ESTARTIT

(Die Erinnerung)

5 3-6 Minuten 0 Kommentare
ESTARTIT

ESTARTIT

BeautifulExperience

Für Nadine und alle Mädchen dieser Welt

Als ich gestern nacht schlafen ging, hatte ich einen Traum: ich badete meine Augen im Sonnenlicht, meine Haut kribbelte erwartungsvoll in der Spätsommerwärme. Ich genoß den Geruch von frischem Gras und mein Geist wanderte über den Wolken. Ich erschrak in meinem Herzen, als ein dunkler Schatten auf meine Augenlider fiel.
Ich setzte mich auf und sah ein Mädchen, in weißen Stoff gehüllt. Es hielt etwas verborgen in den Händen und sah mich mit großen Augen an. Augen so blau wie der Himmel, so blau wie das Meer.
In ihren Augen sah ich Anfang und Ende der Welt.
Ihre Stimme hielt mich wie in einem Zauber gefangen. Millionen Sonnenstrahlen brachen sich in ihrem goldenen Haar, und alle Sterne des Himmels explodierten in meinem Kopf.
Als ich dann aufwachte, hätte ich schwören mögen, daß mein Herz so wild und verzweifelt pochte, als wollte es mir aus der Brust springen.
Ich hielt meine Hände davor gepreßt und holte tief Atem, die Augen weit offen wie im Traum.
Ich stand auf, taumelte ins Bad und sah mich selbst an im großen Spiegel. Was ich sah, waren himmelblaue Augen, die ich niemals hatte.
Augen so blau wie der Himmel, so blau wie das Meer.
Meine linke Hand im Spiegel hielt etwas umschlossen, etwas Zartes, Kühles, Zerbrechliches. Ich lockerte den Griff meiner Finger, öffnete die Hand, und goldenes Licht blendete meine Augen.
In meiner Hand brannte die Sonne selbst, nicht heiß, nicht kalt, sondern unendlich sanft.
Voller Erstaunen betrachtete ich ihren goldenen Glanz, der sich vor meinen Augen verdichtete, fest wurde und schließlich erlosch.
Nur ein heimliches, verzaubertes Glimmen blieb zurück, ein strahlendes Glimmen in ihrem goldenen Ring.
Mir schenkte sie ihre Augen, und dir gebe ich ihren Ring.
Er wird dir Glück bringen, so oft du dich an meinen Traum erinnerst und daran, woher er gekommen ist.
Die Sonne aber war die Sonne von Estartit.
Jedes Wort, das ich schreibe, kommt nicht an das heran, was ich fühle. Alles, was ich zu Papier bringe, bleibt seltsam leer und unausgefüllt, bleibt so weit hinter dem zurück, was ich dir eigentlich sagen will.
Könnte ich meine Gedanken für dich sichtbar machen, du würdest meine Gefühle so viel besser verstehen, als wenn ich darauf angewiesen bin, alles in Worte zu fassen - so wunderbare Dinge, die manchmal gar nicht zu beschreiben sind.
Wenn du schon schläfst, bin ich noch wach und denke an dich. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich vor mir und stelle mir vor, wie schön es wäre, dich zu küssen, mit dir zu schlafen oder aber einfach nur für dich da zu sein: dich im Arm zu halten, wenn du jemanden brauchst, um dich anzulehnen; dich zu trösten, wenn du traurig bist und mit dir zu lachen, wenn du glücklich bist.
Als ich vier Jahre alt war, war ich das erste Mal in meinem Leben verliebt.
Sie war neun Jahre älter als ich und für mich das schönste Mädchen auf der ganzen Welt.
Nadine war Französin, und ich lernte sie auf einem Campingplatz (Delphin Verde) in Spanien kennen.
So oft sie mit mir spielte, so oft sie mich mit an den Strand nahm, war ich der glücklichste kleine Junge, den du dir nur vorstellen kannst. Meine Augen wurden fast so blau wie das spanische Meer, wenn ich Gelegenheit hatte, Nadine anzusehen. Und wenn sie mit mir lachte, wenn ich davonlief und sie dann versuchte, mich einzufangen, mich dabei hochhob und umarmte, dann strahlte ich über das ganze Gesicht und mein kleines Herz schlug wie verrückt.
Es war eine sehr unschuldige Art zu lieben, völlig harmlos (mit vier Jahren wußte ich leider noch nichts von Sex), aber trotzdem so stark, daß ich für sie gekämpft hätte wie ein junger Löwe, wenn ihr irgendeine Gefahr begegnet wäre.
Dieser Sommer in Spanien war das Schönste und Traurigste, was ich bis dahin erleben durfte.
Eine ganze Welt brach für mich zusammen, als irgendwann ein vierzehn oder fünfzehn Jahre alter Bengel auf Delphin Verde auftauchte, für den sich Nadine plötzlich mehr zu interessieren schien als für mich. Ich konnte es nicht verstehen, daß ich ganz plötzlich keine Bedeutung mehr für sie hatte, ja fast wie Luft für sie war. Ich konnte es nicht ertragen, und dieser Schmerz ging mir durch und durch, ließ mich innerlich verkrampfen und fast verzweifeln.
Ich war wütend, enttäuscht und gleichzeitig furchtbar eifersüchtig. Ich heulte schrecklich und ging sogar mit meinen nicht gerade durchschlagkräftigen kleinen Fäusten auf den Kerl los! Ich schrie ihn an und tobte, aber er lachte über mich und machte sich einen Spaß daraus, mich immer wieder ins Leere laufen zu lassen. Warum schlug er mich nicht? Warum ging er nicht auf meine Herausforderung ein? Wie konnte er mich so demütigen?
Als Nadine mir dann einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte, daß meine Locken durcheinanderflogen, war es ganz aus: ich weinte in einem Stück und war zutiefst verletzt.
Ich wollte einfach nicht verstehen, daß ich für sie nicht mehr sein konnte als ein kleiner, goldiger Junge, mit dem sie zwar ganz gerne spielt, aber mehr eben auch nicht.
Na ja, mein Vater hat es mir dann in sehr einfachen Worten erklärt, daß ich es auch einigermaßen verstehen konnte - und am Tag darauf saß ich frühmorgens im Schneidersitz vor ihrem Zelt und wartete, bis sie wach wurde und zu mir herauskam.
Ich muß wohl ziemlich lustig ausgesehen haben, wie ich da als kleiner Bub so saß und treuherzig nach ihr Ausschau hielt, denn als sie die Augen öffnete und mich bemerkte, konnte sie gar nicht anders und mußte laut lachen.
Dann tat sie etwas, was ich nie vergessen werde: sie zog mich an sich und gab mir meinen allerersten Kuß, mitten auf den Mund! Du kannst dir sicher vorstellen, wie verdutzt ich war, und wie unbeschreiblich glücklich!
So war Nadine meine erste große Liebe; und obwohl ich mich später noch oft verlieben sollte, habe ich sie nie vergessen.
Ich sah Nadine auch nie wieder.
Sicher lebt sie jetzt irgendwo in Frankreich und hat Familie und Kinder, von denen vielleicht eines so alt ist wie ich damals in Spanien.
Vielleicht ist es ein Junge. Vielleicht hat er auch lockiges Haar wie ich und sogar blaue Augen.
Und vielleicht erinnert sich Nadine manchmal an den kleinen, heißblütigen Jungen am Strand von Spanien: auf Delphin Verde, dem grünen Delphin.
Warum aber erzähle ich dir das alles, wirst du dich fragen?
Einen einzigen, wichtigen Grund habe ich dafür: es gibt für mich nichts Schöneres auf der Welt als das Gefühl, verliebt zu sein. Nichts kommt diesem Gefühl gleich. Nichts sonst läßt mich so sehr spüren, daß ich lebe.
Die Sonne aber scheint immer noch über Estartit.
Ich kann sie fast sehen, so sehr ist sie in meiner Erinnerung lebendig geworden.

Klicke auf das Herz, wenn
Dir die Geschichte gefällt
Zugriffe gesamt: 1880

Sie müssen sich anmelden, um Kommentare hinzuzufügen.

Gedichte auf den Leib geschrieben