Diese verdammte Nacht mit Vivian

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Diese verdammte Nacht mit Vivian

Diese verdammte Nacht mit Vivian

Yupag Chinasky

Die Lesung hätte mit der üblichen Routine über die Bühne gehen können, eine der vielen Lesungen, die der Schriftsteller schon gegeben hatte und die nicht unwesentlich zu seinem Lebensunterhalt beitrugen. Doch diese eine, ausgerechnet in seiner alten Heimat, sollte gründlich aus dem Rahmen fallen, ja geradezu ein Fiasko werden. Zwei Faktoren waren der Grund, die Zuhörer und die Werke des Autors. Dabei hatte er bewusst nur kurze, einfache Erzählungen ausgewählt. Auf einen seiner bekannten, umstrittenen Romane wollte er erst gar nicht eingehen, das Publikum wäre mit Sicherheit überfordert gewesen. Die Geschichten, die er vorlas, enthielten nur wenige Provokationen, die seine Bücher sonst auszeichneten. Aber die politische und moralische Gesinnung des Autors blieb auch hier nicht verborgen und die war so grundlegend anders, als die hier vorherrschende, dass sie Anstoß erregen musste. Er war damals nicht ohne Grund aus der Enge der Provinz geflohen. Seine Eltern waren nur deswegen aus der Hauptstadt in die Provinzstadt umgesiedelt, weil sein Vater eine Stelle als Lehrer bekommen hatte, eine der Stellen, die niemand sonst haben wollte, so weit weg von Leben und Kultur. Seine Eltern hatten sich immer schwer getan mit den Leuten hier, sowohl im Beruf als auch privat. Ihre linksliberale, Weltanschauung, ihre antireligiöse Gesinnung und ihr weltoffener Kunstgeschmack, war immer das Gegenteil zu dem konservativen, verklemmten Geist, der hier vorherrschte. Es war ein Wunder, dass die Konflikte nicht stärker zu Tage getreten waren. Nur durch Zurücknahme der eigenen Ansichten in der Öffentlichkeit, bis fast zur Selbstverleugnung und die Anerkennung der unbestreitbaren pädagogischen Qualitäten seines Vaters, ließen die Familie ausharren. Als es keinen Grund mehr gab, zu bleiben, verließen sie die Gegend wieder. Der Sohn, der die Haltung seiner Eltern voll übernommen hatte, als erster, um in der Hauptstadt zu studieren. Seine Eltern folgten nach der Pensionierung des Vaters. Freunde hatten sie so gut wie keine und dass sie nicht von hier waren, hatte man ihnen immer wieder unter die Nase gerieben. Es gab also nichts und niemanden, der sie hier festgehalten hätte und an der Gesinnung der Menschen hier, hatte sich bis heute nichts geändert.
Die Leute, die zu der Lesung gekommen waren, angesichts der Berühmtheit des Autors waren es nicht sehr viele, dachten im Wesentlichen noch so, wie vor vierzig Jahren und schon damals dachte man hier sehr konservativ. Allein die Frage, ob ihr ehemaliger Mitbürger tatsächlich so berühmt war, wie der Schulleiter in seiner Begrüßung behauptete, stellten manche in Frage. Warum, fragten sich andere, hatte er seine Bücher nicht auch hier schreiben können, in seiner Heimat? Warum war ausgerechnet er so berühmt, nur weil er was geschrieben hatte? Hatte er denn wirklich etwas geleistet, mit seinen Händen, so wie die rechtschaffenen Leute hier? Jedenfalls wurde im im Fernsehen nur selten über ihn berichtet und Bücher las man hier eher wenig. Trotzdem war der Saal fast voll, die Leute waren schon aus reiner Neugier gekommen. Der Schulleiter, der ihn als Schriftsteller natürlich kannte, fand ein paar freundliche Worte, obwohl man ihm schon anmerkte, dass diese Literatur seine Sache nicht war. Wie viel mehr hätte sie die Sache der Zuhörer sein können. Diesen Leute waren weder die Themen noch der provokative, ironische Stil zugänglich, sie hätten die Erzählungen vermutlich auch dann nicht genießen können, wenn sie unvoreingenommen gewesen wären, weil sie schlicht überfordert gewesen wären. Aber die meisten waren voreingenommen, die meisten wollten gar nicht anhören, was er vortrug. Sie begannen zu murren, als kritische Worte über die Regierung und die Kirche fielen und eine Abtreibung positiv bewertet wurden. Und als der Autor dann einige delikate Stellen zum Liebesleben der Protagonisten vortrug und dies mit Worten beschrieb, die man hier nur hinter vorgehaltener Hand verwendete, ging der Tumult los. Er äußerte sich in empörten Zwischenrufen, in absurden Fragen, in gehäßigen Bemerkungen. Einige verließen demonstrativ lautstark den Saal. Andere blieben, um noch lauter zu schimpfen und es wurden sogar Drohungen ausgestoßen, was alles passieren könnte, wenn er nicht schleunigst zurück, in seine verkommene Hauptstadt verschwände. Einige wenige, die vielleicht anders dachten und nicht alles verdammten, schwiegen, niemand meldete sich, um dem Autor beizustehen. Als schließlich ein Sektenprediger nach vorne kam, sich demonstrativ neben ihn stellte und begann, die richtige Moral zu verkünden und ihn in die Hölle zu wünschen, brach er entnervt die Lesung ab. Es war nicht möglich, auf die Hintergründe seiner Erzählungen einzugehen oder über die literarische Struktur, die allgemein sehr gelobt wurde, ein Wort zu verlieren. Alles, was noch wichtig gewesen wäre, worüber er gerne kontrovers diskutiert hätte, wären die berühmten Perlen gewesen, die man den Säuen nicht vorwerfen sollte. Anfeindungen war er gewohnt, sie fanden regelmäßig statt, nur nicht in diesem Ausmaß, mit diesem Hass und nicht von Leuten, die eigentlich mit ihm auf irgend eine Weise verbunden waren. Es war also nicht das Unverständnis der Zuhörer, das ihn so sehr irritierte, nein, es war der gezielte, persönlich motivierte Hass auf einen Menschen, der hier geboren worden war, den er einfach nicht verstand. War es vielleicht purer Neid, weil er es weiter gebracht hatte als sie? Weil er berühmt geworden war? Auch die gut gemeinten Worte des Bürgermeisters, der den Prediger wieder auf seinen Platz gescheucht hatte und der vielleicht gegen seine tiefste Überzeugung seinen Schulfreund verteidigte und die Zuhörer ermahnte, toleranter zu sein, konnten die Stimmung nicht mehr retten. Niemand, weder der Autor noch die Zuhörer wollten eine Fortsetzung der Lesung. Als sie später im Jeep zu dem Restaurant fuhren, schimpfte der Bürgermeister immer noch und verurteile die hinterwäldlerische Gesinnung seiner Bürger. Der Autor schwieg,fragte sich aber, ob sein Freund überhaupt eine Ahnung gehabt hatte, wen er da eingeladen hatte, gelesen hatte er bestimmt noch kein einziges seiner Bücher, wahrscheinlich noch keine einzige Zeile.

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