auch ihre zahlreichen Geschichten, vom Märchen über Selbsterlebtes bis hin zum Drama, das Herz und Seele der Leserinnen und Leser in sich hineinsaugt.
Wir beide wurden rasch warm miteinander – lustigerweise sass auch ich hinter einem Glas Weisswein, allerdings nicht, wie Anita, auf einer Veranda in Zakinthos, sondern auf meinem kleinen Balkon in Freiburg i.Br.
Sie war erstaunlich offen mir gegenüber, und sie schien sich zu freuen, dass ich jeweils, und das seit ich 18 geworden bin, sehnsüchtig auf ihre nächste Story warte, wissend, dass sie kommt, die nächste Geschichte. Die Geschichte kommt, und, ja, es sei Euch verraten: Ich komme auch. Jedes Mal. Am liebsten lese ich Isiris in der Badewanne, während ich mich streichle. Ich liebe Selbstbefriedigung über alles, ich streichle mich sehr gerne und kann das besser als all die Männer, die ich schon hatte. Doch – ich hätte auch mit Frauen Liebe gemacht. Aber es hat sich bis dahin nicht ergeben. Einmal habe ich mit Sibylle, meiner BFF, im Wohnzimmer getanzt, geschlossen, eng ineinander gekuschelt. Es wäre fast zum Sex gekommen – aber nur fast. Dann vibrierte Sibylles Handy. Ihr Freund war dran und fragte sie, wann sie endlich nach Hause komme. Ich vergesse nie mehr, wie Sibylle rot angelaufen ist, rot vor Freude, vor Vorfreude auf, ich sage es hier ungeschminkt, einen Fick mit Giorgio. Giorgio fickt Sibylle. Wieder so ein Kopfkino, und, ja, ich habe das meiner Freundin angetan. Sobald sie die Wohnung verlassen hatte, liess ich Badewasser einlaufen, habe mich ausgezogen, den Lavendel-Badeschaum tief in meine Lungen gesaugt, die Augen geschlossen und mir vorgestellt, wie Giorgio Sibylle rannimmt. Wie sie, atemlos vor Aufregung, die Treppe hoch geeilt ist, zu seiner Dachwohnung. Wie er ihr vor lauter Begierde schon auf der Türschwelle beinahe die Bluse vom Leib gerissen hat. Wie sie sich küssten – und dann auf der Couch versanken, wo, kurz darauf, Sibylle einen wirklich geilen Ritt hinlegte. Ich weiss das, weil auch ich am besten komme, wenn ich auf einem Mann reite. Da fühlten wir Frauen uns autonom, unsere Bewegungsfreiheit ist in keiner Weise eingeschränkt, Giorgio kann sich meinetwegen an Sibylles hopsenden Titten aufgeilen, was er natürlich ausgiebig tut, und er kann sich an ihrem grossen Arsch festkrallen. Oh… sie liebt seine Krallen! Auf. Und. Ab. Auf. Und. Ab. Mein Elysium.
Ich… komme. Dann meldet sich mein Laptop mit einem akustischen Signal. ninatruffer@gmail.com
Ich, Anita: Doch, wir haben es getan, die Nina und ich. Nach mehreren Chat- und Mail-Nächten habe ich eines meiner hehren Prinzipien über Bord geworfen. Ich habe Nina ein Foto von mir geschickt, ein schlichtes Portrait. Schon früh habe ich damit aufgehört, Nacktbilder von mir im Internet hochzuladen, die Erfahrungen waren durchwegs nicht gut. Ich weiss, dass sich Hunderte wenn nicht Tausende von Männern an mir aufgegeilt haben, und das ist auch nicht das Problem. Ich weiss, dass ich hübsch bin und zeige mich gerne, etwa am kleinen Nacktbadestrand in Zakinthos, von dem hier in der Geschichte mit Nina noch die Rede sein wird. Aber mein Körper wurde immer wieder gephotoshoppt. Photogeshoppt? Wie auch immer. Plötzlich sah ich mein Antlitz auf einem vögelnden Frauenkörper. So hätte ich mich nie gezeigt. Oder sie haben meine Cup C Brüste manipuliert und Rieseneuter draus gemacht. Digitale Vergewaltigung nenne ich das – vielen Männern ist das, was sie bekommen, nie genug. Sie wollen immer noch etwas Zusätzliches. Eine noch nacktere, noch geilere, noch obszönere Anita, Hunderten wenn nicht gar Tausenden von Internet-Voyeuren zum Frass vorgeworfen – dafür fühle ich mich völlig ausser Kontrolle. Persönlichkeitsrechte sind da nüscht. So viel dazu. Jetzt aber zurück zu Nina.
Ich, Nina: Mein Verlangen wurde grösser und grösser. Ich wollte Anita kennenlernen. Gerade ihre neueren, intimen Geschichten rund um Frauen wie Silya oder Amélie haben mich alles vergessen lassen. Wer so schreibt wie Anita, schöpft aus einem Erlebnisfundus, und ich war sicher, dass meine Schriftstellerin diese beiden und viele andere Frauen persönlich kennt, sie womöglich zu sich nach Zakinthos einlädt und dort, wie im Erlkönig, «gar schöne Spiele spiel’ ich mit Dir», jaja. Das wollte ich auch. Gar schöne Spiele mit Anita. Ihr müsst wissen, ich bin nicht von schlechten Eltern. Die Brüste habe ich von meiner Mama geerbt, sie sind prall, trotzen der Schwerkraft und sind ein Blickfang erster Güte. Ganz selten schaut mir jemand in die Augen. Auch Frauen nicht. Frauen lieben Brüste genau so, auch wenn viele das niemals zugeben würden. Und ich setze sie gerne in Szene, meine Titten, und das würde ich auch für Anita tun.
Wie schön… der Gedanke… einfach mal davonzufliegen aus Freiburg i.Br., übers Balkongeländer, dann über die Hausdächer, bis hin zum Mittelmeer, dann der Peloponnes unter mir, Zeus’ Himmel über mir, dann eine sanfte Landung auf Zakinthos, wo mich Anita Isiris mit frisch gewaschenem, duftendem Haar in die Arme schliessen würde.
Und so geschah es.
Ich, Anita: Es ist kein Geheimnis, dass ich über reichhaltige sexuelle Erfahrung verfüge. Seit vielen Jahren können sich meine Leserinnen und Leser davon überzeugen. «Man weiss nie, was als Nächstes kommt», schreiben sie mir in ihrer Fanpost. Und ich war wild entschlossen, Nina zu mir nach Zakinthos zu holen, als weitere Inspiration zu weiteren Isiris-Geschichten. Weiter und weiter und weiter… für immer…
Sie war kurz entschlossen, die Semesterferien an der Uni hatten eben erst begonnen. Der Rollkoffer war wohl rasch gepackt, Nina war anscheinend alles andere als eine begüterte Studentin. Den Flug bezahlte ich ihr aus einem meiner letzten Honorare. Als ich sie an der Fähre abholte, fühlte ich mich wie ein Teenie. Ich hatte mich sorgfältig zurecht gemacht, denn ich ahnte, dass die Beziehung zu Nina nicht platonisch bleiben würde. Ich spürte, dass wir unsere Körper gegenseitig erkunden würden, bis ins letzte Detail, und viel, viel mehr als das. Und da stand sie auch schon – in hübschen gelb-braun-roten Sandaletten, einem passenden Rock, der bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte, einer crèmefarbenen Bluse, die Nina etwas Dezentes verlieh. Dann war da ihr Haar. Nina war strahlend blond. Nicht nur ihr Haar leuchtete, sondern auch ihr Gesicht, ihre grünen Augen. Ich bin es mich gewohnt, dass die Leute von mir hin und weg sind. Nicht von mir als Frau – ich bin eine wie alle. Hin und weg, weil ich den Nimbus einer Internet-Autorin mit mir herumtrage. Man vögelt mit einem Mythos, sozusagen, oder, wenn an mir eine Frau zugange ist, streichelt, küsst, leckt sie ihren Mythos, ihre Schriftstellerinnen-Anita, wohl auch in der Hoffnung, dass gerade dieser nackte Frauenkörper, der Körper von Silya, Amélie, Marion und wie sie alle heissen, Eingang in eine meiner nächsten Stories finden wird.
Ich, Nina: Um es auf den Punkt zu bringen: Ich war hin und weg. Die Reise war sehr kurzweilig, neben mir im Flugzeug sass ein wirklich unterhaltsamer Mann, und was mich freute, war, dass er mir, zumindest ab und zu, in die Augen geschaut hat. Klar sind meine Titten Blickmagnete, daran habe ich mich längst gewöhnt, aber das heisst noch lange nicht, dass man mir nicht ab und an ins Antlitz lächeln darf.
Da stand sie also. Schulterlanges, leuchtendes, dunkelbraunes Haar. Die vollen, aufgeworfenen Lippen einer Julia Roberts, aber ganz bestimmt ohne Aufspritz-Sessions. So was hat meine Anita nicht nötig. Ein dezenter Ganzteiler, der ihre Figur nur erahnen lässt.
Wir fielen uns um den Hals wie langjährige Freundinnen, und ich sog den Duft von Anitas Parfum ein. Ein Hauch von Sandelholz, aber auch ein Hauch von Pinien. Pinienwälder sind Anitas Biotop, sie hat in mehreren Geschichten darauf hingewiesen, dass ihr Vater eine kleine Kneipe in einem Pinienwald im Hinterland von Zakinthos geführt hat.
An der belebten Hafenmeile genehmigten wir uns einen Ouzo, einen Anis-Schnaps, und dazu gab es ein überdimensionales Glas Wasser. «Das sag ich Dir gleich», klärte mich Anita auf. «Du musst hier immer etwas mehr trinken, als Du eigentlich kannst. Die Hitze hat grosse Auswirkungen auf die Körperflüssigkeit von uns Menschen». Sie hörte sich an wie eine Biologiedozentin. Ich war entzückt. Biologie im Nebenfach ist eine meiner grossen Leidenschaften.
Es bringt es mit sich, dass Menschen, die sich zum ersten Mal sehen – etwa nach jahrelanger Brieffreundschaft – eher wortkarg sind, während die Texte in den vorangehenden Mails und Briefen nur so flossen. Bei Anita und mir war das anders. Wir quasselten drauflos, lachten, verschütteten dabei sogar etwas von dem wertvollen Neró, dem Trinkwasser, und die Vertrautheit, die sich zwischen uns entfaltete, war mit Händen greifbar. Dann nahm mich Anita bei der Hand. Zarte Anita-Schriftstellerinnenhände! Und sie führte mich zu einem kleinen Fahrradparkplatz. Dort stand es, mein quietschgrünes eBike, Anitas Angebot an mich. «Damit kommen wir auf meiner Insel überallhin», lächelte sie verschmitzt, schwang sich ihrerseits auf ihr azurblaues eBike, und ich radelte ihr hinterher. Ich verdrängte den Gedanken sofort – aber ich benied ihren Sattel. Weil der Kleiderstoff etwas spannte, war Anitas Po auszumachen, wie er sich an den Sattel schmiegte – und es war keine Einbildung, dass uns etliche Männer, Eingeborene wie Touristen, hinterher blickten. Mit wie vielen es Anita wohl schon getrieben hat? Ich verbat mir den Gedanken, denn Anita ist keine Hure, beileibe nicht. Aber sie ist eine lebenslustige Griechin, die ganz bestimmt nichts anbrennen lässt.
Endlich umfloss uns die Kühle eines Pinienwaldes. «Wir sind bald da», rief Anita über die Schulter zurück, «dann relaxen wir erst mal».
Ich, Anita: Ich war aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Klar hatte ich ein Bild von Nina, wir hatten ja Fotos ausgetauscht. Aber so hübsch hatte ich sie mir dann doch nicht vorgestellt. An Nina stimmte einfach alles – nebst ihrem Aussehen auch ihre Bildung, ihr Witz, ihre Klugheit. Und bestimmt hatte sie ein Herz aus Gold.
Mein Haus versetzte Nina tatsächlich in Schnappatmung. Nicht wegen dessen Grösse – die hielt sich im Rahmen – sondern wegen der Lage auf einem kleinen Hügel. Die Aussicht. Blick aufs Meer auf der einen Seite, Blick über Pinienwipfel auf der anderen Seite. Auch ich habe mich bis heute nicht an diesen Wohnort gewöhnt, obwohl ich doch in Zakinthos aufgewachsen bin. Aber ich fühle mich privilegiert, tun und lassen zu dürfen, was ich will und sogar Leserinnen – und ganz selten mal Leser – hierhin einzuladen.
Eindeutig gesteigert!
schreibt michael_direkt