"Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus." (Rilke)
Xavier Naidoo (Die Dinge singen hör ich so gern)
Acht Tage noch, dann bin ich wieder draußen. Nur noch acht Tage.
Es sei eine abnorme psychogene Reaktion gewesen, eine Primitivreaktion, wie sie bei Panik durchaus vorkommen kann. Außerdem war es Notwehr gewesen. Ich bin keineswegs dafür verantwortlich zu machen.
Schlimm ist, dass nun die Erinnerung zurückkommt. Es sei wichtig für die Therapie, dass ich mich erinnere. Kein Grund, dass ich mir Vorwürfe mache, wie es geschehen ist: die Reaktion, die aus meiner Panik resultierte, hätte ich niemals kontrollieren können. Doch es sei ungemein wichtig, dass ich mich an jedes Detail erinnere, das erinnerbar ist. Nur so könne ich dieses quälende Gefühl der Schuld ein für allemal loswerden. Nur so könne ich wieder so werden, wie ich VORHER war...damals, bevor es passiert ist.
Bevor es einfach passiert ist...
Der ganze Tag war eine einzige Höllenfahrt gewesen.
Er begann schon ziemlich beschissen, und wenn ich es mir heute im nachhinein so überlege, dann ist alles, was am Abend dieses beinahe apokalyptischen Tages geschehen ist, bereits am frühen Morgen vorprogrammiert gewesen.
Meine Sterne standen wahrscheinlich überhaupt nicht gut, denn an diesem verhängnisvollen Morgen packte ein schrecklicher Traum mit eisigen Klauen mein Herz, ließ mich hochschrecken aus einem bis dahin ruhigen Schlaf, und ich durchbrach mit jagendem Pulsschlag und berstenden Lungen die zähflüssige Oberfläche des Traumlandes.
Es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bis ich mich im Dunkel zurechtfand, bis mir bewußt wurde, dass ich mich im Schlafzimmer meiner Wohnung befand, und eine weitere Ewigkeit, bis ich wagte, mich in meinem Bett zu bewegen - doch erst in dem Augenblick, als der Wecker summte und mir endgültig klar wurde, nur geträumt zu haben.
Ich nahm ein hastiges Frühstück ein, bevor ich mich auf den Weg machte.
Jeder Bissen und jeder Schluck hatte den adrenalingetränkten Beigeschmack meines Nachtmahrs, den süßen Blutgeschmack eines heidnischen Opfermahls, an das ich mich nur unzureichend erinnern konnte und keinesfalls erinnern wollte: doch ich war nicht Herr meiner Gedanken - wieviel weniger noch war ich Herr meiner Träume.
Ich nahm den Zug und folgte den Vorlesungen an der Universität, so gut es mir an diesem Tag eben möglich war. Ich mußte ständig ankämpfen gegen dieses düstere Hintergrundrauschen in meinem Verstand, dieses unheimliche Nachbeben aus dem unbekannten Teil meines Selbst.
Ich glaube, es war gegen Mittag, als die Schnabelhiebe dieses unerbittlichen Nachtvogelschwarms nachließen und schließlich ganz aufhörten. In den letzten Vorlesungsstunden blieb dann nicht die Spur einer Erinnerung zurück.
Ich war wieder völlig "ich selbst", fühlte mich gelöst und entspannt: ich nahm teil an Gesprächen mit anderen Studenten, flirtete, lachte viel und laut und ließ Gott solange einen guten Mann sein, bis...BIS DIESER OBDACHLOSE DAS ATRIUM BETRAT, DIREKT AUF UNSERE KLEINE GRUPPE ZUSTEUERTE, DIREKT AUF MICH ZUTORKELTE - UND SICH IN EINEM STURZBACH VON ERBROCHENEM VERMISCHT MIT BLUT IN MEIN GESICHT ÜBERGAB.
Ich konnte nicht verhindern, dass es mir reflexartig ebenfalls hochkam, und so kotzte ich aus seiner Kotze, die mein Gesicht wie eine schleimige, übelriechende Maske überzog, heraus in einem dicken Strahl direkt vor meine Füße auf den Boden. Man könnte sagen, dass meine Kotze quasi die Maske aus Erbrochenem, die mein Gesicht bedeckte, durchbrach oder dass ein Teil von mir diese würdelose Maske zerreißen wollte. Kotze zu Kotze und...
in Wirklichkeit war es der blanke Horror für mich.
Durch diese stinkende Maske hindurch sah ich die Gesichter, all die Gesichter, die sich mir zugewendet hatten - alle mit dem gleichen Ausdruck der Überraschung und, mehr noch, des Ekels. Ich stürzte zum Waschraum, ohne den auf dem Boden zusammengekrümmten Abschaum weiter zu beachten, dieses widerliche Subjekt, das da in einer Lache aus Blut und Erbrochenem lag und sich suhlte wie ein surrealistisches Schwein, das die Maske eines menschlichen Wesens übergestreift hatte.
Ich stürzte zum Waschraum und ließ sie alle hinter mir, all die starrenden, ekelerfüllten und widersinnig anklagenden Gesichter - Fratzen, die mich anstarrten, als hätte ICH die Verantwortung zu tragen für das, was da passiert ist, als hätte ich ihn regelrecht dazu aufgefordert, mich in diese abscheuliche Situation zu bringen! In meinem Denken sah ich ihre Köpfe explodieren, sah sie zerspringen zu einer breiigen Masse aus Knochensplittern, Hirnmasse und Blut.
Ich weiß nicht, wieviele Tage ich meinen Kopf unter den Wasserstrahl hielt, bis meine brennende Gesichtshaut wieder abkühlte und meine Gedanken wieder klar wurden. Irgendwann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, drehte mich um und blickte in ein besorgtes Gesicht, dessen Mund Worte formte, die ich nicht hören konnte - ich nickte dennoch und das Gesicht verschwand, ließ mich allein mit dem übermächtigen Wasserrauschen und meinem mir so unbekannten Spiegelbild: die Haare hingen mir nass ins Gesicht, Wassertropfen rieselten von meiner Haut und meine Augen leuchteten mir entgegen wie Eiskristalle.
Ich verließ den Waschraum nur im Shirt (das unbrauchbar gewordene Hemd blieb im Abfallbehälter), tat es, ohne mich noch einmal umzublicken und spürte, wie nun auch mein Blut langsam wieder abkühlte. Ich machte mir vor, dass es doch eigentlich gar nicht s o schlimm gewesen sei, dass es letztendlich doch nur ein dummer, verdammt unglücklicher Zufall gewesen sei, einfach so angekotzt zu werden - ganz genauso, wie es eine blöde Laune des Schicksals gewesen war, dass mich dieser Morgen ganz anders packte, als ich es eigentlich wünschte: dieser Morgen jagte mich durch diesen bescheuerten, krankhaften und schrecklich beunruhigenden Traum, an den ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte.
"Du kannst bei mir duschen, wenn du willst."
Ich zuckte erschrocken zusammen und wirbelte herum, atmete erleichtert tief aus. Es war Mandy.
"O Mann, dich hat's ja wirklich ganz schön erwischt! Vor mir brauchst du nun aber wirklich keine Angst zu haben."
Sie lächelte. Mit ihren schwarzen, schulterlangen Haaren sah sie unheimlich hübsch aus.
"Aber ist ja auch wirklich 'ne schlimme Sache, die dir da passiert ist. Ich glaube, ich an deiner Stelle wäre sogar umgekippt." Nun lächelte auch ich. "Hast dich aber verdammt gut gehalten, Junge! Was ist, magst du nun duschen oder nicht?"
Ich nahm dankend an und folgte ihr in ihre zwei Häuserblocks entfernt gelegene Studentenbude.
Ihre Unterkunft bestand aus einer recht geräumigen Wohndiele mit Sitz- und Eßecke, einer Kochnische, einem extra abgeteilten Schlafraum und dem Badezimmer.
"Wenn du vom Duschen kommst, hab' ich vielleicht 'ne kleine Überraschung für dich", sagte sie lächelnd und reichte mir ein großes Badetuch.
Das Wasser unter der Dusche war angenehm warm und ich spürte erleichtert, wie all der Schmutz wie unangenehme Erinnerungen von mir abgespült wurde. Ich stellte mir vor, dass meine Haut wie ein Mantel aus feuchtem Laub sei, Laub, das ich mit Hilfe des pulsierenden Wasserstrahls abstreifen könne, um den marmornen, unverletzlichen Kern von mir freizulegen, den ewigen Kern, an den niemand wirklich rühren konnte und der mir wirklichen Schutz bieten könnte vor allem, was irgendwie für mich gefährlich war.
Ich dachte über Mandy nach (ein polterndes Geräusch von draußen, irgendwo in der Wohndiele), während die warmen Wasserstrahlen prickelnde kleine Löcher in meine Schädeldecke bohrten.
Ich dachte über das nach, was ich gerne mit ihr tun würde (ein rhythmisch schlagendes Geräusch, fast schon aufdringlich laut...), wenn sie mich ließe und ich nicht (...viel zu laut und regelmäßig, um nicht zutiefst beunruhigend zu sein!) solch schreckliche Angst hätte, es zu tun. Ich stellte den Wasserstrahl ab und lauschte: neben dem stakkatoartigen Schlagen und Poltern ein unterdrücktes Keuchen - keineswegs zu überhören.
Ich schlang das Badetuch um mich und sprang aus der Dusche, riß die Tür zur Diele auf und taumelte wie unter einem elektrischen Schlag zurück.
Ich glaube, ich sah ganz viele Dinge auf einmal: die nur angelehnte Wohnungstür, das offene Fenster über der Couch, die zertrümmerte blaue Vase und dann das viele Blut auf dem Boden, eine regelrechte Lache. In diesem Blut schwammen ihre Haare und noch andere Dinge, die ich nicht zuordnen konnte.
Einen Augenblick lang hörte ich Kinderstimmen von der Straße, und ihr Lachen kam mir seltsam obszön vor. Mir wurde kalt, als der kühle Luftzug meine feuchte, wassertropfende Haut streifte, und ich nahm die schnelle Bewegung von links erst dann wahr, als mir auffiel, dass Mandys wunderschönes Gesicht verschwunden war. Ihr Schädel war geborsten, und Hirnmasse schwamm im unwirklich roten Blut. Der unerwartete Schlag trieb mir die Luft aus den Lungen.
Er traf mich so heftig, dass ich zurücktaumelte, aber dennoch irgendwie auf den Beinen blieb und mich instinktiv an der Wand hinter mir abstützte. Im ersten Augenblick sah ich sein vollständig rotbemaltes Gesicht, um im nächsten den süßlichen Geruch wahrzunehmen, als er mir mit der flachen Hand heftig gegen die Brust stieß und mir etwas Unverständliches zuzischte. An seinen Schneidezähnen hing menschliches Gewebe, und sein Gesicht war wutverzerrt, als er nun sein Knie anzog und es mir in den Unterleib rammte.
Der Schmerz war überwältigend.
Die Zeit gerann zu Gelee, als ich einknickte und vornüber kippte. Etwas zersplitterte unter meinem Gewicht, und ein scharfer Schmerz durchschnitt meine Schulter. Das war der Moment, als sich etwas veränderte.
Er riß mich an der Schulter herum, dass ich auf dem Rücken zu liegen kam, und ich sah das gesplitterte Tischbein in seiner erhobenen Faust, noch bevor ich meinen Blick auf seine Augen richtete. Seine Lippen bewegten sich unaufhörlich, doch ich konnte nicht verstehen, was er sagte, weil ich zu sehr in seinen Augen war. Blut tropfte von ihm herunter in mein Gesicht, und es fühlte sich angenehm an; es verschaffte mir Kühlung.
In seinen Augen konnte ich das sehen, was er sah, und mein anfängliches Gefühl der Panik wich einer unerschütterlichen Ruhe: ich wußte, er würde genauso von meinem Blut trinken, wie er von Mandys getrunken hatte.
Ich lächelte und da erhitzten sich seine Augen. Ich hörte seinen wuterfüllten Schrei wie ein Crescendo hereinbrechender Wellen. Seine Mimik eskalierte im gleichen Augenblick, als er mit dem gesplitterten Tischbein zustieß. Es tat nicht weh, als es mir unterhalb des Schlüsselbeins quer durch die Brust drang und von meinem Schulterblatt aufgehalten wurde.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das mich in seine Welt katapultierte.
Meine Rechte schoß nach oben und verkrallte sich in seinem Gesicht. Mit meinem Daumen konnte ich die Schärfe seiner Schneidezähne fühlen und etwas Glitschiges, das über meine anderen Finger floß. Danach war ich nur noch Bewegung, und es war fast wie ein Tanz, den ich mit ihm tanzte. Alles war so weich und geschmeidig, und der süßliche Geruch hatte mit einem Mal nichts Abstoßendes mehr an sich. Es war wie ein atemloses Rennen.
Ich hatte die Augen geschlossen und konnte die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht spüren, noch bevor ich durch meine geschlossenen Augenlider zu sehen begann. Mein Körper bewegte sich unabhängig von mir, und die Bewegungen mußten schnell sein, denn ich hyperventilierte, während die Schreie im Raum langsam erstickten. Die Sonne wanderte wie im Zeitraffer über den Horizont, und als sie die Gipfel der Berge erreichte, war sie blutrot.
Ich erzitterte angesichts dieser Schönheit und erinnerte mich an etwas, das ich vor langer Zeit gehört hatte:
In diesem Raum ist alles möglich..jeder Gedanke kann wahr werden und faszinierende Gestalt gewinnen, leuchtende Farben annehmen ganz so, wie wir es wollen und in der Lage sind, es füreinander auszudrücken..
Wir sind völlig frei, alles zu tun, was wir miteinander tun wollen, in jeder Beziehung..jede Gestalt anzunehmen, die vorstellbar ist, uns sogar auf dem Grund des Meeres zu lieben, wenn wir das wollen; eines Meeres, das wir nach unseren Vorstellungen umgestalten können und die Dichte des Wassers so verändern, dass nicht nur Atemluft ihren Platz findet im Strukturgitter der Atome, sondern auch Sonnenlicht schillernd bis auf den Grund dringen kann..und sei dieser Grund auch zehntausend Meter tief.
Wir schaffen unser eigenes Atlantis mit Wesen von atemberaubender Schönheit und Geschmeidigkeit, Elfen, Nixen, Wassergötter..wir tauchen aus den Fluten empor gekleidet in Gewänder aus funkelnden Wasserperlen, die das Licht der Sonne in all seine Bestandteile zerlegen. In diesem Augenblick..gerade jetzt habe ich das Gefühl, wie von selbst zu schreiben, einfach dahinzutreiben auf unberechenbaren Wellen, die sich formen nach der Musik, die ich gerade höre, und obwohl ich dieser Bewegung ausgeliefert bin, fühle ich mich zutiefst heimisch in ihr und habe nicht im entferntesten das Bedürfnis, ihr meinen Willen aufzwingen zu wollen.
Ich fühlte, wie sich mein Brustkorb langsam hob und senkte, der Atem wie erfrischendes Wasser in meinen Lungen, und ich streckte die Arme gen Himmel, aufrecht stehend und unwandelbar wie eine Statue aus edelstem Marmor. Gott hatte entschieden, dass ich lebte und ich leckte mir über die Lippen, um sein Blut zu schmecken.
Dann spürte ich die Hand auf meiner Schulter, und die ganze Welt explodierte.
Die Hand fühlte sich genauso an wie die Hand in meinem Traum, und wie unter dem Licht eines Stroboskops konnte ich alles wieder erkennen, jede schreckliche Einzelheit.
Ich konnte den Blick nicht abwenden und ich sah sehr lange hin, während mein Körper wie unter Strom zitterte. Die Erde öffnete sich unter mir und der Abgrund war ohne Boden.
Ab diesem Augenblick jedoch konnte ich mich bewegen und es war nicht mehr die ohnmächtige Starre meines Traumes.
Und ich bewegte mich.
Irgendwann zog sich mein Magen zusammen, und ich übergab mich in einem einzigen anhaltenden Strahl von Dingen, die ich nicht beschreiben will.
Ja, ich erinnere mich, aber niemand kann mich zwingen, jede Erinnerung preiszugeben.
Ich konnte nicht wissen, dass der Mann hinter mir ein Polizist war. Er hatte sich durch nichts zu erkennen gegeben.
Da war nur die Hand, und da war nur diese Stimme. Diese grauenhafte Stimme.
Als sie mich schließlich überwältigten, war der Raum voller Blut, Eingeweide und Knochen. Sie schrien wild durcheinander, und als die Blitzlichter aufflammten, tat es mir in den Augen weh.
In der Nacht fiel ich in einen tiefen Schlaf, und ich danke Gott, dass ich nicht träumte.
Acht Tage noch, dann werde ich wieder in den Innenhof dürfen. Ich werde mich auf meine Bank unter der Birke setzen und endlich wieder frische Luft atmen können.
Ich werde meine Augen schließen, und wenn ich etwas Glück habe, werde ich die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht spüren, noch bevor ich durch meine geschlossenen Augenlider zu sehen beginne.
Ich liebe ihre Farben.
Aber achtet darauf, dass mir niemand zu nahe kommt.
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