Eine traurige Geschichte im „Runway 34“

Eine nicht alltägliche Familie - Teil 65

6 5-9 Minuten 0 Kommentare
Eine traurige Geschichte im „Runway 34“

Eine traurige Geschichte im „Runway 34“

Grauhaariger

Knappe zwei Stunden später saßen die beiden Frauen gemütlich beim Abendessen im Restaurant „Runway 34“, nachdem sich Olivia im Hotel und Angie vis-à-vis in den Personalräumen des Operation Centers ein wenig frisch gemacht und etwas Bequemeres angezogen hatten. Angie hatte in diesem Restaurant, welches direkt an der südwestlichen Ecke des Flughafengeländes gelegen war, einen Tisch für zwei Personen reserviert. Von außen sah das Restaurant eher wie eine Industriehalle aus, aber im Innern beherbergte das Runway 34 sogar eine alte russische Iljuschin Il-14T.
Bereits während des Apéros war eine besondere Stimmung zwischen den Frauen spürbar. Es waren die gleichen Schwingungen, welche Olivia bereits den ganzen Tag gefühlt hatte und die sie immer wieder ein wenig verwirrten. Sie bemerkte, wie sie von Angie mit ihren grünen Augen gemustert wurde.
Jetzt, in ihrem Schlabber-Look mit Jeans und Flanellhemd, sah Angie so anders aus als in der Uniform der Airline oder dem Fliegerkombi. Fast ein wenig burschikos war nun ihr Auftreten, denn zu ihrem Outfit gehörte noch eine Fliegerjacke mit Lammfellkragen, welche sie aber an der Garderobe aufgehängt hatte. Olivia hingegen war elegant, aber eher klassisch mit schwarzer Hose und einer passenden Bluse angezogen, also richtig Business Casual.
„So, nun frag schon. Du platzt doch schon vor lauter Neugierde …“, grinste Angie und brachte mit dieser Aussage die sonst so selbstbewusste Olivia ein wenig in Verlegenheit.
„Nun … wo soll ich anfangen … es ist …“, versuchte Olivia ihre Frage zu formulieren.
„Hör auf zu Stottern, das passt nicht zu dir“, lachte Angie und schüttelte nur den Kopf. „Also gut. Ich heiße Laëtitia Angélique Mirija Bischoff, bin 33 Jahre alt und in Vnà, einem kleinen Dorf in der Nähe von Scuol im Unterengadin aufgewachsen. Meine Eltern leben noch dort und ich habe noch zwei ältere Schwestern. Nach der Schule bin ich von zu Hause weg und habe eine Berufslehre als Flugzeugmechanikerin auf dem Militärflugplatz Emmen abgeschlossen.“
Sie unterbrach kurz ihre Erzählung, fuhr dann aber weiter: „Am Fliegen hatte ich schon immer Spaß und so habe ich nebenbei in Grenchen bei der ‚SPHAIR‘ die Privatpilotenausbildung und die Fallschirmspringerlizenz gemacht. Anschließend bin ich zum Militär gegangen und habe die Piloten RS (Rekrutenschule) absolviert und später dann noch die Offiziersschule drangehängt. Seit letztem Jahr bin ich im Range eines Hauptmanns bei der Lufttransport Staffel 4 eingeteilt und fliege hauptsächlich mit dem Super Puma und zwischendurch mal auf dem EC635 Eurocopter. Auf all diesen Typen habe ich zusammen fast 2500 Stunden absolviert. Und zum Ausgleich helfe ich dann zwischendurch als Betreuerin im SIM-Center bei Stephan aus. Er ist ein prima Kerl, aber manchmal ist er echt auch ein wenig verloren.“
„Wow …!“ Olivia musste das gehörte erst einmal verdauen. „Und wie passt jetzt der ‚Senior First Officer‘ in diese ganze Fliegerkarriere?“
„Eigentlich wollte ich mal Captain auf einem großen Brummer werden, wie der A330 und A340, oder auf der kommenden ‚Triple Seven‘ von Boeing. Von einem Flugzeug wie deiner A350 kann ich nur träumen. Deshalb war ich bei der Luftwaffe nur noch Milizpilotin, aber die ganzen Hilfs- und Rettungsmissionen haben sehr viel Zeit von der zivilen Karriere gefordert.“
„Was meinst du mit Hilfs- und Rettungsmissionen?
„Löscheinsätze im letzten Jahr bei den großen Waldbränden in Portugal, SAR-Einsätze im Inland und benachbarten Ausland, insgesamt zwei komplette Missionen für die KFOR im Kosovo und noch ein paar Sachen mehr.
Aber die Geschichten mit dem KSK (Kommando Spezialkräfte) darf ich erst in fünfzig Jahren erzählen“, meinte Angie augenzwinkernd. „Geheimhaltung. Du verstehst?“
„Und wegen all der Einsätze hast du jetzt Probleme bei der Airline?“ fragte Olivia weiter.
„Ach, weißt du, eigentlich möchte die Airline schon, dass ich den Schritt zum ‚Captain‘ machen würde, aber dann müsste ich die militärische Fliegerei auf das absolute Minimum reduzieren oder ganz aufgeben. Leider habe ich bis jetzt von meinem Arbeitgeber aber keine klare Aussage betreffend einer Beförderung für den ‚vierten Streifen‘ erhalten. Die letzten zwei Jahre wurde ich immer mit schönen Worten vertröstet und hingehalten.“ Angie nahm einen Schluck von ihrem alkoholfreien Bier und erzählte weiter. „Auf der anderen Seite ist die Luftwaffe sehr an meiner Karriere interessiert. Du weißt, wie das ist …! Als ich noch Leutnant und Oberleutnant war, habe ich viele Missionen auf Abruf geflogen, auch solche, die ich als Milizpilotin eigentlich gar nicht hätte fliegen dürfen.
Aber ich war jung, war engagiert, bin NICHT Jetpilotin geworden und war dadurch etwas unfreiwillig ein wenig das Aushängeschild der Lufttransportgeschwader. Aus diesem Grund konnte ich an vielen Einsätze teilnehmen, welche ein normaler Milizpilot nicht fliegen durfte.“
„Aber wie sieht jetzt deine Zukunft aus?“
„Ganz einfach. Dies ist mein letzter Monat bei der Airline. Ich habe gekündigt und beginne am ersten des nächsten Monats drüben auf der Fliegerbasis Dübendorf beim Lufttransportgeschwader 3 in der Führungsunterstützung als Fluglehrerin.“
„Dann wünsche ich dir viel Glück beim Wechsel“, meinte Olivia und erhob ihr Wasserglas zum Anstoßen. Sie genehmigten sich einen großen Schluck von ihren Getränken und ließen die letzten Minuten Revue passieren.
„Jetzt habe ich aber für den Moment genug erzählt“, sagte Angie. „Wie sieht es bei dir aus? Ich bin auch eine Frau, bin neugierig und will alles wissen …?“ lachte sie.
„Ich denke mal bei mir war der bisherige Weg nicht so spannend“, begann Olivia mit ihren Ausführungen. „Also, ich habe nicht so viele Namen wie du. Meiner ist ganz nur Olivia Andersson, bin halb Deutsche, halb Schwedin und in der Hansestadt Stralsund aufgewachsen. In knapp zwei Monaten werde ich dreißig Jahre alt und bin seit dem 30.05.2016 mit Martin verheiratet, einem rund zwanzig Jahre älteren und sehr gefühlvollen Mann. Seit dem letzten Herbst bin ich auch noch ‚offiziell‘ Mutter von zwei wunderbaren Kindern.“
„Wie, meinst du das ‚offiziell‘ Mutter?“ wurde Olivia von Angie unterbrochen.
„Ich kann leider keine eigenen Kinder bekommen“, entgegnete Olivia ein wenig traurig und schon legte Angie wie zum Trost eine Hand auf ihre. Sofort spürte Olivia wieder dieses verwirrende Gefühl bei der körperlichen Berührung der anderen Frau. Sie riss sich zusammen und fuhr mit der Erklärung fort: „Aus diesem Grund haben mein Mann und ich zwei Waisenkinder adoptiert und letzten Herbst hat die ganze Bürokratie ihren Segen dazu gegeben.“
„Hast du auch Bilder von den Kids?“
„Ja sicher.“ Olivia holte ihr Handy aus der Tasche und suchte in der Bildergalerie Bilder von ihrer Familie.
„So schön!“, freute sich Angie und strich dabei weiter über die Hand von Olivia. „Und, wie geht es weiter in deinem Lebenslauf?“
„Och … da kommt nichts, was du nicht auch kennst. Theorie in Bremen, danach Flugausbildung in Arizona, zurück nach Frankfurt und weiter bis zur Co-Pilotin. Inzwischen bin ich zur Flugkapitänin auf der neuen A350 aufgestiegen. Dies, nachdem ich bei einem medizinischen Notfall den Bordcomputer einer A321-200 überlistet habe und fast im ‚Sturzflug‘ eine Notlandung in Barcelona hinlegte. Jetzt mache ich zusätzlich noch Flugzeugabnahmen im Auftrag der Airline bei Airbus in Toulouse für alle neu abgelieferten A350 der Airline. Als ich während so einer Abnahme den Bordrechner ausgetrickst und eine A350 fast zum Absturz gebracht habe, wollten mich die Franzosen glatt als Testpilotin für Airbus einstellen.“
„Puh …“, entgegnete Angie und schüttelte den Kopf. „Da sagst du was von nicht so spannend. Bisch a dummi Nuss!“ kam noch auf Mundart hinterher.
Im weiteren Verlauf des Abends genossen sie das gute Essen und sprachen über vielerlei Themen. Sicher war die Fliegerei ein Diskussionspunkt, aber es wurde auch noch viel über persönliche Dinge gesprochen.
„Woher stammt eigentlich dein Name?“, wollte Olivia plötzlich wissen.
„Keine Ahnung“, antwortete Angie. „Bischoff ist aber ein typischer Nachname aus der Region um Scuol. Außerdem war es in den 80er-Jahren bei uns sehr verbreitet, Mädchen auf Vornamen wie Maria, Magdalena, Johanna und auch Laetitia zu taufen. Bei mir wurde es halt dann zu Laëtitia und die weiteren Vornamen stammen von meinen Großmüttern. Was aber niemand ahnen konnte, dass ich den gleichen Vornamen habe wie eine ehemalige Pornodarstellerin aus dem Oberengadin. Unter diversen Künstlernamen war Laetitia Zappa, so hieß sie mit bürgerlichem Namen, in diversen Pornofilmen zu sehen und der große Eklat kam Mitte der 90er-Jahre, als sie in einem Dok-Film des Schweizer Fernsehens zu sehen war. ‚Heidi im Pornoland‘ war der Titel und es wurden dabei auch Praktiken angesprochen wie etwa Analsex. Sogar auf politischem Weg hatte man versucht, die Ausstrahlung dieser Sendung zu verhindern …!“
„Was? So viel Aufregung wegen ein bisschen Sex?“, lachte Olivia. „Aber wenn wir schon von Sex sprechen … ich bin auch eine Frau und neugierig. Wie sieht es mit deinem Liebesleben aus? Hast du auch …?“ Weiter kam Olivia nicht. Sie sah nur, dass Angie plötzlich einen abwesenden und traurigen Blick hatte.
Olivia merkte sofort, dass ihre doch eigentlich harmlose Frage bei Angie etwas sehr Aufwühlendes hervorgerufen hatte. Sie sah es an den Augen, an dem abwesenden Blick, dass Angie sich an etwas sehr Bewegendes erinnerte. Nun war es Olivia, die Angies Hände nahm und festhielt. Obwohl die Stimmung gerade sehr ernst war, konnte sie sich dieses wiederkehrenden Gefühls nicht entziehen, wenn sie Angie auch nur berührte. Es fühlte sich an wie bei einer aufkeimenden Liebe, aber Olivia war doch nicht lesbisch, war ihre Meinung. Vielleicht nur eine leichte Bi-Tendenz …
„Oh, Angie, es tut mir leid …“, begann Olivia sich zu entschuldigen.
„Ach, schon gut“, schnitt ihr Angie das Wort ab. „Es ist nur jedes Mal so …“, sie stieß einen Seufzer aus. „Inzwischen ist es fast sieben Jahre her, da war ich unsterblich in Zoë aus Samedan im Oberengadin verliebt. Ich kannte sie schon längere Zeit, nur hieß sie damals noch Andrin und war ein Nachkomme einer großen ansässigen Hoteldynastie. Als Zoë und ich unser Glück gefunden hatten, war sie bereits Transgender und obenrum vom Aussehen her eine richtige Frau, so richtig mit einem schönen Busen. Unten jedoch war immer noch alles im natürlichen Zustand und sie hatte immer noch ihren Penis. Aber das war für mich völlig in Ordnung. Ich liebte Zoë, wie sie war, und sie konnte mich ebenfalls glücklich machen, auch im sexuellen Bereich. Bis zu dem Tag …!“
Während der Erzählung über Zoë hielt Olivia weiterhin die Hände von Angie. Sie spürte richtiggehend die Traurigkeit der Frau gegenüber, aber sie spürte auch weiterhin ein anderes Gefühl. Angie nahm nochmals einen Schluck aus ihrem Glas und erzählte weiter.

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 896

Weitere Geschichten aus dem Zyklus:

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben