Das einsame Haus

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Das einsame Haus

Das einsame Haus

Yupag Chinasky

Nach dem Essen überlegte er, was er mit dem Rest des Tages anfangen sollte. Zurück auf sein Zimmer wollte er nicht. Es war zu trostlos und die Gefahr einzuschlafen war zu groß, selbst lesen würde ihn nicht wach halten. So beschloss er, trotz seiner Müdigkeit, trotz der immer noch andauernden Hitze und obwohl er eigentlich gar keine Lust hatte, den Ort zu erkunden. Er ging eine lange Straße hinunter, bog in eine schmale Querstraße ein und ging eine andere, ebenso lange wieder zurück. Die Häuser sahen sich alle sehr ähnlich, sie waren schäbig, manche gar halb verfallen. Und noch immer schien der ganze Ort menschenleer zu sein, zumindest war er der einzige, der um diese Zeit durch die Straßen pilgerte. Er kam sich vor, wie in eine andere Zeit versetzt, als sei er Mitwirkender in einem Schwarz-weiß-Film der fünfziger Jahre und er hätte sich nicht gewundert, wenn eine Horde Desperados die sandige Hauptstraße herangaloppiert käme. Das einzige Objekt, neben den Fernsehantennen auf vielen Dächern, das eine Zuordnung zu der Jetztzeit erlaubte und eine Anbindung an den Rest der Welt versprach, war eine öffentliche Telefonzelle an der Bushaltestelle auf dem großen Platz, auf dem er schon nach kurzer Zeit seine Ortsbegehung beendete.

Er beendet sie, weil es in diesem ausgestorbenen Nest einfach nichts zu erkunden gab. Sollte er wieder zurück in sein trostloses Hotel? Nein, dann lieber noch einen Spaziergang der Umgebung. Wenn es in der „Zivilisation“ nichts zu erkunden gab, dann vielleicht in der Natur, deswegen war er ja auch hergekommen. Vor dem Ort folgte er einem sandigen Weg in Richtung eines Hügels, der sich jedoch, je näher er kam, als ausgewachsener Berg entpuppte. Farne und Kakteen wechselten sich mit dornigem Gestrüpp und ganzen Büschen von gelben Blumen ab. Als er den Fuß des Berges erreichte, ging der spärliche Bewuchs in einen trockenen Kiefernwald über, der ihm wenigstens etwas Schatten bot, denn die Sonne brannte immer noch mit großer Intensität. Aber auch hier, unter den Bäumen, war es heiß und schwül und stickig. Doch die würzige Luft entschädigte ihn ein wenig, es roch nach Harz, nach würzigen Kräutern, nach Hitze und Sommer. Zahlreiche Insekten begleiteten ihn, die Grillen und Zikaden mit ihrem lautes Konzert, die Fliegen mit ihrem lästigen Summen, nur die Moskitos hielten sich noch zurück. Die Freude an den schönen Schmetterlingen, den sporadisch auftauchenden Vögeln und den seltsamen, bläulichen Eidechsen, die noch seltener aufkreuzten, konnte die Mühsal der Wanderung allerdings nur bedingt ausgleichen, zumal der Weg nun immer steiler wurde. Er schwitze und schnaufte und bereute, dass er sich auf diesen Unsinn eingelassen hatte, auf einen Spaziergang, der längst zu einer ausgedehnten Wanderung, ja zu einer anstrengenden Exkursion ausgeartet war. Er war kurz davor umzukehren, als der Weg schließlich nach einer letzten Kurve auf einem Plateau endete.

Der Wald hatte sich gelichtet und vor ihm lag eine Terrasse, die an einer steilen Abrisskante jäh endete. Staunend, fasziniert, fast ungläubig schaute er auf die Landschaft, die nun vor ihm lag. Hier, am Rand des Steilabfalls, bot sich ein traumhafter, ja geradezu berauschender Blick auf eine weite Ebene und er wurde endlich für die Mühen belohnt, die er auf sich genommen hatte. Denn er sah auf ein fein modelliertes Kunstwerk, entstanden durch zahlreiche Abstufungen von sanften Hügeln und flachen Tälern, hohen Bäumen und niedrigen Büschen, bemalt mit hellen Sonnenflecken und tiefschwarzen Schatten und bläulichen Bergen, die ganz weit am Horizont schimmerten. Aus dem Grün dieser Ebene ragte eine Reihe auffallender Landmarken hoch empor, isoliert stehende, dicht bewachsene Kalksteinhügel, die wie überdimensionale grün-weiß gesprenkelte Termitenhügel aussahen und dem Park seinen Namen gegeben haben, die „torres“. Das Schönste aber war das Licht der tief stehenden Sonne, das dieses Mandala von Landschaft in prächtige, intensive gelb-orange-rote Farben tauchte. Er setzte sich an den äußersten Rand der Terrasse und schaute und schaute und staunte und bedauerte, dass er seinen Fotoapparat nicht mitgenommen hatte. Es wäre zu schön gewesen, diese visuelle Orgie der Extraklasse festzuhalten. Doch das war nun leider nicht möglich und so pries er stattdessen sein Glück, die Wanderung doch noch unternommen zu haben, die ihn zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort geführt hatte. Durch reinen Zufall war er an eine Stelle geraten, von der aus sich der Park als pure Märchenlandschaft präsentierte und er wunderte sich ein wenig, dass dieser phantastische Ort in seinem schlauen Reiseführer nicht aufgeführt war. Aber was soll's? Er hatte ihn für sich entdeckt und nur das war wichtig. Alle Mühen und Anstrengungen waren nebensächlich geworden, die Müdigkeit war verflogen und selbst der Frust über das schäbige Quartier, das unzumutbare Essen und den unfreundlichen Wirt hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst.

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