Es schneite nun schon über zwei Stunden und für Matthias wurde es langsam Zeit, zum Einkaufen zu gehen. Nicht, dass der Schnee nachher so hoch lag, dass er Mühe hatte durch zu kommen.
Das Wochenende stand bevor und am Montag war Heiligabend, das hieß mindestens 4 Tage ohne Einkaufsmöglichkeit.
Also zog er sich seine hohen Winterstiefel und seine Winterjacke an. An seiner Wohnungstür drehte er noch mal um und setzte sich auch seine Mütze auf. Er trug nicht gerne eine Kopfbedeckung, aber Schnee war bei seinem schütteren Haar sehr unangenehm.
Mit dem Stoffbeutel bewaffnet machte er sich auf dem Weg zum SB-Laden, der keine hundert Meter von seiner Wohnung entfernt lag.
Das Schneetreiben hatte noch zugenommen und auch der Wind war stärker geworden, sodass Matthias sich in gebeugter Haltung dagegen stemmte. Als er an dem SB-Laden ankam, musste er sich erst mal den pappigen Schnee von der Jacke und von seiner Mütze klopfen.
In dem hellen Laden war es warm und Matthias schob den Einkaufswagen in aller Ruhe durch die Regale. Es war zwar schon nach 18 Uhr, aber noch recht voll, sodass er ein schlechtes Gewissen gegenüber den Berufstätigen bekam. Denen jetzt im Wege zu stehen, daran hatte er nicht gedacht! Warum war er nicht schon früher gegangen? Er war in Altersteilzeit und hatte nur noch drei Monate, bis zu seiner regulären Altersrente.
Matthias brauchte nicht viel. Ein paar Fruchtjoghurts, etwas Margarine, etwas Aufschnitt sowie Käse und Frischkäse. Marmelade hatte er noch.
Gerade wollte er noch zurück zur Obst.- und Gemüseabteilung gehen, weil er seine Äpfel vergessen hatte, als er die verhärmte Frau sah.
Er kannte die Frau vom Ansehen aus seiner Nachbarschaft, wusste aber ihren Namen nicht, da sie im hinteren Wohnblock wohnte. Ihm war aufgefallen, dass er weder sie noch ihren Mann in der letzten Zeit gesehen hatte. Seine Wohnung lag im zweiten Stock und im Sommer konnte er auf die Terrasse der beiden Eheleute sehen. Was Matthias so von weitem erkennen konnte, gingen die Beiden immer sehr liebevoll miteinander um. Ab und zu nickten sie zu ihm rüber wenn sie ihn bemerkten, aber das war auch schon alles. Sie hatten noch nie ein Wort miteinander gewechselt, eben weil sie sich noch nie über den Weg gelaufen waren.
Matthias packte sich noch drei Bananen in den Einkaufswagen, zehn Eier und ging dann langsam in Richtung der Frau, die mit dem Rücken zu ihm stand und unschlüssig in das Kühlregal schaute.
Matthias schätzte sie etwa in seinem Alter, ihr Mann war etwas älter und müsste wahrscheinlich auch schon länger in Rente sein.
Die Frau trug einen dünnen, braunen Stoffmantel, der etwas zu groß zu sein schien. Zu mindestens schlackerte der Stoff um ihre hagere Gestalt.
Matthias konnte sich noch gut daran erinnern, wenn sie im Sommer in kurzer Hose und dünnem T-Shirt in der Sonne gelegen hatte, dass sie für ihr alter noch sehr attraktiv war. So manches Mal hatte er sich dabei ertappt, dass er durch die Gitterstäbe des Balkongeländers zu ihr rüber gespäht hatte und ihren Mann umso eine schöne Frau beneidete.
Matthias war schon seit zwölf Jahren von seiner Frau geschieden, sie hatten sich einfach auseinander gelebt und Gerda hatte sich dann urplötzlich in einen jüngeren Mann verliebt und war Hals über Kopf bei ihm ausgezogen.
So spielte nun mal das Leben und er hatte sich mittlerweile ganz gut an das Alleinsein gewöhnt. Für Frauen und eine eventuelle Beziehung, hatte er nach dem Scheitern seiner Ehe keinen Gedanken mehr verschwendet.
Stopp, das ist nicht ganz richtig! Denn für schöne Frauen hatte er immer noch einen Blick und dazu gehörte eindeutig seine Nachbarin, die jetzt langsam zur Kasse ging.
Matthias folgte ihr, da er seinen Einkauf auch erledigt hatte und reihte sich hinter ihr in die Schlange ein.
Als die Kassiererin die wenigen Sachen seiner Nachbarin eingescannt hatte und es ans Bezahlen ging, wurde seine Nachbarin hektisch. Sie kramte in ihrer Umhängetasche scheinbar nach ihrer Geldbörse.
Dann schaute sie die Kassiererin mit entsetzten Augen an und sagte mit belegter Stimme: „Ich habe mein Portemonnaie Zuhause auf dem Tisch liegen lassen.“ Es war ihr sichtlich peinlich.
Matthias überlegte nicht lange, nahm den Warentrenner vom Band und sagte zu der Kassiererin: „Nehmen sie meins noch dazu, ich übernehme die Rechnung! Ich kenne die Dame, ist meine Nachbarin!“
„Das ist aber nett von ihnen!“, sagte die Kassiererin und scannte auch seine Sachen.
Matthias Nachbarin schien wie erstarrt, schaute ihn mit feuchten Augen sprachlos an und vergaß dabei ihre Sachen einzupacken.
Er bezahlte und als sie immer noch keine Anstalten machte ihre Sachen einzupacken, nahm er ihr ihren Beutel ab und tat ihren Einkauf rein, zusätzlich noch seine sechs Eier und die drei Bananen. Er hatte das Gefühl sie könnte die Eier und die Bananen eher gebrauchen als er.
Nachdem er seinen Rest eingepackt hatte, wandte er sich an seine Nachbarin: „Sie kennen mich doch, ich wohne gegenüber im zweiten Stock, wir haben uns im Sommer manchmal zugewunken, erinnern sie sich?“
Jetzt kam ein Leuchten in ihre Augen, als sie ihn erkannte. „Sie sind das!“, sagte sie so leise, dass Matthias sie kaum verstand.
„Ich heiße Matthias!“, stellte er sich vor.
„Matthias.“, wiederholte sie ebenso leise.
Er nahm ihren Einkaufsbeutel und bot ihr seinen Arm an: „Kommen sie ich begleite sie, nachhause.“
Zögernd hakte sie sich bei ihm ein.
„Und wie heißen sie?“, fragte Matthias sie nach ihrem Namen.
Nach einigen nachdenklichen Sekunden sagte sie: „Anne.“
Als sie aus dem SB-Laden traten, hatte es noch mehr angefangen zu schneien. Auch der Wind hatte zugenommen, sodass Matthias froh war, Anne im Laden getroffen zu haben. Es hätte bei dem Wetter und ihrem jetzigen körperlichen Zustand schlimm für sie enden können.
Für das kurze Stück bis zu ihrer Haustür brauchten sie bei dem Sturm fast eine halbe Stunde und nachdem Anne mit zitternden Fingern endlich ihren Schlüssel gefunden hatte, waren sie beide ziemlich durchgefroren.
Da Anne das Schlüsselloch mit ihren klammen Fingern nicht finden konnte, nahm Matthias ihr das Bund aus der Hand und öffnete für sie die Tür und schob sie dann ins Treppenhaus.
„Welcher Schlüssel gehört zu deiner Wohnung?“, fragte Matthias und hielt ihr das Bund hin.
Selbstsicher zeigte sie auf einen Schlüssel, mit einer gelben Kappe. Und tatsächlich passte der und Matthias konnte die Tür öffnen.
Jetzt kam Leben in die zierliche Person, hier kannte sie sich aus!
Für Matthias war es ein Schock, in der Wohnung war es im wahrsten Sinne arschkalt.
Was war hier los? Wo war ihr Mann?
Er wandte sich an Anne, dachte sich nichts dabei, einfach zum „du“ übergegangen zu sein: „Wo ist dein Mann?“, fragte er Anne, die in der Zwischenzeit ihren Mantel ausgezogen hatte und nun mit einem dünnen Kleid vor ihm stand.
Sie schien etwas nachzudenken, sagte dann aber mit tränenerstickter Stimme: „Tod!“
Matthias hatte schon so etwas geahnt, der Zustand dieser Frau und ihre Verwirrtheit konnten nur von einem grässlichen Schock herrühren.
Er führte sie ins Wohnzimmer und ließ sie im Sessel platznehmen, machte dann erst mal die Heizung an und deckte Anne mit einer Decke zu, die er seitlich an ihrem Körper feststeckte. Als er ihr dabei etwas näher kam, schlang sie auf einmal ihre Arme um ihn und zog ihn an sich: „Danke!“, flüsterte sie.
Sie hatte ihn so fest umarmt, dass er vor ihr auf die Knie gehen musste.
Auch wenn sie nicht besonders gut roch, weil sie wahrscheinlich schon einige Tage nicht mehr geduscht oder gebadet hatte, so hielt Matthias eine ganze Weile still, bis sie ihre Arme lockerte.
Er erhob sich und sagte zu ihr: „Bleib schön sitzen, ich pack mal eben deine Sachen in den Kühlschrank.
Der Kühlschrank gähnte vor Leere und roch unangenehm, sodass Matthias ihn erst einmal sauber machen wollte.
Er zog seine Winterjacke und seine Stiefel aus und als er die Jacke an die Garderobe auf dem Flur gehängt hatte, entdeckte er die Tür zum Bad.
Auch hier etwas Unordnung, schmutzige Wäsche von Anne lag auf dem Fußboden. Er räumte die Wäsche in den Korb unter dem Waschbecken, und nachdem er geprüft hatte, ob es warmes Wasser gab, ließ er Wasser in die Wanne laufen. Im Spiegelschrank fand er Duschgel und gab davon etwas in das Wasser, bis sich Schaum bildete.
Nachdem genug Wasser in der Wanne war, stellte er den Zulauf ab und ging zu Anne ins Wohnzimmer und um sie zu holen.
Doch sie hatte die Decke fest um sich gezogen und hielt die Augen geschlossen. Sie schien eingeschlafen zu sein.
Er kniete sich, wie vor kurzem erst, wieder vor ihr hin und betrachtete ihr eingefallenes Gesicht. Es war erschreckend, was so ein Verlust mit einem Menschen machen konnte. Sie war immer noch schön, nur etwas hager geworden. Ihre rechte Hand, mit der sie die Decke vor der Brust hielt, war schmal und ihre langen Finger machten auf Matthias einen graziösen Eindruck.
„Anne?“, sagte er leise und berührte vorsichtig ihr Knie.
Erschrocken öffnete sie ihre Augen und Matthias erkannte erst jetzt, was sie für wunderschöne, grüne Augen hatte.
„Matthias?“, sagte sie fragend und Matthias wunderte sich, dass sie seinen Namen behalten hatte.
„Ja, ich bin es! Ich habe dir Wasser in die Wanne gelassen, möchtest du nicht etwas Baden? Das wird dir sicherlich gut tun!“
Er erhob sich und zog sie mit hoch. Was sie etwas widerstrebend mit sich machen ließ. Im Bad fragte er: „Kannst du dich alleine ausziehen?“
Sie schaute ihn etwas empört an: „Natürlich kann ich mich alleine ausziehen!“, und begann ihr Kleid aufzuknöpfen.
Jetzt wurde es Zeit für Matthias das Bad zu verlassen. „Wenn du Hilfe brauchst einfach Matthias rufen!“
Er ging zurück in die Küche und suchte unter der Spüle nach Reinigungsmittel und fand es zum Glück dort, wo viele Menschen solche Sachen aufbewahrten.
Eine viertel Stunde später hatte er den Kühlschrank so weit sauber, dass er die Lebensmittel einräumen konnte, als er plötzlich Annes dünnes Stimmchen hörte.
„Matthias?“
Er klopfte, bevor er vorsichtig die Tür öffnete.
Der Blick ihrer grünen Augen, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen, sie schien aus ihrer Lethargie erwacht zu sein, denn so klar hatte sie ihn die ganze Zeit noch nicht angesehen.
Eine wundersame Weihnachtsgeschichte
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Vielen
schreibt UHS_1960