Die Hände sind wütend: Wie ein Orkan fegen sie über den Bechsteinflügel hinweg, umkrallen die äußeren Enden des hölzernen Deckblatts und reißen es krachend aus seiner Verankerung. Die Hände toben und wuchten das Deckblatt auf den Steinboden, sodass grobe Holzsplitter durch die Luft wirbeln. Die Hände haben schließlich das Deckblatt zerschmettert und kämmen nun schweißgetränkte Strähnen aus Karls glänzender Stirn. Noch immer redet sich der Karl in Rage. Das Staccato seiner Stimme böllert wie ein Maschinengewehr. Karls gerötete Augen starren mich an, ich weiche seinem Blick aus und schaue zu Boden. Seine "Show" imponiert mir und erinnert mich an Rockmusiker, die ihre Instrumente zertrümmern; dabei verleiht die bekiffte Seelenruhe der Musiker dem Zerstörungsakt weit weniger Ausdruck als Karls besinnungslose Wut. Der Karl stürmt jetzt brüllend aus dem Raum: Er werde auch das Saxofon "zusammenhau'n". Erwartungsfroh, mit einem wohligen Schauder auf dem Rücken, male ich mir das zerbeulte Blech des zertrümmerten Saxofons aus.
Man stelle sich vor, Iggy Pop zöge sich einen Janker an: Das ist der Karl. Auf seinem drahtigen Körper sitzt ein ordentlich frisierter Totenkopf mit ausgehöhlten Augen und eingefallenen Wangen. Ich bilde mir ein, das Ausgemergelte seines Gesichts stünde in Zusammenhang mit dem Leberschaden, den er sich schon in jungen Jahren zugezogen hat. Trotz seines Alters von etwa fünfzig Jahren vollbringt sein durchtrainierter Körper noch Erstaunliches: An den Balken der Studiodecke hat er ein Seil mit zwei dicken Holzringen befestigt, an denen er täglich seine Exerzitien verübt. Den "Christus", eine Übung, bei der sich der Körper in Kreuzform in die Ringe einhängt, hält der Karl über zehn Minuten. Meine Bestmarke - und ich bin ein guter Sportler - liegt hingegen knapp unter vier Minuten. Meine Mutter, die ein Poster vom Karl gesehen hat, bezeichnet ihn zu meiner Überraschung als gut aussehend. Das Plakat - es hängt im Tonstudio - zeigt einen weichgezeichneten Karl mit gebleckten Zähnen und Föhntolle. Unterhalb des Portraits steht in geschwungenen Lettern geschrieben: "Mr. Romantic". Das Poster entstand, als der Karl sich noch als professioneller Zitherspieler verdingte und den Touristen des Hotels Belle Vue in Seefeld den Kaiserschmarrn musikalisch versüßte. Seit mehreren Jahren plagt Rheuma Karls Finger und lässt ihn kaum noch zur Zither greifen. Sein Geld verdient er aber weiterhin mit Touristen. Das gerissene Geschäftsmodell: Etwas einmal im Monat reist der unappetitlich dicke, immer nach Schweiß miefende Klavierlehrer Schiminek mit seinem Mofa aus dem Stubaital an. In weniger als zwei Stunden spielt er dann auf Karls Heimorgel mit Begleitautomatik zehn Lieder ein, die meisten davon Evergreens wie Strangers in the Night oder What a Wonderful World. Karls Frau Irmgard zieht die fertigen Lieder auf Kassette und verkauft sie im Tiroler Fremdenverkehr zum Stückpreis von fünfzig Schillingen an Touristen. Besonders stolz ist Karl auf seinen "Verkaufsschmäh": Trickreich betitelt er Kassetten für Seefeld als "Seefeld Souvenir", für Kufstein als "Kufstein Souvenir" und so fort, wobei der Inhalt der Kassetten immer derselbe ist. Wie mögen die Touristen reagieren, wenn sie - wieder zuhause in Düsseldorf oder Berlin - voller Vorfreude ihr Urlaubs-Souvenir in die Bang & Olufsen-Anlage schieben und diese ihnen das jämmerliche Geklimper von Karls Heimorgel ausspuckt? Gerne würde ich dem Karl raten, doch Kosten zu sparen und die Kassetten einfach leer zu lassen. Wenn der Karl über seine Kassetten spricht, leuchten seine Augen. Dann grinst er lausbübisch und erzählt, wie der Besitzer des Tyrolis-Studios ihn schon mehrfach vor die Tür gesetzt hat, weil er den Markt durch seine Kampfpreise versaue. Sodann kommentiert er seinen Rausschmiss: "Die erklär'n mi alle für narrisch, weil die net versteh'ng, wie i arbeit."
Die Hände
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