Es mag schon sein, daß Langeweile ein dämonischer Zustand ist - jedenfalls schluckte ich jetzt bereits drei Stunden, die Uhr in der Hand, Tropfen um Tropfen vom Gifte des ennui hinunter, bis ein verzehrender Rachedurst mich aufspringen und in die blaue, schwüle Nacht rennen ließ. Die leichenblasse Menschenmenge kroch als Prozession verendender Herbstfliegen unter einer Allee von surrenden Bogenlampen einher. Straßenmädchen schwirrten wie Fledermäuse um alle Ecken. Ein Wortwechsel, eine Rauferei, ein Kuß! - sei es was es wolle: ich mußte in dieses mit erlahmender Triebfeder abschnurrende Leben eingreifen. Schon wollte ich aufs nächstbeste Lokal zugehen, als ein Mädchen mich im Vorbeischlendern mit einem blauen Blick infizierte. Ohne zu wissen, was ich tat, ging ich auf einmal neben ihr her. Sie sah aus wie das Mädchen auf dem Bilde „Der zerbrochene Krug“ La cruche cassée; ein rührend zartes Gesichtchen mit zu Küssen überredenden Lippen und großen blauen Unschuldsaugen, die im Zorne sicherlich schwarz wie die Nacht in bläulichen Blitzen gewitterten. Sie wandte ihr Gesicht plötzlich zur Seite und blickte mich voll an: im selben Augenblick war uns beiden der Preis gleichgültig, und wir schritten wortlos Arm in Arm weiter. Wir bogen in dunkle Seitengassen, nach rechts, nach links, dann wieder nach rechts, und kamen endlich durch ein finsteres Treppenhaus und einen stockdunklen Korridor in das Zimmer. Mit einer schüchternen Bewegung zündete sie die hängende Gaslampe an und zog die Fenstervorhänge zu (das Zimmer war ein Eckzimmer, eine sogenannte Laterne). Dann strich sie sich die Haare zurück und sah mich an ...
Mich packte ein heißer Ingrimm bei dem Gedanken, daß diese atmenden Siebzehn Jahre bis zu diesem Augenblick ohne mein Wissen gelebt hatten - sie gehörten mir! Man hatte mich Tag für Tag beraubt und bestohlen! Wer hatte es gewagt? ... aber nun war ja alles wieder gut. Und wenn alles wieder gut ist, kann jegliches zur Umarmung werden, die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut: es spielten unsere Hände für sich miteinander, so daß sich die fremden Finger begegneten und umschlangen. Aber da geschah plötzlich etwas: als ich einen ihrer zarten Finger sanft preßte, brach er ab. Ich blickte nach ihrem Gesicht - es lag geschlossenen Auges lächelnd da wie vorhin und schien nichts zu spüren. Ich sah rasch auf die Hand: entsetzlich, der Finger war wirklich abgebrochen, - und aus der Bruchstelle floß kein Blut, sondern sie war schwarz wie eine taube Nuß, wie ein schwammiger Bovist, von dem beim Knicken ein leichter Rauch aufsteigt.
Die stinkende Bovistin
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