Die Haustür war nur angelehnt. Er drückte sie auf und betrat unmittelbar einen großen Raum. Einen Raum, der genauso schmucklos und nüchtern, genauso wenig anheimelnd war wie der Mehrzweckraum in seinem Hotel. An der einen Wand eine Theke, in der Mitte ein paar Tische und Stühle. Hier war es dunkler als draußen, aber auch kühler. Auch dieser Raum war menschenleer. Niemand war da, an den er sich hätte wenden, den er um ein Getränk hätte bitten können. Er wartete eine Weile und wollte sich schon durch Rufen bemerkbar machen, aber aus einem unbestimmten Impuls heraus, tat er es nicht, sondern betrat stattdessen durch eine halb hohe Schwingtür einen schmalen Flur. Der Flur war fensterlos und deshalb noch dunkler und in ihn mündete eine Reihe von Türen, die er nur schemenhaft erkennen konnte und die vermutlich in die Gästezimmer führten. Vor einer Tür sah er einen hellen Schimmer auf dem Fußboden, das einzig Helle in diesem dunklen Flur, weil sie halb offen war. Neugierig stieß er sie ein Stückchen weiter auf, dabei entstand ein leises, quietschendes Geräusch. Nun stand er auf der Schwelle und blickte in das Zimmer. Es war klein und ähnlich karg eingerichtet, wie das in seinem Hotel. Auch hier waren die Wände weiß gekalkt und der Fußboden gefliest. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein weit geöffnetes Fenster, davor hing ein heller Vorhang. Auf der rechten Seite stand an der Wand ein kleiner Tisch, davor ein Stuhl, auf der linken eine hohe, dunkle Kommode mit einer weißen Venus aus Porzellan, die sich wollüstig räkelte. Über der Venus hing etwas, das nicht mehr genau zu erkennen war, ein Bild oder ein Kalender, denn inzwischen war das späte Abendlicht schon fast ganz verschwunden und die fortschreitende Dunkelheit erfüllte den Raum. Doch selbst wenn es noch heller gewesen wäre, hätte er kaum einen Blick für das Bild verschwendet, genauso wenig wie für das restliche Zimmer. Er sah all das nur nebenbei, quasi aus den Augenwinkeln, denn seine ganze Aufmerksamkeit galt dem großen Bett, das mitten im Raum stand, nahezu quadratisch, mit einem halbkreisförmigen, verschnörkelten Metallgitter am Kopfende und einem weißen Laken auf der Matratze. Aber auch das Bett hätte er wohl mit derselben Flüchtigkeit zur Kenntnis genommen und wäre nach einem kurzen Rundblick wieder zurück in den Gastraum gegangen, wenn da nicht etwas gewesen wäre, das ihn veranlasste, gebannt im Türrahmen stehen zu bleiben und auf dieses Etwas zu starren. Es fesselte seinen Blick in einem Maße, dass er nicht mehr wegschauen konnte, es faszinierte ihn mehr als das herrliche Naturwunder im Licht des späten Nachmittags.
Dieses Etwas war eine schlanke, junge Frau, die auf dem Bett lag und deren dunkle Haut sich von dem hellen Laken genauso deutlich abhob, wie die weiße Unterwäsche von ihrer Haut. Sie hatte wohl geschlafen und war vermutlich durch das Quietschen der Türangel aufgewacht. Jedenfalls sah sie ihn mit großen, dunklen Augen an, in denen das Weiß der Augäpfel leuchtete. Sie schien zwar über seinen Anblick genauso überrascht zu sein, wie er über ihren, machte aber keineswegs einen erschrocken oder gar verlegen Eindruck, eher einen neugierigen. Inzwischen war er sich der Peinlichkeit der Situation bewusst geworden und murmelte eine Entschuldigung wegen seines unerlaubten Eindringens in ihr Schlafzimmer. Er sei auf der Suche nach dem patron oder einer Bedienung, jedenfalls nach eine Person, die ihm ein Getränk geben könne. Die Frau starrte ihn weiterhin stumm an, setzte sich dann aber auf und fuhr mit beiden Händen durch ihre langen, krausen Haare, um sie zu ordnen. Er stammelte nochmals eine Entschuldigung und fragte dann, ob sie zum Personal gehöre und ihm vielleicht etwas zu trinken besorgen könne. Doch er bekam auch diesmal keine Antwort, dafür ein Lächeln, das er in dem knappen Licht gerade noch erkennen konnte. Da sie stumm blieb und auch keine Anstalten machte, aufzustehen, vermutete er, dass sie ein Gast war, den er beim späten Mittagsschlaf gestört hatte. Vielleicht war sie auch nur verwirrt, weil sie gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht und noch immer von einem Traum gefangen war. Sie starrte ihn jedenfalls weiterhin unverwandt an, mit Augen, in denen die weißen Augäpfel mittlerweile das Hellste zu sein schien, das es in dem Zimmer gab.
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