Natürlich war die Lesung ein Fiasko gewesen, eines, das er hätte ahnen müssen. Er hätte sich denken können, dass sich in den Köpfen der Leute seit damals nichts, aber auch gar nichts geändert hatte. Das war absolut nicht sein Publikum und seine Werke absolut nichts für diese Hinterwäldler, um ein Wort des Bürgermeisters aufzunehmen, größere Gegensätze konnte es gar nicht geben. Aber nun war zumindest diese verdammte Lesung überstanden. Jetzt nur noch das Essen hinter mich bringen, dachte er, obwohl ihm der Appetit durch die Aufregung eigentlich vergangen war, aber auch, weil das üppige Mittagessen noch längst nicht verdaut war. Das Essen überstehen und dann so rasch wie möglich zurück in das Hotel. Am nächsten Morgen lange ausschlafen, den Tag mit irgendeinem Programm vertrödeln, abends den verdammten Ball überstehen, vor dem ihm jetzt schon graute, aber noch mehr graute ihm vor dem "Festakt" am Sonntag. Was würde ihn da wohl erwarten und welche Überraschung hatte der Bürgermeister geplant? Der hatte jedenfalls auf seine Fragen eisern geschwiegen, schließlich hatte er aufgegeben, darüber nachzugrübeln. Vielleicht eine Ehrung, ja das war wahrscheinlich, er hatte schon manche über sich ergehen lassen, er würde auch diesen von einem Geheimnis umwaberten Festakt überstehen. Dann gegen Mittag ab in den Bus, erst dann wäre die Scheiße hier überstanden und sechs Stunden später könnte er sein normales Leben wieder aufnehmen.
Die Gedanken an das Fiasko und an die restliche Zeit seines Aufenthalts hier, beschäftigten ihn zwar, aber es hatte auch ein positives Ereignisse gegeben, das ihn wieder ein wenig versöhnt hatte. Am Ende der Lesung, nach den Worten des Bürgermeisters und nachdem die meisten den Saal verlassen hatten, kamen doch noch einige Zuhörer nach vorne und versammelten sich um ihn. Keiner hatte etwas Negatives gesagt, keiner hatte ihn beschimpft oder gar bedroht. Einige hatten sich vielmehr für das lümmelhafte Verhalten der anderen entschuldigt, andere hatten beteuert, schon etwas von ihm gelesen zu haben und sie fänden seine Bücher gut. Vier hatten sogar gefragt, ob sie ein signiertes Buch kaufen könnten. Er hatte in seiner Aktentasche immer ein paar signierten Exemplare dabei und es war für ihn ein gewisser Trost, dass er diese verschenken und dabei doch noch ein paar Worte über die Lesung wechseln konnte. Der Bürgermeister hatte seinen Drang, ihm jeden Einwohner vorstellen zu wollen, bezähmt, obwohl er diese Andersgläubigen bestimmt alle kannten, aber er mischte sich in die kurzen Unterhaltungen nicht ein, zog sich vielmehr zu einem Gespräch unter vier Augen mit dem Schulleiter in die andere Ecke des Saals zurück. Die letzte, die ihn noch ermunterte und lobte, als die anderen schon alle gegangen waren, war ein sehr junges, sehr gut aussehendes Mädchen. Schon als sie mit etwas Verspätung in den Saal gekommen war, war sie ihm aufgefallen. Er hatte schon angefangen zu lesen, als sie in die da noch herrschende Stille fast atemlos hereinplatzte, ihren roten Anorak auszogen und demonstrativ auf einem der vorderen Sitze Platz nahm. Dort konnte er sie die ganze Zeit gut beobachten. Sie war relativ klein und stämmig, ihre Haut ziemlich dunkel und ihre Gesichtszüge verrieten, dass sie einiges Indianerblut in ihren Adern haben musste. Dazu wollten jedoch die üppig gelockten, kastanienbraune Haare nicht so recht passen. Auffallend war auch ihr sehr kurzer Rock, denn um diese Jahreszeit war es abends schon empfindlich kühl. Das Mädchen war, als die Tumulte begannen, eine Art Anker für ihn, seine Blicke fielen immer wieder auf sie, nicht zuletzt wegen ihrer hübschen Beine, vor allem aber, weil sie ihm ermunternd zunickte, obwohl sie selbst nichts sagte und auch keine Gegenposition bezog, vermutlich war sie dafür zu jung und zu schüchtern. Sie schien lange die Einzige zu sein, von der er glaubte, dass sie ihn verstand, trotz oder wegen ihrer Jugend. Diese positive Haltung ihm gegenüber wurde zur Gewissheit, als sie nun auch um ein signiertes Buch bat, ihn mit einigen, wenigen Worte zu der Lesung beglückwünschte und ihm auch noch sagte, dass sie schon viel von ihm gelesen habe und dass sie vieles gut fände, nicht alles, aber vieles sei wirklich gut. Aber noch ehe er ein kurzes Gespräch beginnen konnte, zog sie ihren Anorak wieder an, nahm das Buch, bedankte sich eher flüchtig und eilte zur Tür, als ob sie den letzten Bus verpassen könnte, es reichte noch nicht einmal zu einem Lebewohl oder Adios.
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