Du hattest keine Tränen mehr

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Du hattest keine Tränen mehr

Du hattest keine Tränen mehr

Teleny Wilde

An dem Tag, Chris hatte viele Erinnerungen, als Sven mit seinen Eltern ausreiste, die DDR verließ, hatte er das erste Mal gezweifelt. Gezweifelt an diesem Land, an der Richtigkeit des politischen Systems, am Erwachsenwerden oder besser am Erwachsensein.Er war mit 4 Klassenkameraden auf den Bahnhof gegangen und hatte Sven verabschieden wollen. Es war ein Samstag gewesen und da der Zug direkt über die Grenze bei Paderborn nach Helmstedt fuhr, alles offensichtlich früh geschehen musste, also der Zoll, die Stasi und alle Formalitäten; sollte schon um 9.30 Uhr Abfahrt sein.
Chris hatte an dem Tag, als Sven ihm berichtete, das seine Mutter im Gefängnis war und sein Vater nicht mehr in die Firma durfte, zum ersten Mal von den Ausreiseanträgen seiner Eltern gehört und an die Tränen und die furchtbare Angst in Svens Gesicht konnte er sich noch gut erinnern. Was sollte nun werden, die Mutter im Gefängnis, Vater überwacht und Sven vielleicht bald ohne Chris, ohne diesen Jungen, der ihm derzeit mehr bedeutete, als das eigene Leben. Sven war so verzweifelt und er hatte zum ersten Mal gefragt, ob Chris heute Nacht bei ihm bleiben würde. Am ganzen Körper hatte er gezittert und die Atmosphäre in dem Kellergang, wo sie sich immer trafen, tat ihr übriges.
Sven hatte Chris gehalten und sich fest an ihn gedrückt. Er war so verzweifelt und mit seinen 15 Jahren doch auch schon so männlich und reif, das es Chris in dem Moment eiskalt über den Rücken lief. Dieser Junge, den er so liebte, war etwas ganz besonderes. Wie lange hatte er sich schon mit den Gedanken und den Ängsten herumgetragen, wie hatte er das nur ausgehalten, niemals auch nur eine Andeutung über die Probleme der Eltern gemacht zu haben.
Das fahle Licht schmeichelte jetzt Svens blonden Haaren besonders, sein Mittelscheitel, glatt zu den Seiten gelegt, glänzte und das schmale Gesicht war so verlockend, seine Tränen glitzerten wie Diamanten auf der weißen, weichen Haut, weich von der Jugend, weich aber auch durch das 40 Watt Glühbirnenlicht, dass seine kümmerliche Leistung durch das verschmutzte Glas dieser DDR Einheitslampenglocken hindurchkämpfen musste und von den fetten Kalkspritzern der geweißten Wände verklebt, ergab sich diese seltsame Beleuchtung, so anders und fremd und doch so vertraut für die beiden Jungen hier unten. Svens treuen Augen schauten Chris so verzweifelt an, das es zwischen den beiden knisterte und kribbelte, als seien sie statisch aufgeladen und jeden Augenblick ein Funke schlagen würde, um vom einen zum anderen überzutreten, so das Chris mit glutroten Wangen, erregt bis zum Äußersten, seinen straffen Körper an Svens drückte und beide spürten die Erektion ihrer Glieder und sich haltend, rieben sie ihre Körper, ihre Hosen aneinander.
So hatten sie oft im Keller von Svens Haus gestanden, hatten in dem schmalen Kellerraum, der ein altes Schlafsofa aus Svens Kinderzeit beherbergte, gelegen und miteinander geschlafen. Seit dem Wehrlager hatten sie regelmäßigen Kontakt und sie liebten es, sie genossen es, ihre Sinnlichkeit und Körperlichkeit zu erforschen und gegenseitig auszuprobieren. Sie waren sich so vertraut, als wären sie eineiige Zwillinge und sie hatten keine Geheimnisse voreinander.
So war es für Chris ein harter Schlag, das Sven niemals etwas von dem Ausreisegesuch der Eltern erzählt hatte. Noch ganz in Erregung und sich wie verrückt küssend und streichelnd, überlegte Chris, was wohl werden würde, wie er sich verhalten sollte.
Sven brauchte Trost, brauchte aber auch Mut. Er hatte sich klar gemacht, das Sven nicht der stabilste, nicht der Typ Mensch war, der durchreißt und das die Situation so ausweglos und beängstigend war, das es tatsächlich nicht viele Möglichkeiten gab, was man tun könnte.
Da kamen Chris Gedanken, wie die Möglichkeit wenn der Tag käme, an dem die Eltern in den Westen gehen würden, könnte Sven sich verstecken und so hier bleiben. Doch er kannte Svens Eltern und in dem Moment, als er diese Variante in Erwägung zog, war ihm auch schon klar, das sie es niemals zulassen würden. Dann überlegte er, Sven könnte doch jetzt schon mit den Eltern reden, könnte sie überzeugen, das er gern hier bliebe, und Chris könnte mit seinen Eltern reden, Sven vielleicht zu adoptieren; aber schon bei der Überlegung wurde Chris die Absurdität seiner Gedankengänge bewusst und er schämte sich, in diesem Moment nur an sich gedacht zu haben. Was würde Sven wollen, was waren seine Gedanken?
Sven schob seine Hand in die Hosentasche und zog sein kleines Schlüsselbund hervor. Er steckte den passenden Schlüssel in das Vorhängeschloss, öffnete die Brettertür und zog Chris an der Hand hinter sich her. Alles folgende geschah wortlos. Er verriegelte die Tür von innen, schob das Bund mit Schlüsseln zurück in seine Hose und drehte sich nun zu Chris. Ihn an den Hüften haltend begann er, sanft seine Lippen auf die von Chris zu pressen, sein Atem wurde schneller und intensiver und instinktiv glitten seine Hände vom Po auf die Vorderseite der Hose, bis er schließlich, seine rechte Hand genau zwischen den Beinen an Chris Knopfleiste der Jeans, am steifen Glied wiederfand, das er nun rhythmisch fest zu massieren und zu reiben begann. Er liebte es, einen Jungen so zu berühren. Es ließ ihn die Lust auf mehr, die Lust auf nacktes Fleisch, bis ins Unerträgliche steigern, bis das er es nicht mehr aushielt, bis sie beide begannen, sich auszuziehen und nackt auf die Liege sanken und ihre heißen Körper aneinander drückten und die Zeit vergaßen und die Angst und die Probleme des Tages, denn hier unten, miteinander vereint, war immer Nacht und Licht hatten sie nie gebraucht. Sie kosteten vom anderen und sie lagen vereint wie ein einziger Mensch, zwei Jungen, die sich liebten und die voneinander nicht genug bekamen.
Licht hätte sie verraten, schon eine Kerze wäre zu viel gewesen und so hatten sie, seit dem ersten Mal hier unten, es genossen, jede Rundung, jede Falte, jeden Vorsprung und jedes Stück Haut ihrer Körper durch den Tastsinn zu erkunden und den Reiz an den schönsten Stellen zu verstärken.
Sie hatten Stunden so dagelegen und sich gegenseitig und sich selbst betastet, gerieben, geleckt, geküsst und gedrückt. Sie kannten sich in und auswendig, es war phänomenal, wie man doch fast blind, mit den Fingern sehen konnte, wie man selbst durch die Berührung und die Lust, die sich daraus ergab, Bilder in den Kopf bekam und in den schönsten Vorstellungen schwelgen konnte.
Solche Vorstellungen und Bilder waren intensiv. Wenn sie sich oft danach, ineinander verschlungen und den Schweiß noch auf der Haut spürend, leise erzählt hatten, was sie empfunden hatten, was sie fühlten und dachten, dann waren es solche Bilder und Gefühle, die in dem Augenblick höchster Lust, wenn die Flüssigkeit, die aus ihren Hoden aufstieg, ganz dicht vor dem Überlaufen war, wenn die Samenleiter begannen zu kontrahierten und in dem Moment des Anhaltens, dem Versuch zu stoppen, was nicht mehr zu stoppen war, kurz vor dem ersten Erguss, der Ejakulation, die die Erfüllung und den schönsten Reiz darstellte, ihre Bilder beschrieben, dann waren es pure Empfindung, pure Lust und Geilheit, was sie spürten, sahen und sich gegenseitig berichteten.
In dem Augenblick des Orgasmus war da nichts außer eben die blanke Körperlichkeit. Keine wahren Gedanken oder Bilder sahen sie. Ihr Orgasmus war ohne Raum und Zeit. Irrational und weit weg von der Realität, dem Sein; und vielleicht war es im Unterbewusstsein auch genau das, was beide sich in ihrer Angst in dieser Nacht so wünschten; dieses Vergessen der Realität, dieser Rausch und wenn er auch nur Sekunden anhielt, so ließ er doch vergessen und die Entspannung der Muskeln danach und das ruhiger werden, dieser Frieden nach der Erregung und die Seligkeit der Liebe, waren ihr Trost in dieser Nacht.
Chris hatte das Schweigen gebrochen. In der ganzen Zeit war kein Wort gefallen, nur die Geräusche, die durch das Bewegen der Körper gegeneinander entstanden, das rhythmische Atmen, das schneller und tiefer wurde, je weiter es ging, waren noch im Raum als er Sven um seine Hände bat. Er tastete in der Dunkelheit nach den Fingern, die gespreizt in Richtung Decke ausgestreckt waren. Dann hielt er Svens Hände in den seinen und richtete sich auf. Er saß nun neben ihm und flüsterte nur ein Wort. Er fragte: „Wann?“ und die Stille ergriff wieder die Situation. Nun hatte auch Sven sich aufgesetzt und drehte sich so, das er genau gegenüber von Chris kniete. Chris ließ sich nach hinten zwischen seine Beine fallen und auch Sven setzte sich zwischen seine nach hinten geknickten Beine. Sich so gegenüber, an den Händen, Finger für Finger verzahnt ineinander haltend, schwiegen sie sich an.
Chris spürte jeden Atemzug von Sven auf seiner Brust. Benetzt vom Schweiß und der besonderen Feuchtigkeit des in jedem Quadratzentimeter deutlich spürbaren Hautareals seines Oberkörpers, welches von dem zu Tropfen gewordenem, feucht klebrigen Ergebnis ihrer Lust und nun, einmal in Bewegung gekommen, den Thorax in Richtung Schamberg laufend, zurück also zu der Region, der sie auch entsprungen waren, entlangbewegten Samens.
Einem Fließen, das die Eigenart hatte, als würden diese kleinen klebrigen Tropfen, verflüssigt nun, irgendwie doch auch leben und das Leben in ihnen, diese Ungeduld der Zellen, millionenfach und ihrem Naturell nach absolut verschwenderisch in der Zahl, sich auf den Weg machen und nur der Luftzug des Atem und die Körpertemperatur selbst konnten ihn aufhalten, eindicken wieder und zum Stillstand bringen, zur Ruhe und damit zum Eintrocknen, einer Bestimmung, die die Einbahnstraße der Evolution nur zu deutlich werden lässt. Schwule Liebe bleibt unfruchtbar, denn auf solchem Boden geht die Saat nicht auf...
Als er nicht mehr konnte, als es ihn so sehr quälte, und die Gedanken unerträglich wurden, fing er an zu fragen. Es platzte aus ihm heraus.
„Was solle nun werden, wann würde er gehen müssen und was solle aus ihnen und ihrer Liebe werden?“
In dieser Nacht schworen sie sich ewige Treue und sie schworen sich, niemals getrennte Wege zu gehen.
Auf dem Bahnhof, Chris hatte bereut, das seine Klassenkameraden mitgekommen waren, hatte es ihm den Hals zugeschnürt. Noch nie hatte er so empfunden, niemals so ein Gefühl gehabt. Er war fast ohnmächtig und die Dinge um ihn herum, nahm er nur wie durch einen Tunnel, ganz lang und am Ausgang so verjüngt, das man eigentlich nur einen winzigen Punkt sehen konnte, wahr.
Sven würde gehen. Er käme niemals wieder. Die DDR zu verlassen, das hieße zu gehen für immer. Die Kälte, die so ein Bahnsteig irgendwie immer ausstrahlt, ergriff ihn vollends und er fühlte sich gelähmt. Als Svens Eltern darauf bestanden einzusteigen, der Vater hatte Chris noch die Hand geschüttelt und ihm gewünscht, ein gesundes Wiedersehen feiern zu können, irgendwann und hoffentlich in einer gerechteren Welt, da kam der Augenblick, den beide so gefürchtet hatten. Sie hatten alles besprochen, sie wollten sich schreiben und sie wollten warten, warten bis sie erwachsen waren und selbst bestimmen durften. Sie hatten alles durchdacht und sie wollten stark sein. Doch in dem Augenblick, als Sven Chris die Hand gab, als sich ihre Blicke trafen und sie wussten, das es nun für eine so ungewisse und unbestimmte Zeit sich zu trennen galt, da wurde das ganze Ausmaß, die Tragweite dieser Entscheidung deutlich. Da ging gar nichts mehr.
Chris hatte sich alles mögliche an Dingen vorgestellt, doch diesem Blick seines Freundes und Geliebten, war er nicht gewappnet gewesen. Das konnte er nicht ertragen.
Als der Zug anfuhr, Sven am Fenster im Abteil weinend die Hände an die Scheiben legte, da hatte Chris das erste Mal dieses Land gehasst. Das war der Moment gewesen, als er sich fragte, was das hier eigentlich sollte und warum zwei Menschen, die von nun an vielleicht 200 km getrennt lebten, sich niemals wiedersehen sollten.
Er hatte nicht geweint und er kam sich schlecht vor. Er hatte sich, als der Zug längst fort war, das Bild in Erinnerung gebracht, das er noch so oft wiedererleben, wiedersehen sollte. Das Bild von Sven, wie er panisch vor Angst und mit dem Blick der Verzweiflung nach den Augen, nach einem letzten vertrauten sich Ansehen suchte und wie die Tränen ihm übers Gesicht rollten.
Unglaublich traurig und unfassbar hoffnungslos.
„Du hattet keine Tränen mehr, gestern als wir uns trafen, du zittertest, dein Blick war leer...“ fast zwei Wochen hatte Chris dieses Lied von Peter Maffay auf seinem kleinen Kassettenrecorder gespielt und hatte geweint. Niemand zu Hause, noch in der Schule konnten ermessen, warum Chris zu dieser Zeit so still und traurig war. Niemand außer sein Lehrer, Herr Roland.
Ihm hatte er alles erzählt, hatte Kontakt gesucht und die Warnungen und Befürchtungen seines Lehrers negiert. Seine Liebe sollte ein Politikum sein, sollte Interesse wecken?
Nein, das konnte sich Chris nun wirklich nicht vorstellen.
Als an einem Abend die Mutter nach Hause kam und ihn fragte, was diese blöde Aktion denn zu bedeuten hatte, wusste Chris zuerst nicht, auf was die Mutter heraus wollte. Als sie aber erzählte und völlig in Rage, begonnen hatte nur noch herumzuschreien, das sie bei einem Betriebsparteivorsitzenden eine Aussprache hatte und dieser ihr Bilder vom Bahnhof zeigte, auf dem Chris und die Klassenkameraden zu sehen gewesen seinen, da konnte er es nicht begreifen. Sein Lehrer hatte ihn gewarnt und er sollte Recht behalten.
Chris bekam eine ziemliche Tracht Prügel und es war seine erste Prügel, bei der er sich völlig unschuldig und ungerecht behandelt fühlte.
Er fand es so grausam, das die Mutter ihn strafte, für eine Sache, die er für die normalste der Welt gehalten hatte. Seinen besten Freund, so war ja die offizielle Meinung, zu verabschieden und Lebewohl zu sagen, das konnte doch nicht gegen das Gesetz verstoßen und wenn doch, was war das für ein Gesetz?
Chris hatte dieser Tage zum ersten Mal auch das Gefühl stärker zu werden, eine eigene Persönlichkeit zu sein, mit einem eigenen Kopf, mit eigenen Vorstellungen und Wünschen. So waren diese Gefühle sein einziger Trost, denn um ihn herum begannen alle, sich irgendwie nur gegen ihn zu stellen.
Seine Liebe begann zu schmerzen, denn der Entzug war radikal und endgültig. Er vermisste Sven so sehr, das er sich manchmal ertappte, im Unterricht oder beim Nachhausegehen, abends im Bett oder sonst irgendwo, Minuten lang in Gedanken zu finden, in Gedanken, die Bilder von Sven zeichneten, von glücklichen Stunden, vom Kennenlernen am Strand, von den ersten zaghaften Berührungen und den Vorstellungen, wie es sein könnte, mit diesem Jungen zu schlafen, von den schönen Stunden im Keller und ihrer gemeinsamen Freizeit.
Immer aber waren auch diese schrecklichen Bilder vom Bahnhof an diesem kalten Samstag, von seinem weinenden Sven dabei und das ließ ihm sein Herz bluten.
Er vermisste Sven so sehr, das er glaubte, niemals wieder lieben zu können.

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